lehrerbibliothek.deDatenschutzerklärung
Verlust des Rettenden oder letzte Rettung Untersuchungen zur suizidalen Erfahrung Zugl.: Diss., Universität Hannover, 2010
Verlust des Rettenden oder letzte Rettung
Untersuchungen zur suizidalen Erfahrung


Zugl.: Diss., Universität Hannover, 2010

Jann E. Schlimme

Verlag Karl Alber
EAN: 9783495483503 (ISBN: 3-495-48350-0)
688 Seiten, paperback, 14 x 22cm, 2010

EUR 59,00
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
»Das letzte Geheimnis des Suizids des anderen Menschen kann auch eine Phänomenologie der suizidalen Erfahrung nicht lüften. Aber sie kann aufweisen, in welcher Weise der Suizid dem suizidalen Menschen in seiner selbstbezogenen Vergewisserung als ein freier Akt erscheint, da in dieser selbstbezogenen Vergewisserung ein >Um-kippen< der Erfahrung geschieht. Dabei ereignet sich in diesem >Umkippen< zugleich ein Abblenden der bestimmenden, in diesem Abblenden gerade präreflexiv bleibenden Vorzeichnungen dieses reflexiven Erkennens und Benennens des Sich-töten-könnens (als letzte Rettung). Es ist diese Koppelung in der Struktur der suizidalen Erfahrung, welche die phänomenologische Methode detailliert aufweisen kann, da sie die präreflexiven Gegebenheiten zu beschreiben vermag, ohne die daraus sich gewinnende Reflexion bzw. reflexive Absicherung in ihrem prinzipiell selbstaufklärenden Charakter leugnen zu müssen.«
Rezension
Suizid - das erscheint als ein bedrohliches Thema, auch wenn es im Kontext von Unterrichtseinheiten zu Sterben und Tod regelmäßig begegnet. Suizid von Schülern ist für Lehrer eine der schlimmsten Berufs-Erfahrungen überhaupt, - aber auch umgekehrt begegnet Suizid im Schulleben ... Gleichwohl gilt, wie der Verfasser einführend feststellt: Suizidale Erfahrung ist ein Privileg des Humanen; denn dem Menschen ist die Aufgabe gestellt, dieses Leben zu führen. Suizidale Erfahrung ist nach Meinung des Autors in allen Lebensaltern vorhanden, wenngleich die suizidale Erfahrung des unglücklich verliebten, schwärmerischen Jugendlichen sich deutlich unterscheidet von der lebenssatten suizidalen Erfahrung des lebensmüden alten Menschen. In einer phänomenologischen Analyse arbeitet der Verfasser die Struktur der suizidalen Erfahrung heraus und bezieht dabei auch vier „Fälle" aus der Literatur mit ein: J. W. Goethes „Die Leiden des jungen Werther", I. Bachmanns „Der Fall Franza", H. v. Kleist und J. Améry.

Jens Walter, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
In zehn Untersuchungen wird der suizidalen Erfahrung mit einer phänomenologischen Methode nachgegangen. Wie ist es, suizidal zu sein? Die ineinander greifenden, aber einzeln lesbaren Untersuchungen befragen die suizidale Erfahrung mit der für dieses Phänomen erforderlichen Tiefe, die auch der suizidale Mensch erreicht: Wozu lebe ich? Wem das Leben hierauf keine sinnstiftende Antwort mehr zu geben vermag, wem das Leben unerträglich geworden ist, wem alles Rettende im Leben verloren ist, dem bliebe zumindest noch der Tod als das radikal Andere des Lebens. Umfassend verzweifelt zeigt sich dem Menschen - ganz unbenommen dessen, wie er sich selbst versteht - sein eigener Tod als ein letztes Rettendes. Die Frage, ob sich der Mensch tatsächlich den Tod geben soll, bleibt hingegen ein Leben lang unentschieden und verweist auf die radikale Offenheit des Lebens. Die Untersuchung stellt diese radikale Offenheit des Lebens in den Mittelpunkt der Überlegungen. Neben verschiedenen philosophiegeschichtlichen Ansätzen werden aktuelle humanwissenschaftliche Positionen diskutiert. Außerdem analysieren vier Kapitel „Fälle" aus der Literatur (J. W. Goethes „Die Leiden des jungen Werther", I. Bachmanns „Der Fall Franza", H. v. Kleist, J. Améry).

Jann E. Schlimme, Jahrgang 1971, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Studium der Medizin in Lübeck, Wien, Hannover und der Soziologie, Sozialpsychologie und Philosophie in Hannover. Promotion in Medizin 1998, Magister in Soziologie und Sozialpsychologie 2004, Ausbildung in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie 2000-2004, Habilitation für Psychiatrie und Psychotherapie 2007 an der Medizinischen Hochschule Hannover, dort als Oberarzt tätig. Preis der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde für Philosophie in der Psychiatrie 2005.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 13

I. Einleitende Untersuchung 15

1. Entwicklung der Frage 15
2. Weg und Methode 17
3. Wie ist es, suizidal zu sein? 24

II. Auf dem Weg zu einem Verständnis der suizidalen Erfahrung 34

1. Geworfenheit und In-der-Welt-sein 36
2. Selbstwerden und Transzendenz 40
3. Die Stimmung des Absurden 50
4. Die Erfahrung der Verzweiflung 56
5. Die Paradoxie der suizidalen Erfahrung 60
6. Suizidale Erfahrung und Transzendenz 65

III. Kleine Geschichte der Verständnisweisen der suizidalen Erfahrung 69

1. Zum Verständnis der suizidalen Erfahrung in der Antike 72
1.1. Homer und Pindar 73
1.2. Euripides 77
1.3. Platon 81
1.4. Aristoteles 91
1.5. »Hellenismus« (Stoa, Epikureismus) 100
1.6. Rom (Cicero, Seneca) 113

2. Zum Verständnis der suizidalen Erfahrung im Christentum 131
2.1. Paulus 136
2.2. Augustin 146
2.3. Postaugustinische Verständnisse der suizidalen Erfahrung 155

3. Zum Verständnis der suizidalen Erfahrung in der Neuzeit, Aufklärung und Moderne 164
3.1. Frühe Neuzeit (Shakespeare, More) 168
3.2. Michel de Montaigne 176
3.3. Späte Neuzeit und Frühaufklärung 194
3.4. Aufklärung (Hobbes, Kant) 201
3.5. David Hume 213
3.6. Das medizinische Verständnis und die »Nachtseite« des Menschen 233
3.7. Suizid aus »Schwärmerei« 239
3.8. Die Entstehung der Psychiatrie und ihr Verständnis der Suizidalen Erfahrung (Reil) 247
3.9. Psychiatrische Verständnisse der suizidalen Erfahrung im 19. Jahrhundert (Griesinger, Kraepelin) 261
3.10. Suizid und die Frage nach dem Sinn 290
3.11. Arthur Schopenhauer 296
3.12. Psychodynamische Verständnisse im 19. Jahrhundert 310
3.13. Emile Durkheim 319
3.14. Sigmund Freud 331
3.15. Karl Menninger 344

4. Retrospektive 350

IV. Der »Fall« Werther 355

1. Das »Wertherfieber« 357
2. Die Selbststrukturen bei Werther 362
3. Wiederkehr der inneren Widersprüchlichkeit 367
4. Suizidale Erfahrung, innere Widersprüchlichkeit und das Rettende 370
5. Das Verständnis der suizidalen Erfahrung bei Johann Wolfgang Goethe 373

V. Der »Fall« Heinrich von Kleist 383

1. Kleists »Soldatenkrise« 385
2. Kleists »Kant-Krise« 389
3. Paradoxie des Rettenden und des Sich-töten-könnens 398
4. Aspekte des Doppelsuizids mit Henriette Vogel 403
5. Das Verständnis der suizidalen Erfahrung bei Heinrich von Kleist 406

VI. Suizidologie I: Verschlossenheit, Unerträglichkeit, Selbstspaltung 410

1. Der empirische Weg zur suizidalen Erfahrung 415
2. Erwachen in die Möglichkeit, sich töten zu können 421
3. Das präsuizidale Syndrom und die Verschmelzungsphantasien bei Erwin Ringel 428
4. Suizidale Verschlossenheit und die Problemlösefähigkeiten 441
5. Die suizidale Krise als narzisstische Krise: Flucht und innere Widersprochenheit 449
6. Die Unerträglichkeit des Selbst und der psychische Schmerz: Zum Verständnis der suizidalen Erfahrung bei Edwin S. Shneidman 462
7. Exkurs: Suizidale Selbstspaltung und suizidale Interaktion bei Jürgen Kind 468
8. Suizidale Erfahrung, Beziehungen und die interpersonale Dimension 482
9. Suizidentscheidung und Impulsregulationsfähigkeiten 493
10. Risikofaktoren eines suizidalen Wesens 500
11. Zwischenfazit I 511

VII. »Der Fall Franza« 516

1. Das »Todesarten-Projekt« 517
2. Die autobiographische Dimension des »Falls Franza« 519
3. Der »Fall« Franza 521
4. Transzendenz, Trauma und die Möglichkeit, sich töten zu können 527
5. Suizidale Erfahrung bei Franza 532

VIII. Der »Fall« Jean Amery 538

1. Tabuisierung des Suizids? 539
2. Das Leben und die Tortur 547
3. Freiheit im letzten Moment? 552
4. Der eigene Suizid 558
5. Zum Verständnis der suizidalen Erfahrung bei Jean Amery 560

IX. Suizidologie II: Die Krise und das Rettende 564

1. Kritik der Suizidologie I 568
2. Karljaspers 577
3. Die suizidologische Rekonstruktion des Zusammenhangs von suizidaler Erfahrung und Rettendem 592
4. Suizid als Problemlösung? 598
5. Der überlebte Suizid als Transzendenzerfahrung 601
6. Zwischenfazit II 604

X. Eine Phänomenologie der suizidalen Erfahrung 608

1. Strukturmerkmale der suizidalen Erfahrung I 609
2. Strukturmerkmale der suizidalen Erfahrung II 615
3. Strukturmerkmale der suizidalen Erfahrung III 619
4. Die suizidale Erfahrung und die Frage »Wozu« 626
5. Selbstbestimmung und suizidale Erfahrung 630
6. Sterben zur rechten Zeit? 645
7. und alles hat seine Zeit 658

Nachwort 663
Literatur 665