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Ulrich Greiners Leseverführer
Eine Gebrauchsanweisung zum Lesen schöner Literatur
Ulrich Greiner
Verlag C. H. Beck oHG
EAN: 9783406536441 (ISBN: 3-406-53644-1)
216 Seiten, hardcover, 12 x 21cm, 2005
EUR 14,90 alle Angaben ohne Gewähr
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Umschlagtext
Was geschieht mit uns, wenn wir lesen, und warum tun wir es so gern? Muß man alles zu Ende lesen, und was sollte man wirklich über den Autor wissen? Und wo liest man was am besten?
Fragen, die jede leidenschaftliche Leserin und jeden Leser, der es werden will, umtreiben und die Ulrich Greiner, der Literaturchef der ZEIT, in seinem intelligenten und unterhaltsamen „Leseverführer“ behutsam und sehr persönlich beantwortet.
Sein Leseverführer ist kein Kanon, sondern eine passionierte „Gebrauchsanweisung“ für den Weg durch das schöne Labyrinth der Literatur.
Ulrich Greiner ist der Literaturchef der ZEIT. Er war Gastprofessor in Hamburg, Essen und St. Louis, ist Mitglied des P.E.N.-Zentrums Deutschland und veröffentlichte u.a. „Gelobtes Land – Amerikanische Schriftsteller über Amerika“ (1997) und „Mitten im Leben – Literatur und Kritik“ (2000).
Rezension
Ulrich Greiners „Leseverführer“ wendet sich eigentlich an Hobbyleser (und solche, die es werden wollen), nicht aber an den Kenner und erfahrenen Leser, zu dem allgemein auch die Gruppe der Deutschlehrer zu zählen ist. Trotzdem ist dieses Buch, so meine ich, auch für erfahrene Leser größtenteils spannend, da Ulrich Greiner von seinen persönlichen Leseerfahrungen erzählt und zu den wichtigsten (nicht nur den für die Literaturwissenschaft relevanten) Leserfragen Stellung nimmt (z. B.: Warum wir lesen, wie das Verhältnis von Dichtung, Wirklichkeit und Wahrheit ist, wer überhaupt die Geschichte erzählt etc.). Hier muss man auch nicht mit dem Autor übereinstimmen, um mit Genuss zu lesen. Einzelne Passagen, die für den „Profi“ schon hinreichend bekannte Gesichtspunkte behandeln, kann man ja auch auslassen bzw. schneller lesen; zumeist ist aber die Art und Weise, wie erklärt wird, auch spannend zu lesen (mit Buchausschnitten, Exempelerzählungen und Metaphern), so dass das fast oder gar nicht nötig sein wird.
Darüber hinaus kann der Lese(ver)führer auch als Anregung für den Lektüreunterricht hilfreich sein, als Leseverführer zum Lesen allgemein und als Leseführer zu bedeutenden Werken der Literatur (also zur so genannten „Leseerziehung“, die jetzt immer wichtiger geworden ist). Dabei sind vor allem auch die Passagen des Buches interessant, die sich den unkonventionellen Leserfragen zuwenden (etwa: Wo soll man was lesen, wie soll ein Buch aussehen und muss man überhaupt alles zu Ende lesen?).
Melanie Förg, Lehrerbibliothek.de
Leseprobe
(von www.beck.de):
Erstes Kapitel
Über die Lust und das Laster des Lesens
Die Frage, warum wir lesen, ist weder leicht zu beantworten noch unerheblich. Die Antwort gibt nämlich Auskunft über das Wesen der Literatur. Sie gibt Hinweise darauf, weshalb der eine Romane schreibt und der andere sie liest. Beides ist ja nicht selbstverständlich und kann durchaus mühsam sein. Es versteht sich auch nicht von selbst, dass die so genannte schöne Literatur in unserer Welt ein so hohes Ansehen genießt, dass zum Beispiel die Frankfurter Buchmesse ein Ereignis ist, dem Bundeskanzler und Minister beiwohnen, und dass etwa die Vergabe des Literaturnobelpreises eine Nachricht ist, die selbstverständlich in der «Tagesschau» gemeldet wird. Auch scheint es erklärungsbedürftig, weshalb die Öffentlichkeit (jedenfalls in den meisten europäischen Ländern) dazu neigt, im Schriftsteller eine moralische Instanz zu sehen, deren Rat und Meinung in strittigen Fragen von Bedeutung sind.
Warum also lesen wir Romane? Um uns zu zerstreuen, zu unterhalten, zu amüsieren, wäre eine probate Antwort. Das glaube ich nicht. Wenn das unser einziges Ziel wäre, würden wir fernsehen oder ins Kino gehen oder, wenn wir gesellig sein sollten, ins Café, in eine Diskothek oder auf den Sportplatz. Gut, lautet eine andere Antwort, wir lesen, um etwas zu lernen, über andere Länder, andere Sitten, andere Zeiten. Auch das glaube ich nicht. Um an solche Informationen zu kommen, wäre es doch besser, Geschichtsbücher, Biografien und Reiseberichte zu lesen.
Romanen, das ist hinlänglich bekannt, kann man nicht trauen. Im Englischen gehören sie zur Abteilung fiction. Fiktion heißt: Jemand hat sich das ausgedacht. Ob es wahr und zutreffend ist, ob es mit der historischen Wirklichkeit übereinstimmt, das wissen wir zumeist nicht. Es kann sein, oder auch nicht. Was Herman Melville in seinem Roman «Moby-Dick» (1851) über die Technik und Ökonomie des Walfangs erzählt, ist verbürgt durch eigene Erfahrung und durch sein Studium walkundlicher Werke. Aber können wir aus Hölderlins «Hyperion» (1799) wirklich etwas über die Griechen und ihren Freiheitskampf erfahren? Wir lernen etwas über das Griechenlandbild der Deutschen, über Hölderlins Enthusiasmus für die Ideale der Französischen Revolution und seine Verzweiflung über die deutschen Zustände. Aber um diese Begriffe und Sachverhalte zu verstehen, müssen wir nicht «Hyperion » lesen, dafür genügt eine gute Literaturgeschichte.
Warum also? Meine Antwort lautet: Eskapismus. Darunter versteht das Lexikon die Flucht vor der Wirklichkeit in eine Scheinwelt. «Escape from Alcatraz» heißt ein berühmter Film von Don Siegel (1979). Clint Eastwood, der Held, ist auf der Gefängnisinsel Alcatraz eingesperrt. Sie besteht eigentlich nur aus einem gewaltigen Felsbrocken, der mitten in der Bucht von San Francisco liegt. Von hier zu fliehen, gilt als aussichtslos. Natürlich, sonst hätte der Film nichts zu erzählen, gelingt dem Helden die Flucht.
Es ist wohl so, dass wir den Alltag und die Wiederkehr des Gleichen gelegentlich, vielleicht auch sehr oft als ein Gefängnis empfinden, aus dem wir in das Reich der Vorstellungen, der Fantasien und der Tagträume entfliehen.
Die meisten Menschen tun das, ohne sich dessen immer bewusst zu sein. Ich behaupte nun, dass dieses Fluchtbedürfnis Hauptantrieb der Leseleidenschaft ist. Literatur zu schreiben und zu lesen ist eine hoch entwickelte Form des Eskapismus. Schauen wir uns das folgende, 1980 geschriebene Gedicht von Hans Magnus Enzensberger an:
Der Fliegende Robert
Eskapismus, ruft ihr mir zu,
vorwurfsvoll.
Was denn sonst, antworte ich,
bei diesem Sauwetter! –,
spanne den Regenschirm auf
und erhebe mich in die Lüfte.
Von euch aus gesehen,
werde ich immer kleiner und kleiner,
bis ich verschwunden bin.
Ich hinterlasse nichts weiter
als eine Legende,
mit der ihr Neidhammel,
wenn es draußen stürmt,
euern Kindern in den Ohren liegt,
damit sie euch nicht davonfliegen.
Im «Struwwelpeter», dem legendären Kinderbuch des Frankfurter Arztes Heinrich Hoffmann (1845), wagt sich der kleine Robert, allen Warnungen zum Trotz, bei Regen und Sturm hinaus ins Freie. Er trägt, was kleine Jungen eigentlich selten tun, einen Regenschirm. Der Sturm packt ihn, und der Junge verschwindet als der «Fliegende Robert» im Himmel. Darauf bezieht sich Enzensberger, und er dreht die Nutzanwendung des Lehrstücks in ihr Gegenteil. Die Zurückgebliebenen sind nur «Neidhammel », und Robert wagt aus freien Stücken den Flug. Es ist der Flug ins Reich der Fantasie, und den Vorwurf des Eskapismus erheben nur diejenigen, die feige und einfallslos genug sind, um am heimischen Herd zu verharren.
Wer also das Gefühl haben sollte, Eskapismus sei etwas Verächtliches und Flucht eigentlich eine Schande, den belehrt Enzensbergers Gedicht, dass man es auch umgekehrt sehen kann. Diese Sichtweise hat den Vorzug, dass sie der literarischen Lektüre keinen vordergründigen Nutzen unterstellt. Der könnte allenfalls in einer Steigerung der Lese- und Sprachfähigkeit bestehen, und das wäre ja nicht wenig. Aber auch hier gilt, dass man diesen Effekt ebenso gut durch die Lektüre von Sachbüchern erreichen könnte. Worin der eigentliche Gewinn des Lesens von Romanen liegt, das werden wir im Verlauf dieses Buches noch sehen. Zunächst gilt die Wahrnehmung, dass man beim Lesen im Buch verschwindet wie der Fliegende Robert im Himmel.
Fängt nicht jedes Lesen so an? Wir fürchten uns mit Rotkäppchen vor dem bösen Wolf und freuen uns, wenn es Hänsel und Gretel gelingt, die Hexe zu verbrennen. Wir lauschen mit Heidi dem Glockenklang des Frankfurter Doms und bestehen mit Old Shatterhand die gefährlichsten Zweikämpfe. Wir springen mit der roten Zora die steilsten Klippen hinab und fliegen mit Nils Holgersson auf dem Rücken des Gänserichs in den schwedischen Frühling hinein. Schon in frühesten Jahren zeigt sich, wes Geistes Kind man ist, es zeigt sich das Ausmaß der Verführ- und Entführbarkeit. Man liest Karl May und Enid Blyton, «Jim Knopf» und «Harry Potter» und den «Herrn der Ringe» – und all die anderen furchtbaren und wunderbaren Schmöker. Und die Frage, ob das große Literatur sei, kümmert einen überhaupt nicht.
So fängt es an. Später aber, wenn man vielerlei gelesen hat, taucht die Frage von selbst auf. Sie beantwortet sich durch den Vergleich, den man gar nicht sucht. Es kann zum Beispiel passieren, dass man irgendwann zu viel Enid Blyton gelesen hat und auf einmal sieht, wie simpel ihre Geschichten gestrickt sind, so dass es leicht wäre, wenn man die Methode einmal begriffen hat, sie zu imitieren. Was ja in der Tat auch geschehen ist, denn viele Blyton-Romane stammen gar nicht von ihr selbst. Die Frage des Qualitätsunterschieds werden wir im Lauf unserer Betrachtung noch häufiger erörtern. Ich stelle mir das so ähnlich vor wie bei einem Wanderführer mit wachsendem Schwierigkeitsgrad. Als geübtem Wanderer wird es Ihnen am Ende nicht schwer fallen, jene Höhen zu erklimmen, wo die unglaublichste Aussicht herrscht.
Worin diese Aussicht bestehen könnte, ist vorher nicht zu bestimmen. Sie ist mit Sicherheit nicht für jeden Leser dieselbe. Im «Stimmenimitator» von Thomas Bernhard, einer Sammlung erfundener Anekdoten, erschienen 1978, findet sich unter dem Titel «Schöne Aussicht» die folgende Geschichte, die ich leicht gekürzt zitiere:
Auf dem Großglockner hatten, nach stundenlangem Aufstieg, zwei freundschaftlich miteinander verbundene Professoren der Universität Göttingen, die in Heiligenblut einquartiert gewesen waren, den Platz vor dem oberhalb des Gletschers montierten Fernrohr erreicht. Sie hatten sich naturgemäß der einzigartigen Schönheit dieses Hochgebirges nicht entziehen können und einer hatte immer wieder den Anderen zuerst durch das Fernrohr schauen und sich auf diese Weise den Vorwurf des Anderen ersparen wollen, er dränge sich an das Fernrohr. Schließlich hatten sich die beiden einigen können und der ältere und gebildetere hatte zuerst durch das Fernrohr geschaut und war von dem Gesehenen überwältigt gewesen. Als sein Kollege jedoch an das Fernrohr herangetreten war, hatte er, kaum daß er durch das Fernrohr geschaut hatte, einen gellenden Schrei ausgestoßen und war tödlich getroffen zu Boden gestürzt. Dem hinterbliebenen Freund des auf diese merkwürdige Weise Getöteten gibt es naturgemäß noch heute zu denken, was tatsächlich sein Kollege im Fernrohr gesehen hat, denn dasselbe bestimmt nicht.
Wir können diese Geschichte als eine Parabel über literarische Mentalitäten lesen. Wie reagiert der Literaturleser angesichts des Einzigartigen und Überwältigenden? Geht es darum, dass der eine Leser die Wahrheit erkennt und der andere nicht? Wichtig ist der letzte Satz der Anekdote: Die beiden, die durch das Fernrohr geschaut haben, haben bestimmt nicht dasselbe gesehen. Der eine war überwältigt, und er hat davon erzählen können. Was der andere gesehen hat, wissen wir nicht, aber es wird schrecklich gewesen sein. Der Blick in die Nachtseite unserer Existenz, der Anblick des Ungeheuerlichen kann einem die Sprache verschlagen, aber diesen Blick zu riskieren, ist die hervorragende Aufgabe der Literatur.
Nun müssen Sie, lieber Leser, nicht befürchten, es werde Ihnen am Ende ergehen wie jenem Göttinger Professor. Und noch befinden wir uns ja erst am Fuß des Vorgebirges, die Gipfel sind noch weit. Was ich meine, ist lediglich der Unterschied zwischen verschiedenen Lesetemperamenten und Wahrnehmungen. Und der Unterschied zwischen wirklichen Lesern und Zufälligkeitslesern. Es gibt wohl Menschen, die schon von Kindesbeinen an mit beiden im Leben stehen, Menschen, deren Wünsche nie weiter gehen als ihre Tatkraft und deren Fantasie an jenen Grenzen endet, die das Reich des Möglichen setzt. Ich gebe zu, dass ich diese Menschen ab und zu beneide, denn ihre Tüchtigkeit, unbehindert durch inneren Widerstand oder träumerische Erschlaffung, ist unübersehbar. Es ist unwahrscheinlich, dass Sie zu diesem Menschenschlag gehören, sonst würden Sie dieses Buch (und all die anderen) nicht lesen. Man sollte aber die tüchtigen Menschen, die ein Lehrbuch jederzeit einem Roman vorziehen, weder bewundern noch verachten. Ohne sie hätten wir weder das Fahrrad noch den Computer. Was wir allerdings ohne die anderen wären, ohne die Dichter und Denker, die Visionäre und die Fantasten, ist leicht zu sagen: Wir wären schrecklich ärmer.
Der wirkliche Leser, so verstehe ich Thomas Bernhards Anekdote, ist erschütterbar. Er hat ein Sensorium für die Möglichkeitswelt hinter dem Alltag und jenseits des bloß Tatsächlichen. Wir müssen aber hinzufügen, dass dieses Sensorium sehr oft aus einem Gefühl des Mangels entsteht. Wäre man mit allem einverstanden und rundum glücklich, so gäbe es keinen Grund, ein Fliegender Robert sein zu wollen. Anton Reiser, in dem gleichnamigen Buch von Karl Philipp Moritz (1790), ist einer von denen, die schon in jungen Jahren «Unordnung und frühes Leid» (so der Titel einer Erzählung von Thomas Mann) erfahren und in den Büchern nach Ausgleich suchen. Es heißt dort:
Durch das Lesen war ihm nun auf einmal eine neue Welt eröffnet, in deren Genuß er sich für alle das Unangenehme in seiner wirklichen Welt einigermaßen entschädigen konnte. Wenn nun rund um ihn her nichts als Lärmen und Schelten und häusliche Zwietracht herrschte, oder er sich vergeblich nach einem Gespielen umsah, so eilte er hin zu seinem Buche. (…)
Am häufigsten las er, wenn er seinen jüngern Bruder wiegte, und wann es ihm damals an einem Buche fehlte, so war es, als wenn es ihm jetzt an einem Freunde fehlt: denn das Buch mußte ihm Freund, und Tröster, und alles sein.
Im neunten Jahre las er alles, was Geschichte in der Bibel ist, vom Anfange bis zu Ende durch; und wenn einer von den Hauptpersonen, als Moses, Samuel, oder David, gestorben war, so konnte er sich Tage lang darüber betrüben, und es war ihm dabei zu Mute, als sei ihm ein Freund abgestorben, so lieb wurden ihm immer die Personen, die viel in der Welt getan, und sich einen Namen gemacht hatten.
Das ist Eskapismus der reinsten Art. Hier wird das Lesen zum Fluchthelfer, und diese Flucht führt nicht in ein ungefähres Nirgendwo, sondern es erschafft eine Wirklichkeit eigener Qualität, eine Gegenwirklichkeit, die dann eine größere Geltung haben kann als die eigentliche. Was aber wäre die eigentliche Wirklichkeit? Heinrich von Drendorf, der Held in Adalbert Stifters Roman «Der Nachsommer» (1857), besucht einmal mit seinen Eltern eine Aufführung von Shakespeares «Lear» im Wiener Burgtheater. Er fühlt sich zu Tränen gerührt und empfindet das, was scheinbar nur auf der Bühne geschieht, als «die wirklichste Wirklichkeit», als eine Wirklichkeit höherer Ordnung. «Der Nachsommer» ist der kühne Versuch, diese höhere Wirklichkeit mit der wirklichen Wirklichkeit zu versöhnen und in eine vollkommene Harmonie zu überführen, die alle widerstreitenden Kräfte und Leidenschaften besänftigt. Weil aber jedes Handeln unerwünschte Effekte haben kann und ein unkalkulierbares Gegenhandeln erzeugt, kann der Roman sein Ziel nur erreichen, indem er die Zeit stillstellt und eine Utopie des schönen Nichthandelns entwirft.
Wir werden auf dieses ungewöhnliche Buch am Ende zurückkommen. Es gehört wohl zu jenen Gipfeln, die man nur mit einer gewissen Ausdauer erreicht. Für den Augenblick will ich nur auf dies hinaus: Es gibt nie nur eine einzige Wirklichkeit. Wenn man es sonst nicht weiß – als Leser weiß man es. Neben der Welt der Zahlen und Fakten gibt es die Welt der Gedanken und Vorstellungen, die Welt der Träume und der Fantasien, die Welt des Glaubens und der Mythen. Das Eigentümliche, das Wunderbare an der Literatur liegt eben darin, dass in ihr alle diese Wirklichkeiten nebeneinander bestehen können, gleichzeitig und gleichberechtigt, und dass sie gegeneinander durchlässig sind.
Weil Sie, lieber Leser, wie die meisten Menschen einen Kopf und einen Bauch haben, weil Sie also die Tagseite des Möglichen und Plausiblen ebenso kennen wie die Nachtseite des Erahnten und Ersehnten, sind Sie gut dran: Denn die Literatur zeigt Ihnen, wie man damit umgeht und wie eindimensional sich der verhält, der nur eine einzige Wirklichkeit gelten lässt. Er ist, mit einem Wort, bedauernswert.
In dieser Hinsicht hat der Eskapismus sein Gutes. Er erlaubt ein stellvertretendes Handeln. Die Literatur bildet, weil sie eine andere Wirklichkeit darstellt, eine Art Wirklichkeitsersatz, und das ist doppeldeutig. Du liebst, wenn du die Liebe deines Helden erlebst, nicht selber, dir winken weder Glück noch Glanz, und das ist schade. Andererseits erleidest du die Schmerzen deines Helden, sein Scheitern und seinen Untergang ebenfalls nur in Gedanken, nicht in der Realität, und das ist schön. Der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Christian Enzensberger (Bruder des zitierten Hans Magnus) hat diesen Gedanken in seinem Buch «Literatur und Interesse» (1977) näher betrachtet und zugespitzt. Er wendet sich gegen den Glauben, in hochherziger moralischer Absicht geschriebene Romane, wie etwa die von Charles Dickens, der das soziale Elend seiner Zeit geißelte, könnten Nennenswertes dazu beitragen, die Welt zu verbessern.
Das stimmt – und es stimmt auch nicht. Es gibt viele Beispiele dafür, dass Romane ihrer Botschaft wegen massenhaft Verbreitung gefunden und dadurch die Wahrnehmung sozialer Probleme geschärft haben. Ich nenne nur Harriet Beecher-Stowe und ihren berühmten Roman über die Sklaverei «Onkel Toms Hütte» (1852); oder die großen sozialen Romane von Émile Zola und dem erwähnten Dickens; oder die äußerst unterschiedlichen, aber in beiden Fällen wirkungsmächtigen Darstellungen des Ersten Weltkriegs und seiner Gräuel in den «Stahlgewittern » Ernst Jüngers (1920) und in dem Roman «Im Westen nichts Neues» von Erich Maria Remarque (1929).
Und doch hat Christian Enzensberger insofern Recht, als derjenige, der liest, zunächst eben nicht handelt, und würde er die Welt wirklich verändern wollen, so würde er nicht lesen, jedenfalls keine Romane. Es kann also durchaus sein, dass manche Revolution nicht stattgefunden hat, weil zu viele Leser, lesend statt handelnd, von ihr geträumt haben. Und vielleicht muss man diesen Lesern sogar dankbar sein.
Verlagsinfo
„Es wird immer Menschen geben, die mehr gelesen haben als man selber, und immer mehr Bücher, als man je lesen kann. Eigentlich ist das auch ein Glück.“
Was geschieht mit uns, wenn wir lesen, und warum tun wir es so gern? Muß man alles zu Ende lesen, und was sollte man wirklich über den Autor wissen? Muß man sich einschüchtern lassen von großen Werken, und wie nähert man sich denen am elegantesten, an denen man bislang, sich respektvoll verbeugend, vorbeigerauscht ist? Und wo liest man was am besten?
Fragen, die jede leidenschaftliche Leserin und jeden Leser, der es werden will, umtreiben und die Ulrich Greiner, der Literaturchef der ZEIT, in seinem intelligenten und unterhaltsamen „Leseverführer“ behutsam und sehr persönlich beantwortet. Das Buch wendet sich bewußt an die „Laien“, an Leseanfänger und solche, die mehr darüber wissen wollen, was sie begeistert tun, aber es ist auch für die „Profis“ ein Vergnügen.
Geschickt führt Greiner, sich vor allem am Roman orientierend, seine Leser von einfacheren Fragestellungen zu immer komplexeren, von zugänglicheren Werken zu immer schwierigeren, und dieses Buch, das von der Lust des Lesens handelt, macht umso mehr Lust, den vielfältigen Anregungen und Hinweisen, die der Autor gibt, zu folgen.
„Ulrich Greiners Leseverführer“ ist kein Kanon, sondern eine passionierte „Gebrauchsanweisung“ für den Weg durch das schöne Labyrinth der Literatur.
Der Autor
Ulrich Greiner, 1945 geboren, ist seit 1998 verantwortlicher Redakteur des Ressorts Literatur bei der ZEIT. Gastprofessuren in Hamburg, Essen und St. Louis. Mitglied des P.E.N.-Zentrums Deutschland. Er veröffentlichte u.a. „Gelobtes Land – Amerikanische Schriftsteller über Amerika“ (1997) und „Mitten im Leben – Literatur und Kritik“ (2000).
(Kurzinfo unter www.beck.de)
Inhaltsverzeichnis
Zum Geleit
Erstes Kapitel
Über die Lust und das Laster des Lesens
Erste Pause
Wie viel muss man gelesen haben?
Zweites Kapitel
Über das Verhältnis von Dichtung und Wahrheit
Zweite Pause
Was kann der Roman nicht?
Drittes Kapitel
Über das Fortwirken literarischer Helden
Dritte Pause
Was muss man über den Dichter wissen?
Viertes Kapitel
Über gute Bücher mit schlechtem Ende
Vierte Pause
Wo bleibt das Positive?
Fünftes Kapitel
Über Anfänge – und was sie bedeuten
Fünfte Pause
Muss man alles zu Ende lesen?
Sechstes Kapitel
Über Erzählhaltungen und Erzählperspektiven
Sechste Pause
Wo liest man was?
Siebtes Kapitel
Über Romane, die ihren eigenen Regeln folgen
Siebte Pause
Welche Helden wollen wir?
Achtes Kapitel
Über Romane, die mit dem Leser spielen
Achte Pause
Wie soll ein Buch aussehen?
Neuntes Kapitel
Über Romane, die nicht gut geschrieben sind
Neunte Pause
Was fehlt?
Zehntes Kapitel
Über das Leichte und das Schwierige
Anhang
Hilfsmittel und Adressen
Autoren und Werke
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