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Unterrichtsvorbereitung - eine Kunst
Ein Leitfaden für den Religionsunterricht
Hans Schmid
Random House
, Kösel
EAN: 9783641036454 (ISBN: 3-641-03645-3)
160 Seiten, paperback, 17 x 24cm, 2008
EUR 16,95 alle Angaben ohne Gewähr
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Umschlagtext
Filmemachen und Unterrichten folgen ganz ähnlichen Regeln. Wer die Kunst der Unterrichtsvorbereitung lernen will, für den lohnt es sich, einmal bei einem großen Regisseur wie Frederico Fellini in die Schule zugehen.
Der Lehrplan ist eine Art Drehbuch. Von den Prinzipien guter Regieführung inspiriert, zeigt Hans Schmid, wie man in fünf Schritten vom Lehrplan zum Unterricht kommt: Statt von Stunde zu Stunde zu hecheln, wirbt er für die Kunst einer Unterrichtsvorbereitung, die der Entschleunigung dient und sich auf das Wesentliche konzentriert.
Regieanweisungen für den Unterricht
Den Blick für das Wesentliche lernen
Handfeste Tipps für die Vorbereitung
DR. HANS SCHMID, geb. 1952, war Lehrer an einer Berufsschule. Seit 1991 ist er Leiter der religionspädagogischen Aus- und Weiterbildung am Priesterseminar Bamberg und verantwortlich für den Religionsunterricht an Realschulen im Erzbistum Bamberg.
Von HANS SCHMID ebenfalls im Kösel-Verlag erschienen: »Die Kunst des Unterrichtens«.
Rezension
Unterrichten ist wie eine Reise. Sie kann nach einem Programm geplant werden, aber die Lernorte selbst entdeckt man erst während der Fahrt. Der Autor entwickelt in diesem Buch eine Unterrichtsvorbereitung, die inspiriert ist durch die Filmregie des italienischen Regisseurs Fererico Fellini. Zwischen der Handlungslogik eines Regisseurs und der Handlungslogik von Lehrerinnen und Lehrern bestehe eine besondere Nähe. Denn im Film wie im Religionsunterricht gehe es vor allem darum, die Vordergründigkeit zu durchstoßen, sie zu überschreiten, hin zu fundamentaleren Fragen des Woher und Wohin, zu den Schichten des »Unbedingten«, zu den Ebenen von Religion und Glaube. Dazu wendet sich der Autor ab von einer - seiner Meinung nach - rein zweckrationalen, lernzielorientierten Unterrichtsplanung im Klafkischen Sinne, wo die Didaktische Analyse den Kern der Unterrichtsvorbereitung darstellt, hin zu einer Unterrichtsvorbereitung, die das Was (Didaktik) und das Wie (Methodik) stärker verzahnt und quasi auf eine Ebene stellt. - Das mag modern sein, es mag auch sein, dass man Lernorte erst unterwegs entdeckt, - ich bleibe aber dabei: Reisen hat ein Ziel, man muss wissen, wohin man will, - und dann kann man das Ziel sehr wohl mit ganz unterschiedlichen Mitteln erreichen: Rad, Auto, Flugzeug, Bahn ... Man wird unterwegs (entsprechend verschiedene) Entdeckungen machen - aber das Ziel sollte klar vor Augen sein!
Dieter Bach, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Gute Vorbereitung ist mehr als der halbe Unterricht
Unterricht beginnt am Schreibtisch. Hans Schmid zeigt, wie man in fünf Schritten vom Lehrplan zum Unterricht kommt. Statt von Stunde zu Stunde zu hecheln, lehrt er die Kunst einer Unterrichtsvorbereitung, die der Entschleunigung dient und auf das Wesentliche konzentriert.
»Dieses für eine gute Planung und Vorbereitung hervorragende Buch ist lesenswert und hilfreich für die Praxis, eine rundum gute Regieanweisung für die Reise Religionsunterricht.«
RU-Kurier, Michael Hofmann (01.11.2008)
»So ist ein hervorragendes Buch für die Praxis des Religionsunterrichts entstanden, das bestimmt sehr hilfreich sein kann.«
IfR, Josef Ilg (01.06.2008)
Inhaltsverzeichnis
Das Felliniprinzip 7
Empfänglich für die Tiefenschichten der Wirklichkeit 8
Wider die Zweckrationalität der Schule10
Die Wechselwirkung von Weg und Ziel, von Was und Wie 12
Das Felliniprinzip im Unterricht 16
Die Landschaften des Lernens 18
Vom Lehrplan zum Unterricht:
Fünf Schritte der Unterrichtsvorbereitung 21
1. Erschließung und Refl exion des Lehrplans:
Der Lehrplan als Suchhorizont 25
Der Lehrplan als Makroebene des Unterrichts 25
Das individuelle Interpretationsspektrum 26
Der Lehrer als Mittler 27
Das Hineinwachsen in den Lehrplan 28
Der Lehrplan als Suchhorizont 31
2. Suchen, Sammeln, Sichten und Auswahl
der Lerngegenstände und Unterrichtsarrangements 33
Von der Refl exion zur Intuition33
Die Kunst des Verfügbaren 34
Suchen und Auswählen 42
3. Didaktische Aufbereitung des Lerngegenstandes:
Das Hervortreten des Hauptmediums 49
DER BLICK UNTER DIE OBERFLÄCHE 49
Erschließen der Lernpotenziale 49
Hervortreten des Hauptmediums 51
Verweilen 52
Didaktische Transformation 54
Didaktische Aufbereitung 55
DIDAKTISCHE AUFBEREITUNG EINES TEXTES 58
Ich begegne dem Text 59
Den Text mit den Augen und Ohren der Schülerinnen und Schüler aufnehmen 79
Welche Lernziele lassen sich mit dem Text erreichen? 86
Welche unterrichtlichen Handlungsmöglichkeiten ergeben sich aus dem Text? 88
DIDAKTISCHE AUFBEREITUNG EINES BILDES 98
Die Sprache der Bilder verstehen lernen 98
Schritte der didaktischen Aufbereitung eines Bildes 99
DIDAKTISCHE AUFBEREITUNG DES SCHULBUCHS 101
Ungenutztes Potenzial 101
Sichten, Auswahl und didaktische Aufbereitung der einzelnen Buchelemente 102
4. Die Dramaturgie des Unterrichts 108
VON DER »PÜNKTLICHKEIT« DES LERNENS 108
DRAMATURGISCHE ECKPUNKTE DES UNTERRICHTS 113
Die dramaturgische Bedeutung des Hauptmediums
und die Kraft des Anfangs113
Dramaturgische Platzierung und Motivation119
Balance komplementärer Lernformen 123
5. Der Unterrichtsverlaufsplan 125
Die Bezugspunkte des Unterrichtsaufbaus 125
Stundenziele 127
Der schriftliche Unterrichtsverlaufsplan 130
Nachwort: Unterrichten lernen 137
Anhang 141
Schriftliche Unterrichtsvorbereitung im Rahmen einer Lehrprobe: Leitfaden 141
Anmerkungen 149
Sachregister 156
Das Felliniprinzip
Ein Film ist wie eine Reise.
Sie kann nach einem Programm geplant werden,
aber die Orte selbst
entdeckt man erst während der Fahrt.
FEDERICO FELLINI
Vor einigen Jahren bin ich auf diesen Satz des großen italienischen Regisseurs
Federico Fellini gestoßen, ein Satz, der mich damals sofort elektrisiert
hat. Es war mir, als habe Fellini mit seiner metaphorischen Formulierung
nicht nur das Werden seiner Filme beschrieben, sondern in gleicher Weise
etwas Wesentliches über die Entstehung von Unterricht zum Ausdruck gebracht,
wie ich diesen Prozess erlebte: Unterrichten ist wie eine Reise. Sie kann
nach einem Programm geplant werden, aber die Lernorte selbst entdeckt man erst
während der Fahrt. Sätze sind zuweilen wie Blitze, die die Dunkelheit erhellen
und für einen Augenblick das Geschehen in klaren Konturen erscheinen
lassen. Seitdem hat mich dieser Satz begleitet und mir wurde allmählich
immer deutlicher, dass in ihm ein fundamentales Prinzip des
unterrichtlichen Handelns verborgen ist.
Es ist nicht zufällig, dass Aussagen aus der Sphäre von Film und Theater
für Schule, Unterricht und Lernen eine Bedeutung entfalten können.
Schon lange ist in der Didaktik bekannt, dass zwischen der Handlungslogik
eines Regisseurs und der Handlungslogik von Lehrerinnen und Lehrern
eine besondere Nähe besteht.1 Gerade aber in der Auseinandersetzung mit
Federico Fellini kann deutlich werden, dass diese Nähe viel umfassender
und wesentlicher ist, als dies bisher ins Bewusstsein trat. Dies gilt für die
Didaktik im Allgemeinen; für den Religionsunterricht gilt es in ganz besonderer
Weise. Denn Fellini ging es in seinen Filmen immer um das »Innere
« der Wirklichkeit, vor allem um die »Innenwelt« des Menschen, ohne
die seine »Außenwelt« nicht verstehbar ist: »Der Mensch ist nicht nur ein
soziales ..., sondern auch ein göttliches (Wesen).«2
Das Felliniprinzip 7
Empfänglich für die Tiefenschichten der Wirklichkeit
Federico Fellini gilt als einer der bedeutendsten Regisseure des 20. Jahrhunderts.
Seine Filme erhielten die wichtigsten internationalen Auszeichnungen.
Mit Oscars wurden bedacht: La Strada (Das Lied der Straße) 1956,
Le notti di Cabiria (Die Nächte der Cabiria) 1957, Otto de mezzo (8½) 1963,
Amarcord (Amarcord) 1974 und Il Casanova di Federico Fellini (Fellinis Casanova)
1976. Sein Film La dolce vita (Das süße Leben) 1959 erhielt in Cannes
die Goldene Palme. Für sein fi lmisches Gesamtwerk wurde Fellini 1985 in
Venedig mit dem Goldenen Löwen und, 1993 in Hollywood, einige Monate
vor seinem Tode, mit dem Ehren-Oscar ausgezeichnet.3 Immer wieder
wurde seine künstlerische Ausdruckskraft in eine Reihe mit der von Pablo
Picasso gestellt. George Simenon sagte von seinem Freund: »Fellini ist nicht
nur ein großer Regisseur – sicher der größte unserer Epoche –, er ist ein
echter Schöpfer ... In meinen Augen ist Fellini das Kino. ... Nicht das kommerzielle
Kino. Und nicht das Kino der Avantgarde. ... Das Kino eines
Mannes, der uns mit allen ihm verfügbaren Mitteln ... die Menschlichkeit
und die Alpträume mitteilt, die in ihm brodeln.«4
Es ist in der Tat das vielschichtige Wirklichkeitsverständnis Fellinis und
seine Art, diese Vielschichtigkeit zu entdecken, sie freizulegen und zur Darstellung
zu bringen, die sein Schaffen besonders für die Religionsdidaktik
so fruchtbar macht. Denn es geht auch im Religionsunterricht vor allem
darum, die Vordergründigkeit zu durchstoßen, sie zu überschreiten, hin zu
fundamentaleren Fragen des Woher und Wohin, zu den Schichten des
»Unbedingten«, zu den Ebenen von Religion und Glaube. Fellini interessiert
sich für »alles, was der Mensch in sich trägt«5, und er spricht von
»unterschiedlichen Dichtigkeitsfolgen« seiner Wirklichkeit. Der Film selbst
wird ihm eine »Kunstform zur Durchdringung einer tieferen Realität, das
Mikroskop zur Suche nach der inneren Wahrheit«6. Er will zeigen, »was
hinter der obersten Schicht der Dinge und der Menschen«7 verborgen ist:
Die geistige Wirklichkeit, die metaphysische Wirklichkeit, vor allem auch
das Geheimnis, das Mysterium: »Geheimnisse sind für mich die großen,
nicht durch Vernunft bestimmten Stromlinien des Seelenlebens, die Geheimnisse,
die der Mensch in sich trägt, die Liebe, das Heil ...«8 Sie verschaffen
sich Ausdruck in den Sphären seiner Träume und Fantasien, der
Symbole und archetypischen Bilder, in der Sprache der Poesie, der Märchen
und Mythen. »Im Zentrum der aufeinanderfolgenden Dichtigkeitsfolgen
der Wirklichkeit wohnt meiner Auffassung nach Gott, der Schlüssel
aller Geheimnisse.«9
8 Das Felliniprinzip
Der Religionspädagoge Günter Lange hat in den 1970er-Jahren ein
Schichtenmodell der Wirklichkeit für den Religionsunterricht vorgeschlagen:
Er sprach von der unmittelbar wahrnehmbaren oder empirischen
Ebene (x-Ebene), der religiösen Ebene (y-Ebene) und der Glaubensebene
(z-Ebene) der Wirklichkeit.10 In der Folge gab es Versuche, die einzelnen
Themen des Religionsunterrichts in diesen drei Dimensionen zu betrachten
und aufzuschlüsseln, um dadurch die Verbindung – oder besser: die
Korrelation – von Erfahrung, Religion und Glaube in ihnen aufzuweisen
und didaktisch handhabbar zu machen. Dieses von fundamentaltheologischen
Überlegungen her entwickelte »x-y-z-Modell« erschien theoretisch
zwar plausibel, hat sich jedoch in der Praxis nicht durchgesetzt. Im Ganzen
ist das x-y-z-Modell noch zu abstrakt angelegt, um in den konkreten Handlungsbedingungen
des Unterrichtens wirksam werden zu können. Vor
allem kann dieses Modell den Themen des Religionsunterrichts nicht einfach
übergestülpt werden. Die Wirklichkeitsschichten erschließen sich
nicht auf der Ebene der Themen, sondern auf der Ebene der Lerngegenstände.
Günter Lange hat dies selbst in seinen sensiblen Bild- und Texterschließungen
immer wieder vorgemacht.11 An konkreten Bildern und Texten
lassen sich Tiefenschichten erschließen, nicht an einem Lehrplan- oder
einem Stundenthema.
Auch Federico Fellini geht es immer ums Konkrete. Er ist kein Filmtheoretiker,
sondern ein Regisseur, der leidenschaftlich Filme macht; erst in
zweiter Linie denkt er über sein Handeln nach. Seine Überlegungen zur
Vielschichtigkeit der Wirklichkeit sind Ausdruck seines Kunstschaffens. Sie
sind Refl exion seines alltäglichen Handelns, Ausfl uss seiner Praxis. Diese
Verliebtheit in die Praxis, ins Konkrete, ins Dingliche, Wahrnehmbare, in
der sich ihm die Tiefenschichten der Welt und des Menschen offenbaren,
ist ein Kennzeichen von Fellinis Schaffen und sie gibt ihm seine typische,
»fellinineske« Ausdruckskraft. Und es ist auch diese Verliebtheit ins praktische
Tun, man könnte sogar sagen, diese »Mystik des Praktischen«12, die
Fellini für die Kunst des praktischen Unterrichtens in Schule und Religionsunterricht
so überaus anregend macht. Der Gewinn, den wir aus der Beschäftigung
mit Fellini beziehen können, kommt nicht auf dem Kopf, sondern
auf den Füßen daher.
Es ist seine Art und Weise, wie er der Wirklichkeit begegnet, die ihm
ihre verborgenen Dimensionen aufschließt: »Ich habe kein besonderes System,
an das ich mich fromm halte. Ich glaube nur an eines: empfänglich
zu sein ... Mein einziger Leitfaden ist Empfänglichkeit, Aufgeschlossenheit.
«13 Dabei öffnet er sich den konkreten Menschen, Gesichtern, Dingen,
Das Felliniprinzip 9
10 Das Felliniprinzip
Umgebungen, die ihm beim Filmemachen begegnen, und »ist verfügbar«
für die Situationen, die sich einstellen, lässt sich von ihnen »in Anspruch
nehmen«. »Man muss die Gabe haben, sich Zeit zu lassen, um auf die
kleinsten Einzelheiten achtzugeben: die Art, wie der eine raucht, wie der
andere geht ... Jedes Detail eröffnet eine Welt. Aus einem Loch sieht man
ein Schwänzchen ragen, man zieht daran, ein Elefant kommt zum Vorschein.
«14
Dieser offene, neugierige Blick auf das Ganze und auf die Details, auf
die »Schwänzchen«, die aus den unscheinbaren Löchern ragen, das geduldige
und vorsichtige Ziehen daran, das sorgfältige Freilegen, fördert die
hinter der Oberfl äche des Alltäglichen verborgenen »Elefanten« zutage. In
immer neuen Formulierungen und Wendungen umschreibt er diese Haltung:
beobachten, entdecken, wachsam sein, zuhören, dem folgen, was der
Film verlangt, nichts überstürzen, abwarten, offen sein: »Ich gehe an meine
Geschichten heran, um zu erfahren, was sie mir erzählen.«15 In seinem
Film Roma (1972) wird ihm die Stadt, in der er lebt und arbeitet, selbst zur
Metapher für sein Wirklichkeitsverständnis: Überall, wo man zu graben
beginnt, stößt man auf eine andere Welt. »Man muss Tiefe verstecken. Wo?
An der Oberfl äche.«16 Fellini kehrt diesen Satz Hugo von Hofmannsthals, mit
dem dieser die Aufgabe der Poesie beschreibt, um: Die Tiefe an oder in der
Oberfl äche ist für ihn eine Beschaffenheit der Wirklichkeit schlechthin, die
uns gewahr wird, wenn wir uns ihr gegenüber staunend, ja man könnte
sogar sagen: in poetischer Weise öffnen.
Wider die Zweckrationalität der Schule
Eine solche staunende Offenheit, Empfänglichkeit und Aufgeschlossenheit,
der sich die Wirklichkeit fast wie von selbst offenbart, steht in scharfem
Kontrast zu dem, wie wir uns in der Schule weithin angewöhnt haben, den
Dingen gegenüberzutreten. Wir betrachten die Lerngegenstände und die
Lernsituationen als Mittel, um die zuvor festgelegten Ziele zu erreichen
und unsere Absichten umzusetzen. Wir benützen die didaktisch relevanten
Wirklichkeiten, um zu einem Lernergebnis zu gelangen. Sie werden uns zu
»Mitteln« für die festgelegten Zwecke. Wenn uns etwa an biblischen Texten
nur das interessiert, was den Lernzielen dient, dann nehmen wir ihnen
ihr Eigenes, wir verzwecken sie; sie verlieren ihre Kraft und Lebendigkeit
und es zieht jene Eindimensionalität, zusammen mit ihrer Schwester, der
Langeweile, in den Unterricht ein, die oft so typisch für die Bibeldidaktik
in der Sekundarstufe ist. Der zweckrationalen Sicht auf die Wirklichkeit
genügt ein schneller Blick, weil sie nur sucht, was sie vor dem Hintergrund
ihrer Absichten fi nden will. Sie benötigt weder Zeit, noch kennt sie das
Wunder des Verweilens. Für sie ist der Text kein Geheimnis, der etwas sagen
will, was bisher unter Umständen noch überhaupt nicht gefragt oder
bedacht war. Sie kennt keine Neugier und letztlich auch kein Staunen. In
gefräßiger Weise sucht sie nur »Material« für das, was sie fi nden und erreichen
will.
Gehen wir so mit den Gegenständen des Religionsunterrichts um,
dann bleiben uns nicht nur ihre Tiefenschichten verschlossen, sondern sie
werden uns im Unterricht permanent zum Problem. Immer passt etwas an
ihnen nicht zum beabsichtigten Lernen, es ist verquer und bleibt fremd;
darüber hinaus entsteht der Eindruck, dass die biblischen Texte eigentlich
für den Unterricht nicht nötig und nur ein Anhängsel seien; alles ließe sich
ohne sie viel einfacher sagen. Dieses Fremde, Nicht-Passende, Widerständige
und Widerstrebende ist es jedoch gerade, in dem wir der eigenen Welt
der Texte begegnen, in dem sich ihr verborgener Gehalt Geltung verschafft.
Sie sind die Zugänge zu den Tiefenschichten. Würden wir uns Zeit lassen
und genau hinschauen, dann würden wir sie entdecken, die kleinen Löcher,
aus denen die »Schwänzchen« ragen, die unscheinbaren Schlüssel zu
ihrer eigenen, verborgenen Welt.
Mit der Lernzieldominanz der 1970er- und 1980er-Jahre hat sich das
zweckrationale Handlungsmuster in der Schule mit Macht etabliert. Es ist
tief in die Fasern und Poren des Unterrichtens eingedrungen, sodass wir es
meist kaum mehr wahrnehmen, weil es uns so selbstverständlich geworden
ist. Theoretisch hat die Zweckrationalität inzwischen mit den sogenannten
»offenen Unterrichtsformen«, der »Prozessorientierung« und mit
Ansätzen eines »ästhetischen Lernens«17 eine Relativierung erfahren, sie ist
aber immer noch wirkmächtig, weil im Zentrum der unterrichtlichen
Handlungslogik, auf der Ebene der Unterrichtsplanung, der Unterrichtsvorbereitung
und der Unterrichtsgestaltung, derzeit noch keine Alternativen
zur Verfügung stehen. Immer noch lernen Lehramtsanwärter und
Referendarinnen vor allem zu fragen, mit welchen »Mitteln« sich Lernziele
des Lehrplans erreichen lassen. Immer noch werden sie auf die »didaktische
Analyse« getrimmt, die nach Wolfgang Klafki den »Kern der Unterrichtsvorbereitung
«18 darstellt. Tatsächlich ist die didaktische Analyse
entscheidend für das zweckrationale Handlungsmuster in der Unterrichtsvorbereitung
mitverantwortlich, weil sie Didaktik und Methodik auseinanderreißt.
Sie fordert, zuerst die »Sachstruktur« des Themas zu klären (die
Das Felliniprinzip 11
12 Das Felliniprinzip
Frage nach dem Was), um dann zu fragen, wie sich das Thema im Unterricht
umsetzen lässt (die Frage nach dem Wie). Obwohl die didaktische
Analyse in der ersten und zweiten Phase der Lehrerausbildung sehr hochgehalten
wird, spielt sie danach, im alltäglichen Unterrichten, so gut wie
keine Rolle mehr. Die Denkbewegungen, die mit ihr eingeübt werden sollen,
gehen in weiten Strecken über die konkreten Handlungsanforderungen
des Unterrichtens hinweg; deshalb ist auch der Handlungsgewinn für die
anstehende Aufgabe der Unterrichtsvorbereitung, dessen »Kern« sie doch
sein soll, relativ gering. Ebenso ist es nicht zufällig, dass in den von Referendarinnen
und Lehramtsanwärtern erstellten didaktischen Analysen der
erste Teil, die »Klärung der Sachstruktur« (das Was), häufi g nur in einem
sehr lockeren, ja oft unverbundenen Zusammenhang mit der Umsetzung
in den Stundenentwürfen (dem Wie) steht. Meistens wird sogar zunächst
das Wie, der Ablauf der Unterrichtsstunden vorbereitet, danach erst wird
die »Klärung der Sachstruktur«, das Was, niedergeschrieben – ein Weg, der
von der Konzeption der didaktischen Analyse her eigentlich widersinnig
ist. Hier zeigt sich, dass manches, was theoretisch für den Unterricht erdacht
ist, in der Schulpraxis ganz andere Blüten treibt. Von den praktischen
Erfordernissen des Unterrichtens her erscheint diese Vorgehensweise jedoch
plausibel. Die konkrete Gestaltung der Unterrichtsstunde wirft ganz
neue und andere Probleme auf, die gelöst werden müssen, zumal der Unterricht
unabänderlich auf die Handelnden zukommt. Ein Thema unter
bestimmten didaktischen Bezugspunkten theoretisch zu refl ektieren ist
demgegenüber eine leichter zu bewältigende Aufgabe. In der Praxis des
Unterrichtens zeigt sich, dass sich das Was nicht so einfach vom Wie trennen
lässt. Weder dergestalt, dass die Klärung des Was die Voraussetzung für
das Wie sein könnte, noch, dass sich beide in eine Zweck-Mittel-Relation
bringen ließen.
Das Felliniprinzip: Die Verbindung von Was und Wie
Es gehört zur Eigenart nicht nur von Unterricht, sondern von Kunst, von
Kultur überhaupt, dass die Frage, was die Wirklichkeit ist, im Inneren mit
der Frage verbunden ist, wie wir die Wirklichkeit wahrnehmen und begreifen,
wie wir sie darstellen und zum Ausdruck bringen. Das Was und das Wie
sind zwei Seiten derselben Medaille. Fellini hat mit seiner besonderen Art,
den Dingen zu begegnen, eine Praxis entwickelt, die ich das Felliniprinzip
nennen möchte, eine Handlungslogik, in der er sowohl die Trennung als
auch die Zweck-Mittel-Relation überschreitet hin zu einem dynamischen
Verhältnis einer oszillierenden Wechselwirkung zwischen Was und Wie,
zwischen Thema und dessen Realisierung, zwischen dem Ziel und dem
Weg zu diesem Ziel: »Ein Film ist wie eine Reise. Sie kann nach einem Programm
geplant werden, aber die Orte selbst entdeckt man erst während
der Fahrt.«
Ein Film ist wie eine Reise ...
Fellini verwendete immer wieder das Bild der Reise, um die besondere Art
seines Schaffens zu kennzeichnen. Es ist die Reise in ein fremdes Land, in
unentdeckte Welten und Wirklichkeiten. Der Reisende hat ein Ziel, weiß
jedoch noch nicht im Vorhinein, was alles auf ihn zukommt: »Wüsstest du
am Anfang, was dich Minute für Minute erwartet, würdest du gar nicht
verreisen.«19 Der Reisende bricht auf, um Erfahrungen zu machen, um
Neues kennenzulernen. Die Reise hat deshalb eine aktive Seite der Absicht
und des Willens sowie eine passive, rezeptive Seite der Offenheit und des
Empfangens. In der Reise fi nden das Was und das Wie zueinander; sie stehen
in einem ständigen Austausch, in einer permanenten Wechselwirkung.
Das Was realisiert sich im Wie; das Wie ergibt sich aus den Impulsen
des Was. Das Was ist sich am Beginn noch weithin selbst verborgen; es
zeigt sich als Richtung; es braucht das Wie, um sich zu fi nden; es entwickelt
sich im Prozess.
Reisen lebt von Zeit, Muße und der Bereitschaft, sich überraschen zu
lassen. Fellini versuchte bei seinen Dreharbeiten die »Atmosphäre einer
Landpartie«20 zu schaffen, um jene Mischung aus Zielgerichtetheit einerseits
und Empfänglichkeit andererseits zu erzeugen, die für die schöpferische
Entstehung seiner Filme so wichtig ist. Gerichtetheit und Empfänglichkeit
bilden die Grundmomente dieses Handlungsprinzips. Beide
Momente sind nicht identisch; in gewisser Weise widersprechen sie sich
sogar. In ihrer Verbundenheit spannen sie jedoch jenen Wahrnehmungsraum
auf und erzeugen jene kreative Spannung, die Voraussetzung für
schöpferisches Handeln sind. Neues, Unerwartetes kann hervortreten. Die
Reise verändert die Reisenden; am Schluss werden sie andere sein.
Sie kann nach einem Programm geplant werden ...
Das Drehbuch hat für Fellini den Charakter des Plans; in ihm kommt die
Gerichtetheit des Handelns zum Tragen. Er betont die Bedeutung einer
Das Felliniprinzip 13
14 Das Felliniprinzip
gründlichen Vorbereitung: »Ein Film ist eine sorgfältig geplante Reise und
kein zielloses Umherwandern.«21 Das Drehbuch determiniert jedoch nicht
den Film, sondern weist einen »sehr elastischen Spielraum«22 auf. Es orientiert,
legt aber nicht fest. Es hat den Charakter eines offenen Entwurfs. Das
Drehbuch ist das Was des Filmes, das sich noch selbst verborgen ist. »Der
fertige Film wird nie völlig so, wie ich ihn mir am Anfang vorgestellt habe
... Ich gehe von einem Drehbuch aus, aber auf dem Set bin ich für alle
Möglichkeiten offen.«23
Fellini setzt sich immer wieder mit Formen der Improvisation auseinander
und weist sie zurück, da sie die Notwendigkeit der Planung ignorieren
und so den Schaffensprozess der Beliebigkeit aussetzen: »Ich glaube,
das Wort Improvisation hat nicht das Geringste mit dem Prozess des künstlerischen
Schaffens zu tun. Das ist ein völlig unangemessener Begriff, ja
sogar ärgerlich. Nein, ich würde hier nicht von Improvisation sprechen,
ich würde andere Begriffe gebrauchen: Empfänglichkeit, Offenheit.« 24 Es
geht um Offenheit vor dem Hintergrund einer Gerichtetheit, um Ungeplantes
im Horizont eines Geplanten. Immer ergibt beides erst das Ganze.
In diesem Sinne charakterisiert Fellini das Drehbuch an einer Stelle als
Reisekoffer, »den man sorgfältig packt, um ihn mit auf die Reise zu nehmen,
und der alle notwendigen Utensilien enthält. Aber der Koffer ist nicht
die Reise selbst«25. Deutlich wird dabei, dass das Drehbuch eine bestimmte
Etappe auf der Filmreise markiert: Es steht am Beginn, entwickelt Ideen
und Vorstellungen, zeigt die Richtung und entwirft Strukturen; es muss
sich aber später im Prozess der Realisierung vor dem Werden des Filmes
verneigen.
Die Orte selbst entdeckt man erst während der Fahrt
Fellini verwendet das Bild von den zwei Seiten eines Blattes Papier, um die
unterschiedlichen Etappen dieser Handlungslogik deutlich zu machen:
»Wenn ich mit den Dreharbeiten beginne, weiß ich genau, was ich will,
habe alles sorgfältig ausgearbeitet und vorgeplant. Und dann lege ich alles
beiseite. Auf diese Weise bin ich wie ein Blatt Papier, das auf der einen Seite
beschrieben und auf der anderen Seite weiß ist. Vielleicht habe ich lange auf
der beschriebenen Seite gearbeitet, aber beim Dreh ist die unbeschriebene
Seite viel wichtiger. Immer wieder greife ich auf die beschriebene Seite zurück,
aber sie dient nur als Hinweis, wie der fertige Film aussehen soll.«26
Das, was Fellini auf die noch weiße Rückseite schreiben wird, kann er
nicht einfach von der beschriebenen Vorderseite ableiten oder folgern. Bei-
de Seiten gehören einer jeweils anderen Dimension an. Zwischen ihnen
gibt es keinen direkten Übertritt, besteht keine unmittelbare Verbindung.
Sie sind getrennt und doch berühren sie sich. Sie beeinfl ussen sich in einer
Weise, die mehr mit Intuition als mit logischer Deduktion zu tun hat. In
gewisser Weise müssen sich die Vorstellungen, Ideen und Entwürfe des
Drehbuchs verlieren, um sich zu fi nden, sie müssen sterben, damit etwas
Neues entstehen kann. Fellini beschreibt diesen Prozess als Geburtsvorgang:
»Ich darf nicht vorher alles wissen, was ich machen werde, und fi nde
Auswege nur, wo mich Dunkelheit und Unwissenheit umgibt. Das Kind ist
von schwarzer Nacht umgeben, solange es im Mutterleib wächst.«27
Exemplarisch wird dieser Übertritt vom Drehbuch zum Film, dieser
Wechsel von einer Dimension in die andere, dieser ›Geburtsvorgang‹, in
der Auswahl der Gesichter für seine Filme deutlich. »Gesichter und Köpfe«,
so Fellini, sind die »menschlichen Landschaften des Films«, sie bilden »den
Nährboden, der dem Film seinen Charakter geben wird«28. Nachdem Fellini
das Drehbuch abgeschlossen hat, mietet er, »fast wie in einem Ritual«, jedes
Mal an einem unbekannten und anonymen Ort Roms ein Büro und
lässt eine Kleinanzeige in die Zeitungen setzen »mit etwa folgendem Inhalt:
›Federico Fellini ist bereit, alle zu empfangen, die ihn besuchen wollen.‹
In den folgenden Tagen empfange ich Hunderte von Personen ... Der
eine fesselt mich durch seinen Tick. Beim anderen fasziniert mich seine
Brille. Manchmal füge ich wegen eines neuen Gesichts, das ich entdeckt
habe, eine neue Gestalt in das Drehbuch ein. Ich sehe tausend, um zwei in
meinen Film aufzunehmen, aber ich selber nehme alles in mich auf. Es ist,
als sagten sie mir: ›Sieh mich gut an, denn jeder von uns ist ein Steinchen
für das Mosaik, das du gerade zusammensetzen willst.‹«29
Der amerikanische Cutter, Regisseur und Drehbuchautor Walter
Murch30 beschreibt diese Suchbewegung aus der Perspektive des Filmschnitts
als Spurensuche eines Jägers: »Manche Schauspieler drehen zum
Beispiel den Kopf nach links, bevor sie das Wort ›Aber‹ sagen, oder sie
blinzeln siebenmal pro Minute, wenn sie scharf nachdenken. ... Du lernst
all diese Dinge, und sie sind wichtig. Sie sind für dich so wichtig wie die
Spuren im Wald für einen Jäger. Wo waren die Rehe? Ist das eine Fährte?
Was bedeutet dieser geknickte Zweig? All das gewinnt ungeheuere Bedeutung.
«31
Aus all diesen Spuren und Steinchen ergibt sich das, was auf der noch
»weißen Rückseite« des Films Gestalt gewinnt. Entdecken und Erschaffen,
das Wie und das Was, fallen in diesem Prozess – »während der Fahrt« – fast
auf wundersame Weise zusammen: »Ich bin wie Christoph Kolumbus, der
Das Felliniprinzip 15
16 Das Felliniprinzip
mit seiner Mannschaft auszog, um die neue Welt zu entdecken. In meinem
Fall geht es darum, eine neue Welt zu erschaffen.«32
Das Felliniprinzip im Unterricht
Unterrichten ist wie eine Reise ...
Es ist nicht zufällig, dass die Metapher der Reise auch die Eigenart des Unterrichtens
ungemein stärker zu erhellen vermag als die technischen Formulierungen
des zweckrationalen Denkens, die davon sprechen, es gehe
im Unterricht darum, Lernziele, Themen oder Inhalte »umzusetzen«. Denn
Unterrichten ist keine Einbahnstraße vom Lehrplan zum Unterricht; es
herrscht reger Gegenverkehr! Unterricht erwächst aus einer ständigen
Wechselwirkung, aus einem permanenten Oszillieren. Das Bild der Reise
macht diesen offenen Prozess deutlich, der sich erst im Verlaufe des Geschehens
fi ndet: Auch diese Reise bricht in noch unentdeckte Räume auf.
Auch dabei steht jeweils am Beginn noch nicht fest, wie sich das Ganze am
Ende gestalten wird. Auch Unterrichten lebt von einer aktiven Seite des
Willens und der Absicht sowie von einer rezeptiven Seite der Offenheit
und Empfänglichkeit für das, was sich auf dieser Reise an Möglichkeiten
darbietet. Auch hier entfaltet sich das Was des Unterrichts in dem Wie der
sich ergebenden Handlungsmöglichkeiten. Und auch Unterrichten lebt
vor allem aus jener Mischung aus Gerichtetheit und Empfänglichkeit, die
für den schöpferischen Prozess so konstitutiv ist.
Unterrichten kann nach einem Programm geplant werden ...
Auch Unterrichten ist kein zielloses Umherwandern, sondern eine sorgfältig
geplante Reise. Die Richtung wird durch den Lehrplan vorgegeben; seine
Ziele, Inhalte, Themen bilden den Horizont des Lernens. In diese Ebene
gehört auch die »Klärung der Sachstruktur«, die unter bestimmten didaktischen
Bezugspunkten die Themen des Lehrplans reflektiert.
Diese Ebene des Lehrplans determiniert jedoch nicht den Unterricht,
sondern auch sie muss einen sehr elastischen Spielraum aufweisen. Auch
sie orientiert, legt aber nicht fest. Sie hat den Charakter eines offenen Entwurfs.
Der Lehrplan ist das Was des Unterrichts, das sich noch selbst verborgen
ist. Er braucht das Wie der unterrichtlichen Möglichkeiten und
Ausdrucksweisen, um sich als Lernen zu fi nden.
Auch im Unterricht ist Improvisation ein völlig unangemessener Begriff.
Improvisation würde das Lernen der Beliebigkeit oder der Laune der
am Unterricht Beteiligten aussetzen. Auch im Unterricht geht es um Offenheit
und Empfänglichkeit auf dem Hintergrund der Gerichtetheit. Auch
hier ergibt immer beides erst das Ganze.
Der Lehrplan lässt sich auch mit dem Bild des Reisekoffers beschreiben,
den man sorgfältig packt, um ihn mit auf die Reise zu nehmen. Aber
der Koffer ist nicht die Reise selbst. Der Lehrplan und die von ihm angestoßenen
didaktischen Refl exionen der Themen markieren eine bestimmte
Etappe auf der Unterrichtsreise. Sie stehen am Beginn, spannen den Horizont
des Lernens auf, zeigen eine Richtung und entwerfen Strukturen; sie
müssen sich aber im Prozess der Realisierung vor dem Werden des Unterrichts
verneigen.
Die Lernorte entdeckt man erst während der Fahrt
Mit Fellini gesprochen: Wenn ich mich mit dem Lehrplan beschäftigt habe, mit
seinen Absichten und Zielen, mit seinen Inhalten und mit dem Thema, dann lege
ich alles beiseite. Dann bin ich wie ein Blatt Papier, das auf der einen Seite beschrieben
und auf der anderen Seite weiß ist. Vielleicht habe ich lange auf der
beschriebenen Seite gearbeitet, aber beim Unterrichten selbst ist die unbeschriebene
Seite viel wichtiger. Immer wieder greife ich auf die beschriebene Seite zurück,
aber sie dient nur als Hinweis, sie zeigt mir die Richtung, sie eröffnet den
Horizont für die Gestaltung des Unterrichts ... Der Unterricht, der auf der »weißen
Seite« Gestalt gewinnen wird, kann nicht einfach von der schon »beschriebenen
Vorderseite« des Lehrplans abgeleitet werden. Jede der beiden
Seiten gehört einer anderen Dimension an: Hier die Sphäre der theoretischen
Refl exion, die Kunst des Denkbaren, dort die Sphäre des praktischen
Handelns, die Kunst des Möglichen. Beide Dimensionen berühren sich und
stehen in einem engen Austausch, aber es gibt keinen direkten Übertritt.
Auch sie beeinfl ussen sich in einer Weise, die weniger mit Deduktion und
mehr mit Intuition zu tun hat.
Übersehen wir in Schule und Unterricht diese unterschiedlichen Dimensionen
der Kunst des Denkbaren und der Kunst des Möglichen und ihre
eigentümliche Verbindung, dann zeitigt das fatale Folgen. Didaktik krankt
daran, dass sie die Kunst des Denkbaren für den Kern der Sache oder – nach
Klafki –, den »Kern der Unterrichtsvorbereitung« hält und sich für die
Kunst des Möglichen nicht für zuständig erklärt. Letztere anempfiehlt sie
dem angeborenen Talent der Lehrerinnen und Lehrer oder ihrem »pädago-
Das Felliniprinzip 17
18 Das Felliniprinzip
gischen Takt«. Dabei beginnt doch mit der Kunst des Möglichen erst das
eigentliche Abenteuer des Unterrichtens.
Das Theorie-Praxis-Problem der Schule, die hochfl iegenden Schul- und
Unterrichtskonzepte einerseits und der graue Schulalltag andererseits, der
so oft beklagte Praxisschock, ja viele gescheiterte Schulreformprojekte hängen
weithin mit der Beschränkung auf die Kunst des Denkbaren und mit
der Ausblendung der Kunst des Möglichen zusammen. Das Praktische ist
eben nicht nur »Mittel« für das Theoretische; es weist eine eigene Würde
auf. Es hat seinen Ort auf der anderen, von Empfänglichkeit und Offenheit
bestimmten, noch »weißen Rückseite« des schulischen Handelns. Auch
hier ergibt erst beides zusammen das Ganze.
Der Übergang vom Lehrplan zum Unterricht ist deshalb auch ein
Wechsel von der Kunst des Denkbaren zur Kunst des Möglichen. Theoretisches
Handeln vollzieht sich über die Bewegung von Gedanken; praktisches
Handeln muss Realisierungsmöglichkeiten suchen und sie entdecken, um
sie als Unterricht gestalten zu können. Auch dieser Wechsel lässt sich als
Geburtsvorgang charakterisieren, in dem die zuvor bedachten Absichten,
Ziele und sons tigen Vorgaben des Lehrplans gezwungen sind, in den zur
Verfügung stehenden Möglichkeiten real und lebendig zu werden. Und
auch in diesem »Übertritt« ist manches »von Dunkelheit, von Nacht und
Unwissenheit umgeben«, bevor es an der noch »weißen Seite« des Handelns
an den Tag tritt.
Die Landschaften des Lernens
Eine besondere Rolle in diesem unterrichtlichen Geburtsprozess spielt die
Auswahl der Medien und Unterrichtsarrangements, mit denen und an denen
wir lernen. Über die Lehrer-Schüler-Beziehung hinaus sind es vor allem
die Gegenstände des Lernens, die großen Texte, Bilder und sonstigen Ausdrucksformen
des Glaubens und Lebens, welche die »Landschaften des
Unterrichts« ausmachen; sie bilden den »Nährboden«, der dem Unterricht
seinen Charakter gibt. Medien sind keine Mittel, sondern sie sind Mittler,
die uns vielfältige Zugänge zu Wirklichkeiten ermöglichen, ja, die diese
Wirklichkeiten im Religionsunterricht zum Leben erwecken.
Die Reise der Unterrichtsvorbereitung besteht gerade darin, diese Lernorte
zu entdecken und in ihren Tiefenschichten zu entfalten. Daraus ergeben
sich vielfältige Rückwirkungen auf die Lernrichtungen, die zunächst
vom Lehrplan angestoßen werden. Denn alle Lerngegenstände, die wir auf
diese Weise fi nden, haben immer auch ein Eigengewicht. Sie entsprechen
in einigem dem, was wir suchen; sie gehen aber immer auch darüber hinaus
und weisen andere, eigene Bedeutungsgehalte auf.
Das Eigengewicht der Texte, Bilder und sonstigen Lerngegenstände,
die wir im Religionsunterricht verwenden, hängt damit zusammen, dass
sie in der Regel nicht für den Religionsunterricht gemacht sind; sie sind in
anderen Zusammenhängen entstanden und repräsentieren eine eigene
Welt, die oft von der unsrigen radikal verschieden ist. Wir wählen etwa den
für den Religionsunterricht gebräuchlichen Text der Zehn Gebote aus, weil
wir glauben, dass er für das religiöse und ethische Lernen der Schülerinnen
und Schüler des 21. Jahrhunderts eine Bedeutung hat. Der Dekalog gehört
jedoch zu den ältesten Texten unserer Kultur, er ist im Vorderen Orient
entstanden, mit einer spezifi schen Wirkungsgeschichte durch die Jahrhunderte
bis heute. Bei aller unmittelbaren Verständlichkeit und Bedeutsamkeit
für unsere heutige Situation haftet der sprachlichen Gestalt der Zehn
Gebote, wie allen biblischen Texten, etwas Fremdes, Sperriges, Widerständiges
an, in dem ihre eigene, fremde Welt verborgen ist. Sie bieten sich uns
an, sie verweigern sich aber auch immer dem direkten Zugriff. Wir verstehen
sie, sie sind uns aber immer auch ein Geheimnis. Je selbstverständlicher
und »bekannter« uns diese Texte sind, desto mehr sind wir in Gefahr,
über dieses Geheimnis hinwegzusehen. Das Gleiche gilt aber auch
weithin für alle anderen Texte, Bilder, Lieder, Filme, Gegenstände, Gebäude
usw., die, auch wenn sie ihren Ursprung nicht in der Vergangenheit
haben, immer in eigenen Zusammenhängen entstanden sind und deshalb
immer auch eine spezifi sche Welt repräsentieren.
In einem zweckrationalen Unterrichtsverständnis, das die Lerngegenstände
instrumentell als bloße Mittel für zuvor festgelegte Lernziele betrachtet,
wird dieses Eigengewicht ständig zum Problem. Tatsächlich liegen
jedoch in ihrer »Sperrigkeit« die Tiefenschichten verborgen, die es zu entdecken
und für den Unterricht fruchtbar zu machen gilt. Das Eigengewicht
der Gegenstände macht sie deshalb für den Unterricht nicht ungeeignet.
Ganz im Gegenteil, es verleiht dem Unterricht etwas Erdiges, Welthaftes,
Konkretes, Farbiges, ja, es erweckt ihn erst eigentlich zum Leben; das Lernen
überwindet seine Vordergründigkeit und Eindimensionalität. In der
Wahrnehmung und Erschließung des Eigengewichts und der Vielschichtigkeit
der Gegenstände entdecken wir die Lernorte des Unterrichts. Sie
haben Rückwirkungen auf die vorläufige Route des Lehrplans, denn: Die
Lernorte entdeckt man erst während der Fahrt.
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