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Von wilden Kerlen und wilden Hühnern Perspektiven des modernen Kinderfilms
Von wilden Kerlen und wilden Hühnern
Perspektiven des modernen Kinderfilms




Christian Exner, Bettina Kümmerling-Meibauer (Hrsg.)

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EAN: 9783894727543 (ISBN: 3-89472-754-3)
304 Seiten, paperback, 15 x 21cm, Juli, 2012

EUR 29,90
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Der Kinderfilm wird heute als wesentlicher Bestandteil der schulischen Bildung angesehen. Kinder sollen frühzeitig Medienkompetenzen durch Lehrkräfte, Fachpersonal und Pädagogen vermittelt bekommen. Auch im Kino hat der Kinderfilm an Bedeutung gewonnen.

Das vorliegende Buch gibt einen Überblick über die aktuelle Forschung zum Kinderfilm und entwickelt neue Fragestellungen. Im Zentrum steht dabei der Versuch, im Rekurs auf aktuelle Untersuchungen zur Filmästhetik, Filmnarratologie und Entwicklungspsychologie die Erzählweisen und visuell-ästhetischen Mittel des modernen Kinderfilms zu reflektieren.

Die Beiträger/innen sind ausgewiesene Experten/Expertinnen im Bereich des Kinderfilms und kommen aus verschiedenen Fachrichtungen (Literaturwissenschaft, Filmwissenschaft, Medienwissenschaft, Pädagogik)
Rezension
Bildwelten werden immer dominanter für unsere Kultur; längst haben wir uns angewöhnt, vom sog. "iconic turn" zu sprechen, von der Verlagerung vom Text zum Bild, oder vom Ende der Gutenberg-Galaxie ... Und im schulischen Unterricht, insbesondere im Deutschunterricht, ist es Standard, dass literarische Werke immer auch mit ihren filmischen Umsetzungen verglichen werden. Medienpädagogik gewinnt stetig an Bedeutung und Bild- und Filmwelten spielen dabei neben dem Computer eine entscheidende Rolle. Auch Kinderfilme sind längst auf die unterrichtliche Tagesordnung getreten, - neben und in Verbund mit der Beschäftigung mit Kinder- und Jugendlitaratur. Der hier anzuzeigende Band diskutiert vielperspektivisch Filmästhetik, Filmnarratologie, Entwicklungspsychologie und visuell-ästhetische Mittel des modernen Kinderfilms. Der Band sei allen Lehrkräften empfohlen, die Kinderliteratur und -filme unterrichtlich behandeln!

Dieter Bach, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Christian Exner ist wissenschaftlich pädagogischer Mitarbeiter im Kinder- und Jugendfilmzentrum in Deutschland (KJF). Er ist Redakteur des Internetmagazin „Top-Videonews.de", einem Portal mit DVD-Filmrezensionen für Kinder und Jugendliche. Außerdem ist er beim KJF Leiter des Bundesfestivals Video, des Jahres-Forums für die Wettbewerbe Deutscher Jugendvideopreis und Video der Generationen, gestiftet vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Er war sieben Jahre lang freier Mitarbeiter beim Internationalen Kinderfilmfestival „Lucas" in Frankfurt am Main und arbeitete beim Projekt „Medienpädagogisches Arbeiten mit DEFA-Kinderfilmen" mit. Mehrere Jahre lang hat er das Kölner Kinderfilmfest organisiert. Von 2001 bis 2007 war er Mitglied in der Vergabe-Kommission der Produktionsförderung für Kinder- und Jugendfilme beim Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, außerdem tätig als Mitglied in verschiedenen nationalen und internationalen Jurys zum Kinderfilm (u.a. Jury der skandinavischen Filminstitute bei den Nordischen Filmtagen Lübeck, Jury des internationalen Kinder- und Jugendfilmzentrums CIFEJ, Jury des Deutschen Menschenrechtsfilmpreises, „Goldener Spatz") sowie in der Auswahlkommission bei der Gestaltung des Kinder- und Jugendprogramms der Internationalen Kurzfilmtage in Oberhausen. Er ist Prüfer der Öffentlichen Hand bei der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK), Lehrbeauftragter an der Universität Bielefeld und Autor von Filmkritiken und Fachartikeln zum Kinder- und Jugendfilm und Herausgeber von 50 Kinderfilmklassiker (Remscheid 1995).

Bettina Kümmerling-Meibauer ist Professorin am Deutschen Seminar der Universität Tübingen. Sie hat Lehrstühle an den Universitäten Mainz, Köln und Siegen vertreten und war Gastprofessorin an der Universität Wien und Gastprofessorin in Erinnerung an Astrid Lindgren an der Linné-Universität Kalmar/Växjö. Sie ist Sprecherin des ESF-Projektes „Children's Literature and European Avant-Garde" (2011ff.; Kooperationspartnerinnen sind Wissenschaftlerinnen der Universität Stockholm und der Universität Cambridge). Außerdem ist sie Mitherausgeberin der Oxford Encyclopedia of Children's Literature (Oxford University Press 2006).
Inhaltsverzeichnis
Christian Exner / Bettina Kümmerling-Meibauer
Einleitung 7

I Verhältnis von Kinderfilm und Erwachsenenfilm

Christian Stewen
(Un-)Möglichkeiten des Kinderfilms 32

Werner Barg
Wo die wilden Kerle wohnen
Zur formalen Konstruktion von Erzählungen für Kinder und Erwachsene im Mainstream-Kino 55

II Theorien des filmischen Erzählens

Bettina Kümmerling-Meibauer
Paratexte im Kinderfilm 64

Tobias Kurwinkel / Philipp Schmerheim
Auralität und Filmerleben
Ein Ansatz zur Analyse von Kinder- und Jugendfilmen am Beispiel von Harry Potter und der Gefangene von Askaban und Der gestiefelte Kater 85

Michael Staiger
Wo die wilden Kerle wohnen und wie man dorthin kommt
Erzählte Räume in Maurice Sendaks Bilderbuch und Spike Jonzes Film 106

Johanna Tydecks
Verfilmte Bilder, verfilmter Text
Zur typologischen Einordnung von Bilderbuchverfilmungen am Beispiel der filmischen Rezeption von Madeline 121

III Subgenres des Kinderfilms

Natália Wiedmann
«I looked at him and I saw myself.»
Über den Tierfreundschaftsfilm 148

Jana Mikota
Umweltschutz im Kinderfilm oder wie Kinder die Natur retten 171

Ruth Neubauer-Petzoldt
Kletter-Ida – Ein Film zwischen den Genres 200

Tao Zhang
Konservativ, innovativ oder pseudo-innovativ?
Gender-Konstruktionen in der Kinderfilmserie Die Wilden Kerle 216

IV Auseinandersetzung mit Angst und Horror

Stefan Stiletto
Filmische Reisen in ein Grenzgebiet
Angst im Kinderfilm 234

Holger Twele
Horrorfilme für Kinder? 247

Sieglinde Grimm
Erwachsenwerden zwischen Horror und Phantasie
Henry Selicks Kinderfilm Coraline 270

Abbildungsnachweise 292

Die Autorinnen und Autoren 294


Leseprobe:

Christian Exner / Bettina Kümmerling-Meibauer
Einleitung
Perspektiven des Kinderfilms und der
Kinderfilmforschung
Mit elf Oscar-Nominierungen und fünf Oscars – für Kamera, Szenenbild, Tonschnitt,
Tonmischung und visuelle Effekte – gehört Hugo Cabret (USA 2011,
Regie: Martin Scorsese) sicherlich zu den erfolgreichsten Kinderfilmen der letzten
Jahre und ist damit neben Mary Poppins (1964, Regie: Robert Stevenson), der
übrigens ebenfalls fünf Oscars gewann, und E.T. (1982, Regie: Steven Spielberg, 4
Oscars) bislang der einzige Kinderfilm, der diese hohe Auszeichnung erhalten hat.
Besondere Aufmerksamkeit wurde Hugo Cabret aber bereits vor der Oscar-Verleihung
zuteil, denn es handelt sich zugleich um den ersten Kinderfilm des renommierten
Regisseurs Martin Scorsese. Dessen Faible für Gangsterepen und Filme,
die die individuelle Schuld und die seelischen Abgründe des Menschen fokussieren,
scheint den Regisseur nicht gerade für einen Kinderfilm zu prädestinieren.
Aber die Faszination für dieses Filmprojekt, das auf den preisgekrönten Roman
The Invention of Hugo Cabret (2007) von Brian Selznick zurückgeht und sowohl auf
der inhaltlichen als auch auf der formal gestalteten Ebenen eine Hommage an das
frühe Kino darstellt, kann vielleicht dann eher nachvollzogen werden, wenn man
weiß, dass Scorsese sich mit seiner 2007 gegründeten World Cinema Foundation
vergessener Perlen des Films annimmt, um diese der Nachwelt zu bewahren. Zu
diesen Filmperlen gehören auch die Stummfilme des französischen Filmpioniers
Georges Méliès, der zwischen 1896 bis 1912 mehr als 500 Filme realisierte, nach
dem Ersten Weltkrieg aber zunehmend in Vergessenheit geriet. Er betrieb bis 1932
einen Spielzeugladen im Pariser Bahnhof Montparnasse, wurde aber 1929 von
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Christian Exner / Bettina Kümmerling-Meibauer
Journalisten und Filmkritikern wiederentdeckt. Weil Méliès aufgrund finanzieller
Schwierigkeiten die Negative seiner Filme als Rohmaterial an die Schuhindustrie
verkauft hatte, konnten nur wenige Filme für die Nachwelt gerettet werden. Selznick
verknüpft in seinem Roman die Biographie von Méliès mit der fiktiven Geschichte
des zwölfjährigen Waisenjungen Hugo Cabret, der allein im Bahnhof Montparnasse
lebt, und nach einigen Verwicklungen dem Geheimnis des Spielzeugladenbesitzers
auf die Spur kommt.
Die filmische Erzählweise des Romans forderte geradezu zu einer Verfilmung heraus,
die eine zweistündige Liebeserklärung an die Magie des Kinos darstellt, deren
Opulenz und Farbenprächtigkeit durch die 3D-Technik noch unterstrichen wird. In
Hugo Cabret wird jedoch nicht nur eine spannende Handlung gezeigt, sondern
zugleich ein Schnelldurchlauf durch die Filmgeschichte unternommen. Die zahlreichen
filmischen und bildlichen Zitate können erst beim wiederholten Betrachten entschlüsselt
werden. So gibt es als Reminiszenz an Alfred Hitchcock einen Cameo-Auftritt
Martin Scorseses als Fotograf und einen weiteren von Brian Selznick als eifrigen
Studenten in der Bibliothèque Sainte Geneviève (Bibliothek der französischen Filmakademie).
Neben Filmpassagen, die optisch an den Zeichnungen von Brian Selznick
orientiert sind, wurden Dokumentaraufnahmen aus dem Ersten Weltkrieg ebenso
integriert wie Anspielungen auf berühmte Filme der Stummfilmzeit. Die eingespielte
Sequenz aus dem frühen Kurzfilm Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La
Ciotat (1896) der Brüder Lumière, die die Konkurrenten von Meliès waren, veranschaulicht
nicht nur die überraschende Wirkung auf das damalige Publikum, sondern
kann auch als Vorläufer der heutigen 3D-Technik und ihrer Wirkung gedeutet
werden. Die mehr als hundert Jahre umfassende Geschichte des Kinofilms wird dabei
in kongenialer Weise mit der Entwicklungsgeschichte eines Jungen verknüpft, der
nicht nur zur Rettung der frühen Filmdokumente beiträgt, sondern dessen Lebensweg
eng mit der Biographie des Filmregisseurs Méliès verbunden ist.
Doch nicht nur Scorsese machte mit einem Kinderfilm Furore; ein weltweites
Medieninteresse riefen in den letzten drei Jahren auch The Fantastic Mr. Fox
(USA 2009) von Wes Anderson, Alice in Wonderland (USA 2010) von Tim Burton
und The Adventures of Tintin (Die Abenteuer von Tim und Struppi,
USA 2011) von Steven Spielberg hervor. Für dieses Interesse sprechen mehrere
Gründe: die Berühmtheit der Regisseure, die sich bislang eher im Bereich des
Films für Erwachsene etabliert hatten, die Bekanntheit der Literaturvorlagen (Alice
in Wonderland (1865) von Lewis Carroll, The Fantastic Mr. Fox (1970) von Roald
Dahl und die Comics über Tim und Struppi (1929–1983) von Hergé), aber auch die
ungewöhnlichen filmtechnischen und filmästhetischen Mittel, die bei der Verwirklichung
der Filmprojekte eingesetzt wurden.
Ein entsprechendes Medienecho riefen auch die Verfilmungen der Harry Potter-
Romane von Joanne K. Rowling hervor. Wie bei kaum einer multimedialen Veröffentlichung
zuvor wurde hierbei ein Hype inszeniert, dem die ungeteilte Auf9
Einleitung
merksamkeit von Kindern und Jugendlichen zuteil wurde. Eine Generation von
Kindern erlebte ihr Aufwachsen parallel zum Reifen der Figuren Hermine, Ron
und Harry. Diesen erfolgreichen Filmen annähernd vergleichbar waren hierzulande
die Sequels Die Wilden Kerle (D 2003–2008, Regie: Joachim Masannek)
und Die wilden Hühner (D 2006ff., Regie: Vivian Naefe). Sie schufen Anlaufpunkte
im Kinderkino, zu denen junge Menschen immer wieder gern zurückkehrten.
Sie zeigten auch, wie kalkuliert inzwischen das Marketing inländischer
Filme Erfolgsmuster ausreizen kann. Das titelgebende «Wildsein» war damit im
Kinderkino über Jahre präsent. Doch den Versuch von Grenzverschiebungen oder
gar Grenzüberschreitungen wagten diese Plots in Wirklichkeit nicht. Im Gegenteil
lieferten sie eher kompensatorische und affirmative Erlebnisse. Egal ob Junge oder
Mädchen, der Abenteuer-Appeal des Wildseins erscheint offenbar in der Vorpubertät
geschlechterübergreifend als reizvolle Attitüde. Wildsein, das klingt nach
Abenteuer, Ungezwungenheit und Stärke. Es klingt nach Selbstbewusstsein und
Rücksichtslosigkeit. Vor allem bedient es eine Sehnsucht, die in dem reglementierten
Alltag von Kindern offenbar kaum noch Raum findet. Der direkte Vergleich der
beiden Serien zeigt, dass Wildsein bei Mädchen und Jungen schon bei den ersten
Filmen der jeweiligen Fortsetzungsreihen sehr verschieden – und letztlich doch
spezifisch weiblich und spezifisch männlich – interpretiert wird.
Die Medienkindheit wird geformt und geprägt durch medienpädagogische Interventionen.
Diese Interventionen folgen zwei widerstreitenden Impulsen. Auf der
einen Seite steht die stufenweise Annäherung an die Welt der Erwachsenen und auf
der anderen Seite steht die Abschirmung von für Kinder tabuisierten Themen und
von belastenden Darstellungen. In diesem Spannungsfeld werden die Möglichkeiten
filmkultureller Erfahrungen, werden die Formen der Aneignung von und der Auseinandersetzung
mit Filminhalten und mit der Filmästhetik stets neu ausgehandelt
und geformt. Von dieser Spannung ist relativ wenig spürbar in den durchkonfektionierten
Sequels der Reihen über die Wilden Hühner und die Wilden Kerle.
Wahrhaft wild im Sinne von provozierend ist der Plot von C’est pas moi, je le
jure! (Ich schwör’s, ich war’s nicht!, Kanada 2008, Regie: Philippe Falardeau).
Er fordert einen Dialog zwischen Erwachsenen mit ihren pädagogischen Ambitionen
und Kindern mit ihren filmkulturellen Interessen heraus. Aus dem Film
stammt das Umschlagbild dieser Publikation. Es zeigt das Bild des Jungen Leon,
eines Kindes mit Hang zu autoaggressivem Verhalten bis hin zu Selbstmordversuchen.
Leon reagiert auf diese Art auf das Auseinanderbrechen seiner Familie und er
folgt zugleich den rebellischen Impulsen, zu denen ihn seine Mutter ermutigt. Als
die Mutter die Familie verlässt, bleibt Leon mit einem Vater zurück, der sich um
Geborgenheit für seinen Sohn bemüht, während dieser aus Neid das Luxusheim
der verreisten Nachbarn ramponiert. Leons Blick über den Rand des Rollkragens
symbolisiert seine innere Verkapselung ebenso wie sein Lauern auf den nächsten
Übergriff. Am Ende schließt Leon Freundschaft mit einem ähnlich verstörten
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Christian Exner / Bettina Kümmerling-Meibauer
Mädchen aus der Nachbarschaft und kommt zu der Schlussfolgerung: «Das Leben
ist nicht für mich gemacht, sondern ich bin zum Leben gemacht».
Nicht nur dieser Film regte zu der Frage an, ob Thema und Darstellung nicht
Grenzen des Zumutbaren für Kinder überschreiten. So schreibt Katja Henßler in
«das blog zum hof» während der Berlinale-Veranstaltung:
«Insgesamt muss man sich wundern, was für Filme in der Sektion für junge
Zuschauer laufen. Im letzten Jahr lief der ungarische Spielfilm Iskas Reise, empfohlen
ab 13 (!), der das Elend in einer Wohnwagensiedlung beschreibt und in dem
es um Zwangsprostitution und Verschleppung von Kindern geht. Es war auch eine
Vergewaltigungsszene enthalten. Ohne jede Frage ein sehr sehenswerter Film, wie
auch dieser kanadische Kinderfilm. Doch beide Filme zeigen Gewaltszenen im realistischen
Stil, das ist im Kinder- und Jugendbereich vollkommen neu und nicht
unumstritten. Leon schneidet sich mit einem Messer in die Schulter, hängt sich auf,
springt kopfüber von einer Mauer und legt seinen Kopf auf eine Bowling-Bahn,
damit ihn eine Kugel trifft. Kann man einen schmerzhaften Prozess nicht auch auf
kindgerechte Art und Weise zeigen? [...] Wie kann man krasse Themen Kindern
filmisch nahe bringen, ohne sie zu überfordern – sicher ein komplexes Thema, dass
man im filmpädagogischen Bereich diskutieren müsste.»1
Wenn man als Erwachsener die von «blog zum hof» angeregte Diskussion führt,
dann sollte man die Meinung der Kinder unbedingt mit einbeziehen. Die jugendlichen
Journalisten bei der Berlinale konnten diesem heiklen Film viel abgewinnen
und setzten sich überwiegend für ihn ein. Zwei Statements, die stellvertretend für
viele andere mit ähnlichem Tenor sind, verdeutlichen das: Leander Verse (13) vertritt
die Ansicht:
«Diese witzige und mitreißende Geschichte finde ich sehenswert und zu empfehlen.
Leons Aktionen haben eine zwiespältige Wirkung auf den Zuschauer: Zum einen
sind seine skurrilen Ideen komisch, zum anderen sieht man aber auch immer seine
Verzweiflung und Traurigkeit. ‹Warum können wir nicht einfach normal sein?›
fragt Lea und selbst Leon muss darüber zumindest nachdenken.»
Tita Hagen (13) bemerkt dazu:
«Den Film Ich schwör’s, ich war’s nicht finde ich überaus gelungen, weil die Idee
des Films speziell ist. Die Kulissen waren wunderschön und gut ausgewählt, die
Musik untermalte den Film meistens passend. Überzeugend fand ich den Schauspieler
von Leon (Antoine L’Écuyer), weil er es geschafft hat, einen merkwürdigen
Jungen so zu spielen, als würde er auch im realen Leben ein solcher Junge sein.
1 Zitat: http://www.dasblogzumhof.de/festivals/allgemein/berlinale-2009/ich-schwoers-ich-warsnicht-
traumatisierte-kindheit.php
11
Einleitung
Außerdem konnte man mit ihm mitfühlen und seine Verzweiflung, seine Sehnsucht
nach der Mutter, seine Liebe zu seiner Familie und zu Lea spüren.»
Eine der Perspektiven des modernen Kinderfilms besteht also in der Erkenntnis,
dass Erwachsene in die Wahrnehmungs- und Reflexionskompetenz von Kindern
Vertrauen setzen können. Daraus folgt auch, dass der Kinderfilm sich künftig dramaturgisch
nicht so tief herabbeugen muss, um auf der Augenhöhe von Kindern zu
erzählen, wie er das bislang häufig tut.
Die große Aufmerksamkeit, die diesen Kinderfilmen zuteil wurde, darf jedoch
nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kinderfilme in der Regel nur wenig Beachtung
in der internationalen Presse finden. In den auflagenstarken Tages- und Wochenzeitschriften
findet man Besprechungen aktueller Kinderfilme gar nicht oder eher
nur «unter ferner liefen». Gäbe es nicht die vierteljährlich erscheinende Kinderund
Jugendfilm-Korrespondenz, Besprechungen in epd Film oder Filmdienst, sowie
das informative Internetportal des Kinder- und Jugendfilmzentrums in Deutschland
(www.kjf.de/filmempfehlungen/kinderfilmwelt.html), würde man kaum
etwas über neu lancierte Kinderfilmproduktionen erfahren. Die Zuschauerresonanz
klafft entsprechend bei Filmen wie Die Wilden Kerle oder Blindgänger
(D 2004, Regie: Bernd Sahling) sehr weit auseinander. Obwohl Sahlings Film den
Deutschen Filmpreis gewann und sehr erfolgreich bei Festivals lief, zählt die Statistik
der Filmförderungsanstalt bisher nur knapp 16.000 Besucher. Nur wenige Kinderfilmproduktionen
kommen in die Mainstream-Kinos, die meisten von ihnen
kann man lediglich bei Kinderfilmfestivals, bei von Kommunalkinos organisierten
Kinderfilmreihen oder gelegentlich in Arthouse-Kinos sehen.
Obwohl der Kinderfilm in der Presse übersehen wird und obwohl ein Überangebot
an Filmveröffentlichungen die Kinos überschwemmt, befindet sich der deutsche
Kinderfilm tendenziell im Aufschwung. Im letzten Jahrzehnt wuchs beinahe
stetig der Anteil inländischer Filmproduktionen im deutschen Kinoprogramm.
Wo früher US-amerikanische Produktionen die Leinwände dominierten, etablierte
sich langsam eine neue Kinokultur, in der Kinderfilm und Family Entertainment
ihren festen Platz haben. «Der Deutsche Film lockt mehr Besucher» meldete die
Tagesschau am 8. Februar 2012 im Rückblick auf das Kinojahr 2011 und berichtete
unter Berufung auf Filmförderungsvorstand Peter Dinges, dass inzwischen auch
der 3D-Film made in Germany zu den Erfolgsgaranten zählt. Wickie auf grosser
Fahrt (D 2011, Regie: Christian Ditter) war einer dieser Filme, der Kinder
und Familien in Scharen vor die Leinwände lockte. Noch nicht lang ist es her, dass
der erste deutsche 3D-CGI-Langfilm Konferenz der Tiere (D 2010, Regie: Holger
Tappe, Reinhard Klooss) in China reüssierte. Der Kinderfilm hat offensichtlich
ein wirtschaftliches Potential im In- und Ausland.
Doch es waren nicht nur die spektakulären Fortschritte von 3D-Animation und
3D-Präsentation, die Eltern und Kinder in den letzten Jahren begeisterten. Auch
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Christian Exner / Bettina Kümmerling-Meibauer
Literaturadaptionen erfolgreicher Kinderbücher zogen Besucherströme an. Beginnend
mit Remakes und Neuverfilmungen von Erich Kästner-Romanen über Verfilmungen
von Cornelia Funkes Bestsellern, so etwa Die wilden Hühner (D 2006,
Regie: Vivian Naefe) oder Herr der Diebe (D 2005, Regie: Richard Clauss), bis
hin zu Werken für die ganz jungen Kinogänger wie Lauras Stern (D 2004, Regie:
Piet de Rycker, Thilo Graf Rothkirch) nach einem Kinderbuch von Klaus Baumgart,
Der kleine Eisbär (D 2001, Regie: Piet de Rycker), basierend auf den Bilderbüchern
von Hans de Beer, oder auch Das Sams (D 2001, Regie: Ben Verbong), das auf
Paul Maars Kinderklassiker Eine Woche voller Samstage (1973) zurückgeht, werden
zunehmend erfolgreiche deutsche Kinderfilme lanciert, deren Drehbücher in der
Mehrzahl auf kinderliterarischen Vorlagen basieren. Filme nach Original-Drehbüchern,
wie Joachim Masanneks Die wilden Kerle (D 2003–2008) oder Johannes
Schmids Blöde Mütze (D 2007) und Wintertochter (D 2011), bleiben die Ausnahme.
Doch es kann festgehalten werden, dass die Dominanz von Disney, Dreamworks
und Pixar gebrochen ist. Die jungen Kinogänger und deren Eltern interessieren
sich zunehmend für Kinderfilmkunst deutscher und europäischer Provenienz.
Dieser erfreuliche Trend geht einher mit einer Aufwertung der Filmbildung im
Zuge einer immer höher eingeschätzten Relevanz der Medienkompetenzförderung.
Sie findet zunehmend stärker in bildungspolitischen Maßnahmen und medienpädagogischen
Projekten ihren konkreten Ausdruck. Mit der Verabschiedung einer
neuen Empfehlung «Medienbildung in der Schule» im März 2012 setzt sich die Kultusministerkonferenz
explizit für eine Stärkung der schulischen Filmbildung ein. Die
Erklärung zielt darauf, junge Menschen in Schule und Unterricht angemessen darauf
vorzubereiten, dass sie selbstbestimmt, verantwortungsvoll und kreativ mit Medien
umgehen können. Zu dem Beitrag, den die schulische Filmbildung leistet, heißt es:
«In der Begegnung mit dem Medium Film, seiner Sprache und seiner Wirkung
wird die Sinneswahrnehmung geschult, die ästhetische Sensibilität gefördert, die
Geschmacks- und Urteilsbildung unterstützt und die individuelle Ausdrucksfähigkeit
erweitert.»
Zur Umsetzung der Empfehlung werden verbindliche Verankerungen in Lehr- und
Bildungsplänen, eine verbesserte Lehrerbildung und die angemessene Präsentation im
Kino und in Unterrichtsräumen erforderlich sein. Diese Forderungen verlangen darüber
hinaus filmanalytische und medienpädagogische Kenntnisse, die die spezifischen
Rezeptionsfähigkeiten und –bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen berücksichtigen
und die den oftmals auf Lehrfilme und Literaturadaptionen reduzierten schulischen
Film-Kanon um lebensweltbezogene und altersadäquate Filme ergänzt.
Das zunehmende Interesse an der Filmbildung trägt der Beobachtung Rechnung,
dass sich der Kinder- und Jugendfilm allmählich an den Film für Erwachsene
annähert. Diese Annäherung zeigt sich nicht nur hinsichtlich der Integration
bislang tabuisierter Themen, sondern auch in der Wahl narratologischer Strategien,
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Einleitung
die zur Komplexität des modernen Kinderfilms beitragen, so etwa Retrospektiven,
Wahl eines Ich-Erzählers, Verbindung verschiedener Zeit- und Erzählebenen und
Multiperspektivität. Auch wenn diese Erzählmittel ebenso wie entsprechende filmästhetische
Praktiken wegen des noch fehlenden Weltwissens von Kindern oder
der Anpassung an die kognitiven Fähigkeiten von Kindern nur in eingeschränktem
Maße eingesetzt werden können, so offenbart sich hier doch die Tendenz, den
Kinderfilm als eigenständige Kunstform ...