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Metzler Lexikon Autoren
Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart
4., aktualisierte und erweiterte Auflage
Bernd Lutz, Benedikt Jeßing (Hrsg.)
Verlag J. B. Metzler
EAN: 9783476023049 (ISBN: 3-476-02304-4)
879 Seiten, hardcover, 16 x 24cm, 2010
EUR 49,95 alle Angaben ohne Gewähr
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Umschlagtext
Rund 600 Autorinnen und Autoren im Porträt. Das Lexikon informiert über die wichtigsten deutschsprachigen Autorenpersönlichkeiten und ihre Werke vom Mittelalter bis in die unmittelbare Gegenwart. Die essayistisch geschriebenen Artikel beleuchten Leben und Gesamtwerk im Kontext der jeweiligen Epoche und liefern gleichzeitig alle notwendigen Daten und Fakten sowie die wichtigste Sekundärliteratur. Die vierte Auflage wurde aktualisiert und um ca. 20 Artikel vor allem zu Schriftstellern der Gegenwartsliteratur erweitert.
Rezension
In 4., aktualisierter und erweiterter Auflage bietet dieses Standardwerk ca. 20 neue Artikel vor allem zu Schriftstellern der Gegenwartsliteratur wie Wilhelm Genazino, Daniel Kehlmann, Martin Mosebach, Bernhard Schlink, Kathrin Schmidt, Ingo Schulze u. a. Außerdem wurde es aktualisiert um Literaturangaben, Literaturpreise etc. Dieses Standardwerk sollte neben jeder Deutschen Literaturgeschichte seinen Platz finden. Konnte man dem Werk bis zur 2. Aufl. 1994 noch eine in gewisser Weise fehlende Aktualität unterstellen, weil zahlreiche aktuelle zeitgenössische Autoren fehlten, so ist dieser Mangel schon seit der 3., um ca. 100 Autorenportäts erweiterten Auflage überwunden - und jetzt erst recht! Die Essays geben tiefe Einblicke in Leben, Werk und Wirken der wichtigsten deutschsprachigen Autoren - ausführlich, anschaulich, verständlich.
Thomas Bernhard für lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Neue Einträge zu Wilhelm Genazino, Daniel Kehlmann, Martin Mosebach, Bernhard Schlink, Kathrin Schmidt, Ingo Schulze u. a.
Aktualisiert um Literaturangaben, Literaturpreise etc.
Bernd Lutz leitete einen kulturwissenschaftlichen Fachverlag; bei J.B. Metzler ist u.a. erschienen „Metzler Philosophen Lexikon“, 3. Auflage 2003 (Hg); „Metzler Goethe Lexikon“, 1999 (Mitherausgeber);
Benedikt Jeßing ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum; bei J.B. Metzler ist erschienen: „Johann Wolfgang Goethe“, Sammlung Metzler 288, 1995; „Metzler Goethe Lexikon“, 1999 (Mitherausgeber); „Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft“, 2003 (Mitautor).
Pressestimmen
Dank des Metzler Verlages bekommen Wissenshungrige hier die Möglichkeit, sich einen ersten Einblick über die deutsche Literatur und deren Schöpfer zu verschaffen - und weckt darüber hinaus die Lust weiterzugehen. Eben kein Durchschnittswerk, sondern ein Buch der Superlative... www.literaturmarkt.info
Das "Metzler Lexikon deutschsprachiger Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart" liegt nun in der 4., aktualisierten und erweiterten Auflage vor. Gibt es einen größeren Beweis für ein gelungenes und anspruchsvolles Nachschlagewerk? www.literaturkritik.de
Gleichwohl bietet dieses Lexikon mit rund 600 Porträts Gelegenheit, sich einen Überblick über gut 1000 Jahre deutschsprachiger Literatur zu verschaffen. www.textem.de
Ergänzt um einige Autoren und aktualisiert in den Beiträgen und v.a. bibliografischen Angaben bleibt es damit ein Standardwerk für alle, die am Leben und Werk deutschsprachiger Autoren interessiert sind. Deutschmagazin
Inhaltsverzeichnis
Vorwort V
Autoren A–Z 1–861
Weiterführende Bibliographie 862
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter 864
Artikelregister 868
Leseprobe:
Abraham a Sancta Clara
Geb. 2. 7. 1644 in Kreenheinstetten
bei Meßkirch; gest. 1. 12. 1709 in Wien
Johann Wolfgang Goethe behielt recht, als er
Friedrich Schiller einen Band mit Schriften von A.
zusandte und dazu bemerkte, sie würden ihn »gewiß
gleich zu der Kapuzinerpredigt begeistern«
(5. 10. 1798). Denn Schiller fand hier das Material,
das er brauchte, um den Auftritt des Kapuziners in
Wallensteins Lager mit Leben zu erfüllen, und er
übernahm charakteristische Merkmale von A.s
volkstümlichem Predigtstil, die Wortspiele, die
Reihungen, die lateinisch-deutsche Mischsprache,
die Verbindung von drastischem Ton und höherem
Anliegen. So setzte er »Pater Abraham«, diesem
»prächtige[n] Original«, mit all seiner »Tollheit
« und »Gescheidigkeit« ein Denkmal, das
nachhaltiger wirkte als das wesentlich komplexere
Werk des Predigers.
A., eigentlich Hans Ulrich Megerle, Gastwirtssohn,
war nach dem Besuch der Lateinschule in
Meßkirch, des Jesuitengymnasiums in Ingolstadt
und des Benediktinergymnasiums in Salzburg
1662 in den Orden der Reformierten Augustiner-
Barfüßer eingetreten. Das Noviziat absolvierte er
im Kloster Mariabrunn bei Wien, und von da an
stand Wien im Mittelpunkt seines Wirkens, wenn
er auch gelegentlich Aufgaben an anderen Orten
wahrnehmen musste (so war er von 1670 bis 1672
Wallfahrtsprediger im Kloster Taxa bei Augsburg
und von 1686 bis 1689 Prior im Grazer Kloster
seines Ordens). Nach der Priesterweihe (1668) und
seiner Ernennung zum Kaiserlichen Prediger
(1677) – Kaiser Ferdinand II. hatte dem Orden die
Seelsorge an der kaiserlichen Hofkirche übertragen
– machte er »Karriere« in seinem Orden, dem er in
hohen seelsorgerischen und administrativen Funktionen
diente, zeitweise auch als Vorsteher der
deutsch-böhmischen Ordensprovinz.
Vor allem jedoch verstand er sich als Prediger,
und sein Werk ist untrennbar mit dieser Funktion
verbunden. Das gilt auch für die Schriften, die
formal eigene Wege gehen und mit den üblichen
literaturwissenschaftlichen Gattungskriterien nur
schwer zu erfassen sind. Drucke seiner Predigten
erschienen von 1673 an, als er »Vor der gesambten
Kayserl. Hoffstatt« eine Lobpredigt auf Markgraf
Leopold von Österreich hielt (Astriacus Austriacus
Himmelreichischer Oesterreicher). Sein Publikum
erreichte und faszinierte er durch eine unwiderstehliche
Verbindung von Ernst und Komik, von
tiefer Frömmigkeit, gezielter Satire und »barocker«
Sprachgewalt; dem intendierten moralischen und
geistlichen Nutzen dienten auch die zahlreichen
Zitate kirchlicher und antiker Autoren, die Gedichteinlagen
und die eingeflochtenen exemplarischen
Geschichten und Wundererzählungen
(»Predigtmärlein«).
Seine bekanntesten Schriften entstanden aus
aktuellem Anlass, der Pestepidemie von 1679 und
der Belagerung Wiens durch die Türken 1683:
Mercks Wienn (1680), eine Verbindung von Pestbericht,
Predigt und Totentanz (»Es sey gleich
morgen oder heut / Sterben müssen alle Leuth«);
Lösch Wienn (1680), eine Aufforderung an die
Wiener, die Seelen ihrer durch die Pest hingerafften
Angehörigen durch Gebet und Opfer aus
dem Fegefeuer zu erlösen; und Auff / auff Ihr
Christen, ein Aufruf zum Kampf wider den Türckischen
Bluet-Egel (1683). Darüber hinaus belebte
A. die traditionelle Ständesatire und die Narrenliteratur
(z.B. Wunderlicher Traum Von einem
grossen Narren-Nest, 1703), pflegte den Marienkult
und sorgte für erbauliche Unterweisung mit Hilfe
von Ars moriendi (Sterbekunst) und moralisierender
Emblematik (Huy! und Pfuy! Der Welt, 1707).
Seine Erfahrungen als Prediger flossen in die großen
Handbücher, Exempel- und Predigtsammlungen
ein: Reimb dich Oder Ich liß dich (1684),
Grammatica Religiosa (1691) und als herausragendstes
Beispiel dieser Werkgruppe Judas Der
Ertz-Schelm (4 Teile, 1686–95) – kein epischer
Versuch, sondern eine Art Predigthandbuch, das
die Lebensgeschichte des Judas als formalen Rahmen
benutzt und jede Station, jedes Laster zum
Anlass einer warnenden Predigt nimmt, die es
nicht verfehlt, die »sittliche Lehrs-Puncten« auf
anschauliche Weise zu illustrieren.
Der Beifall, den man seit Klassik und Romantik
A.s »Witz für Gestalten und Wörter, seinem
humoristischen Dramatisieren« spendet (Jean
Paul), darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen,
dass es sich für den Prediger nur um Mittel zum
Zweck handelt, um Elemente einer im Dienst der
»allzeit florierenden / regierenden / victorisirenden
Catholischen Kirchen« zielstrebig eingesetzten
Überredungskunst.
Literatur: Eybl, Franz M.: Abraham a Sancta Clara.
Tübingen 1992; Abraham a Sancta Clara. Ausstellungskatalog.
Karlsruhe 1982.
Volker Meid
Achternbusch, Herbert
Geb. 23. 11. 1938 in München
Was an A. auffällt, ist seine Verwandtschaft mit
Eulenspiegel. In seinem Theaterstück Gust (1984)
bittet die sterbende Ehefrau Gust um ein »süßes
Wort«, und Gust, der Nebenerwerbsimker, stammelt
vor sich hin: »Honig«. Das war auch die
Antwort Eulenspiegels auf dieselbe Bitte der an
seinem Sterbelager sitzenden Mutter. Es sind aber
nun nicht nur die Kalauer, von denen Eulenspiegel
und Achternbusch ausgiebig Gebrauch machen,
sondern es verbindet sie etwas im Kern ihrer
Haltung. Die deutschen Bauern wurden mit dem
Beginn der Neuzeit auf ihr Land festgenagelt wie
der Grünewaldsche Christus ans Kreuz: die meisten
von ihnen gingen bis ins 19. Jahrhundert in
die sog. ›zweite Leibeigenschaft‹. Wenn nun einer
in einem Volk, das zu 95% aus Bauern besteht,
kein Bauer sein will und auch kein Handwerk
lernt, dann ist das schwierig. Till ist der bodenlose
Bauer, der seinen Acker verlässt, weil man von ihm
nicht mehr leben kann. Er zeigt uns, wie ein
Neubau einer städtischen, später bürgerlichen Gesellschaft
nicht gelingen kann, wenn die Bauernfrage,
d. h. das Verhältnis der Menschen zu ihrem
Land, das ist also auch die Frage der nationalen
Identität, nicht gelöst ist. So erscheint Eulenspiegel
den Städtern und den Herren, und man kann
sagen, dass das Misslingen der deutschen Geschichte
im 20. Jahrhundert Eulenspiegel bestätigt
hat. Und nun kehrt in A., der von bayrischen
Bauern abstammt, dieselbe Bodenlosigkeit wieder.
Was ihn im Kern mit Eulenspiegel verbindet, ist
die Absurdität der Haltung: »Du hast zwar keine
Chance, aber nutze sie!« (Die Atlantikschwimmer,
1978). Dies ist die Lebenslosung Eulenspiegels und
mag auch für A.s Lebens gelten, wenn man manches
aus den Ich-Erzählungen für bare Münze
nimmt. Bestimmt aber gilt sie für seine Arbeit.
»Wenn das schon Dummköpfe sind, denen meine
Bücher gefallen, was müssen das erst für Dummköpfe
sein, denen sie nicht gefallen« (Revolten,
1982). Rückt man seine Bücher, Filme, Theaterstücke
und Bilder in die Tradition der Eulenspiegelstreiche,
so versteht man sie richtig. Eulenspiegel
hat z.B. auf dem Bremer Marktplatz Milch
in einen großen Bottich gießen lassen, also Milchmengen
gesammelt, mit denen eine mittelalterliche
Bauerngesellschaft oder frühe Stadtbewohner
auf keinen Fall sinnvoll umgehen konnten. Die
Absurdität dieses Bildes können wir heute, zur
Zeit europäischer »Milchseen« und »Butterberge«,
kaum noch nachempfinden. Die Dinge sind uns
tatsächlich so weit über den Kopf gewachsen, dass
für unsere Zeit die dem Eulenspiegelschen entsprechenden
Absurditäten andere Bilder erfordern.
Man erkennt aber im folgenden Beispiel von A.
immer noch das Prinzip des grotesken Milchzubers,
in dem absurde Harmonie entsteht: »Ursprünglich
war ich ein gelernter Flugzeugmaurer.
Für 25 Mark in der Stunde habe ich mit Kelle und
Wasserwaage Mauern in Flugzeugen hochgezogen.
Wie es keinen Treibstoff mehr gegeben hat, habe
ich für Kontergankinder Führungen in Atomkraftwerken
gemacht. Wenn ich sie was gefragt habe,
dann haben sie hier an der Schulter die Finger
gehoben. Ich habe ihnen erklärt, dass die Atomkraft
den Menschen die Arme erspart« (Das letzte
Loch, 1981).
Liest man Artikel und Bücher über A., dann
fallen immer wieder dieselben Wörter: assoziativ,
Aufbegehren, bayrisch, chaotisch, dilettantisch,
eigensinnig, individuell, radikal, subjektiv, ungebärdig,
utopisch, verwundet, zornig. Zwei Begriffe
sind bisher nicht (oder ganz vereinzelt!) genannt
worden. Sie haben auch mit Eulenspiegel zu tun:
Realismus und Aufklärung. Man kann sagen, dass
die Hauptlinie der »Dialekt der Aufklärung«, die
Linie des Verstandes, der instrumentellen Vernunft
im 20. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Verwüstungen,
in ihrem Scheitern zu erkennen ist.
Jetzt werden die vergessenen, liegengelassenen Nebenlinien
interessant. Es gab eine »Aufklärung vor
der Aufklärung« des 17. und 18. Jahrhunderts, der
die Verengung auf das gerade Denkvermögen des
Menschen fremd war. Rabelais, Cervantes, Boccaccio,
Shakespeare, um ein paar berühmte Namen zu
nennen, hätten den Ursprungssatz der Vernunftaufklärung
»Ich denke, also bin ich« vielleicht
nicht verstanden und ihn für wenig realistisch,
d. h. der Natur des Menschen gemäß gehalten. Von
dieser Aufklärung vor und neben der Aufklärung,
die auf breiterer, aber ungeordneterer, unübersichtlicherer
Grundlage fußt, geht ein starker komischer
Impuls aus, der sich in Menschen wie A.
und seinen Lesern und Guckern wieder bemerkbar
macht. Ihr Hauptprinzip heißt »Aufklärung durch
Vernebelung« (Heiner Müller), d. h. sie würden
das Gebot »sapere aude!« nie aussprechen, weil sie
der Wirkung direkter, linearer, verständiger Kommunikation
misstrauten. Von diesem Prinzip leben
auch A.s Arbeiten: »Ich möchte aber Filme, die
niemand versteht. Früher hat man einen Bachlauf
nicht verstanden, heute wird er begradigt, das
versteht ein jeder.« »Es geht nicht mehr darum,
dieses bürgerliche Verbrechertum zu beweisen,
sondern unverschämte Behauptungen in die Welt
zu setzen. Die Literatur soll erfinden … Die Erfahrung
soll springen, in Erfindungen springen.« Ist
es nicht immer noch überraschend, dass Kant in
seinem berühmten Aufsatz »Beantwortung der
Frage: Was ist Aufklärung?« (1783) als erstes Beispiel
von Unmündigkeit die Abhängigkeit vom
Buch anführt? »Es ist so bequem, unmündig zu
sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat,
einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen
Arzt, der für mich die Diät beurteilt, usw.: so
brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.«
Natürlich meint Kant mit dem Buch das damals
beherrschende Buch, die Bibel. Aber das Verhältnis
der Leser zum Geschriebenen muss sich nicht
dadurch ändern, dass an die Stelle der Bibel inzwischen
alle möglichen Bücher oder auch Filme,
Fernsehen u. a. getreten sind. Auch Bücher wie die
von Kant, die in emanzipatorischem Interesse verfasst
wurden, können sich gegen die Gewohnheit
unmündigen Lesens schlecht wehren. Aus diesem
Scheitern zieht A. die Konsequenz, Bücher zu
schreiben, die überhaupt keinen Verstand haben
und daher auch keinen »für mich« haben können.
Das Vertrauen auf den Unsinn (von Erfindung
und Erfahrung), Komik, will ein Hemmnis gegen
unmündiges Lesen sein, denn unsinnigen Sätzen
kann man nicht sklavisch-verständig folgen. »Lachen
ist ein guter Ausgangspunkt für Denken.«
Wer an dem Begriff der Erfahrung festhält,
kann kein Gegenaufklärer sein. Es kann sich dabei
im Ursprung und Kern nur immer um die eigene
Erfahrung handeln. Auf die Einsicht der Bedrohung
der Welt gründet sich Achternbuschs Realismus.
»Ich bin der Erfinder der Individuellen
Kunst, Erfinden kann man die leicht, aber durchsetzen!
« Die seit dem 18. Jahrhundert benutzten
künstlerischen Formen, die alten Behälter der Erfahrung,
können die lebendige, also zunächst individuelle
Erfahrung der Gegenwart auf keinen
Fall mehr fassen: »Wer eine spezielle literarische
Form pflegt, mag er auch noch so ideologische
Fassadenpflege betreiben, dient dem blockhaften
politischen System. Jeder Roman ist eine totale
politische Institution.« Die Grundform A.s ist der
Assoziationsstrom, der aber als Naturform der
Phantasie, nicht als Kunst bezeichnet werden
muss. Sein Realismus besteht gerade darin, ein
kunstloser Künstler zu sein. Dies zieht die Feindschaft
der Bürokratie (Das Gespenst, 1983), der
Ritter des Kulturbetriebs und der Traditionalisten
auf sich. Aber es sichert ihm die Zuneigung der
Künstler, und zwar auch solcher, die gar nicht
zueinander und zu ihm zu passen scheinen. Sie
bemerken, dass hier einer die Wurzeln der Kunst,
d. h. nichtentfremdeter Produktivität offen hält, so
dass man daran anknüpfen kann.
Zusammenhänge sind oft unterirdisch. Man
muss nicht bestreiten, dass A. mit den häufig
genannten Kameraden im Geiste (Karl Valentin,
Oskar Maria Graf, Charlie Chaplin, Buster Keaton,
Marx-Brothers, Jean Paul, auch mit Robert Walser
und Franz Kafka) offenkundig vieles verbindet,
wenn man auf andere, weniger offenkundige Bezüge
hinweist. Dazu gehört z.B. eine geheime
Verwandtschaft mit Robert Musil. Für ein dekadentes
Lebensgefühl, welches seine Zeit bestimmte,
fand Musil folgendes Bild: »Sätze wie
dieser schmecken so schlecht wie Brot, auf das
Parfüm ausgegossen wurde, so daß man jahrzehntelang
mit alledem nichts mehr zu tun haben
mag.« In A.s Film Der Depp (1982) wird folgendes
Gericht serviert: »Das Sauerkraut mit dem Schokoladenherz
«. Beide Bilder zeigen einen Weltekel,
dessen deutscher komischer Archetyp Eulenspiegel
ist, unterscheiden sich aber städtisch (Wien, bürgerlich,
ironisch) und ländlich (bayrischer Wald,
bäuerlich, komisch). Mit diesem Abscheu gegen
die Außenwelt geht fast immer die Sehnsucht nach
einem anderen Menschen einher, der die Welt
genauso verabscheut: das ist Agathe für den Mann
ohne Eigenschaften und Susn in den Büchern A. s.
Um das Soziale, eigentlich Asoziale, das Kriegerische
in der Liebe möglichst gering zu halten,
verkleidet sie sich als Inzest. Susn ist wie Agathe
die Schwester: »Der Vater hat dir die Susn in den
Kopf gespuckt, sag ich da. Er hat einen Rausch
gehabt, und in seinem Kater tröstete er sich mit
einer schönen Erfindung, einer Tochter aus seinem
Samen!« (Die Alexanderschlacht, 1978). Der »letzten
« ernsthaften »Liebesgeschichte« Musils folgt
die letzte komische. So verstecken sich in A.s Werk,
der insofern mitnichten der eigensinnige Eigenbrötler
ist, als der er erscheint, Chiffren der deutschen
Geistesgeschichte. Das Inzestmotiv lässt sich
bis zu Wieland zurückverfolgen. Er wiederbelebt
historisch vorhandene Protestenergie gegen die
Traumata des geschichtlich Gewordenen: »Denn
das Individuum ist der Sinn der Geschichte und
ihr Ende zugleich.«
Die Aufmerksamkeit, die den Filmen und Büchern
A.s in den 1960er, 70er und teilweise 80er
Jahren zuteil geworden ist, bricht infolge der Kommerzialisierung
der Filmlandschaft und des konservativen
öffentlichen Klimas in den 90ern ab,
obwohl A. unverdrossen weiter Filme produziert
(bisher knapp 30), Bücher schreibt und Bilder
malt. Allein im Jahr 2003 veröffentlichte A. vier
Bücher: Guten Morgen!, Schnekidus, Liebesbrief
und Mein Vater heißt Dionysos. 1993 zeigte die
ARD eine Retrospektive seiner Filme, 1994 wird er
in die Bayrische Akademie der Schönen Künste
aufgenommen. Der österreichische Verlag Bibliothek
der Provinz hat inzwischen 19 neue Titel
sowie vier Bände einer Gesamtausgabe A.s herausgebracht.
Werkausgabe: Gesamtausgabe. Bisher 4 Bände. Weitra
2000 ff.
Literatur: Gass, Barbara: Herbert Achternbusch. Fotografien
aus 25 Jahren. Heidelberg 1999; Jansen, Peter W./
Schütte, Wolfram (Hg.): Herbert Achternbusch. München/
Wien 1984; Drews, Jörg (Hg.): Herbert Achternbusch,
Materialienband. Frankfurt a. M. 1982.
Rainer Stollmann
Aichinger, Ilse
Geb. 1. 11. 1921 in Wien
Ein »zartes, vielgeliebtes Wunderkind« war –
so erinnert sich der Kritiker Joachim Kaiser noch
1980 – A. für die Mitglieder der legendären
Gruppe 47, als sie (ab 1951) an deren Tagungen
teilzunehmen begann und 1952 für die Spiegelgeschichte
ihren Preis erhielt. Einer aus der
Gruppe, der Lyriker und Hörspielautor Günter
Eich, wurde A.s Mann. Von ihm, sagt sie nach
seinem Tod, habe sie ein Engagement gelernt, das
über das politische hinausging, »ein Engagement
gegen das ganze Dasein überhaupt«. »Ich lasse mir
die Welt nicht bieten«, hat sie ein andermal gesagt
und ihren Widerstand gegen politische Systeme,
Macht und Machtträger (»die Gekaderten«) immer
schon verstanden »nur als Teil eines größeren
Widerstandes, dem die Natur nicht natürlich erscheint,
für den es den Satz ›weil es so ist‹ nicht
gibt«. Der so umfassend und grundsätzlich definierte
Widerstand (A.s »biologische Revolte, Anarchie
«) schließt ein Schreiben aus, das von einer
vorgegebenen Welt und Wirklichkeit ausgeht und
einem Programm oder einer Ideologie verpflichtet
ist. Und zu keiner Zeit kommt für A. eines in
Frage, das nicht den Widerstand in Sprache umsetzt
und in ihr aufzeigt: »Sie ist, wenn sie da ist,
das Engagement selbst«.
»Ich gebrauche jetzt die besseren Wörter nicht
mehr«, beginnt die Titelerzählung des Bandes
Schlechte Wörter (1976), die eine grimmig-melancholische
Demonstration der poetischen Autonomie,
ein Plädoyer für die definierende Sprache ist
(»Definieren« grenzt an »Unterhöhlen«), für eine,
die den »ausreichenden Devisen« und allen Konventionen
apodiktisch entrissen wird. A. hat mehrere
poetologische Texte geschrieben. Einer davon,
Meine Sprache und ich (1978), hat den Titel abgegeben
für die Taschenbuchausgabe der gesammelten
Erzählungen, 1978; darin findet sich auch
Der Querbalken, von Wolfgang Hildesheimer als
Schlüsseltext der Literatur der Moderne interpretiert.
Diese Texte berichten alle erzählerisch, keineswegs
theoretisierend, vom schwierigen Umgang
mit der Sprache und mit der Welt, die sich in ihr
spiegelt.
Ihr erstes Buch, den Roman Die größere Hoffnung
(1948), begann A. zu schreiben, um darüber
zu berichten, »wie es war«. Sie hatte die Jahre des
Kriegs und der Naziherrschaft in Wien verlebt und
musste als Halbjüdin (vor allem aber ihre jüdische
Mutter) ständig mit der Deportation rechnen.
Diese dokumentarische, historische, autobiographische
Realität wird verwandelt in eine poetische.
Einmal dadurch, dass A. weder den Schauplatz
noch die Verfolger und die Opfer benennt. Vor
allem aber durch eine kühne, expressive Bildersprache,
die nicht nur mit der damals zur Wahrheitsfindung
für unverzichtbar gehaltenen »Kahlschlag
«-Sprache nichts gemein hat, sondern auch
innerhalb von A.s übrigem Werk einzig dasteht.
Die Verwandlung überhöht oder schließt den realen
Schrecken keineswegs aus, aber sie konfrontiert
ihn radikal mit einer durch ihn nicht einzuholenden
poetischen Gegenwelt. In dieser Gegenwelt
lebt eine Gruppe verfolgter Kinder und Halbwüchsiger
spielerisch und – buchstäblich! – spielend
den Widerstand und die Verweigerung: Im
Kapitel »Das große Spiel« führen sie ein Theaterstück
auf; sie spielen es so intensiv, dass ein »Häscher
« von der »Geheimen Polizei«, der die Kinder
abholen soll, seinen Auftrag vergisst und sich in
das Spiel einbeziehen lässt. Die fünfzehnjährige
Ellen, die sich der Gruppe angeschlossen hat, obwohl
sie »zwei falsche Großeltern zu wenig« habe,
kommt dabei zu der Erkenntnis, dass die »große
Hoffnung« – auf ein Ausreisevisum nämlich – zu
wenig ist. »Nur wer sich selbst das Visum gibt…,
(wird) frei«. Die »größere Hoffnung« aber richtet
sie – während sie von einer explodierenden Granate
zerrissen wird – auf eine neue Welt des
Friedens und der Menschlichkeit.
A.s einziger Roman, obwohl früh in seiner
Bedeutung erkannt (»die einzige Antwort von
Rang, die unsere Literatur der jüngsten Vergangenheit
gegeben hat« – Walter Jens), sei trotzdem
bis heute »ein Buch, das geduldig auf uns wartet«,
meint Peter Härtling; der Erfolg von A.s frühen
Erzählungen habe einer breiten Publikumsresonanz
im Wege gestanden. Von Rezeption und Umfang
her bilden die Erzählungen tatsächlich das
Zentrum ihres Werks. Und manche davon sind
Lesebuchklassiker geworden; von den früheren neben
der Spiegelgeschichte vor allem Der Gefesselte,
Die geöffnete Order, Das Fenstertheater, von den
späteren Mein grüner Esel,Wo ich wohne oder Mein
Vater aus Stroh. Hingegen sind A.s Hörspiele (vier
davon gesammelt im Band Auckland, 1969) und
die Dialoge und Szenen (Zu keiner Stunde, 1980)
kaum zur Kenntnis genommen worden; in diesen
Textgattungen ist A.s Poetik des Schweigens (»Vielleicht
schreibe ich, weil ich keine bessere Möglichkeit
zu schweigen sehe«), der Leerräume und der
ständigen Verlegung der Grenzen der Realität von
Zeit und Raum besonders weit getrieben.
In A.s literarischer Entwicklung seit Die größere
Hoffnung ist eine sprachliche und gedankliche
Radikalisierung zwar unverkennbar, aber sie lässt
zu keiner Zeit Teile ihres früheren Werks überholt
erscheinen. Zu Recht verrät in dem 1978 erschienenen
Gedichtband Verschenkter Rat keine chronologische
Anordnung die bis zu fünfundzwanzig
Jahre auseinanderliegende Entstehungszeit der Gedichte.
Der andere, der nicht durch Überlieferung
und Übereinkunft verstellte Blick auf die Realität
ist für die frühe wie die späte Lyrik kennzeichnend.
Nachruf ist aus diesem freien Blick heraus entstanden.
Die Raum- und Zeitlosigkeit, in der die
vier lakonischen Imperative gesprochen sind, vermag
eine von allen Seiten (religiös, historisch,
sozial und politisch) abgesicherte Weltordnung auf
den Kopf zu stellen und zu zertrümmern: »Gib
mir den Mantel, Martin, / aber geh erst vom Sattel
/ und laß dein Schwert, wo es ist, / gib mir den
ganzen«. Und der Prosatext Schnee (aus Kleist,
Moos, Fasane, 1987) lässt in seinen letzten Zeilen
und mittels eines verbindlichen Irrealis’ die ganze
Schöpfungsgeschichte neu (und humaner) beginnen:
»Wenn es zur Zeit der Sintflut geschneit und
nicht geregnet hätte, hätte Noah seine selbstsüchtige
Arche nichts geholfen. Und das ist nur ein
Beispiel«. Kleist, Moos, Fasane enthält Texte aus
vier Jahrzehnten. An ihnen, vor allem aber an der
zu A.s siebzigstem Geburtstag 1991 erschienenen
(mustergültig edierten) Taschenbuch-Ausgabe der
Werke in acht Bänden ist es nochmals zu überprüfen,
wie die zu einer Klassikerin der deutschen
Gegenwartsliteratur gewordene Autorin zugleich
immer eine Avantgardistin geblieben ist, für die
die Zeitlosigkeit, in der ihr Schreiben angesiedelt
sein will, jedenfalls nicht die geringste Gemeinsamkeit
aufweist mit Zeitferne.
Darum war es zwar eine Überraschung, hat
aber durchaus seine Logik, dass A. Jahre später als
Kolumnistin für die Wiener Tageszeitung Der
Standard tätig wurde. Seit Oktober 2000 erscheint
von ihr jeden Freitag eine Kolumne: eine erste
Serie unter dem Titel Journal des Verschwindens,
die anschließenden Folgen mit den Titeln Unglaubwürdige
Reisen und Schattenspiele. – Die Kolumnen
des ersten halben Jahres bilden den
Schwerpunkt des Bandes Film und Verhängnis.
Blitzlichter auf ein Leben (2001). Zusammen mit
anderen, weniger an die cineastische Aktualität
gebundenen Gelegenheitsarbeiten (im ersten Teil
des neuen Buches) offenbaren die Film-Kolumnen
eine Autorin mit dem genauen Bewusstsein dafür,
dass sie für ein anderes Medium arbeitet und sich
nicht ausschließlich an ihre bisherigen Leser wendet,
sondern beispielsweise auch an solche, die wie
sie selber passionierte und kenntnisreiche Kinogänger
sind. Wie A. die Gratwanderung zwischen
einer neuen Zugänglichkeit und der unverwechselbar
A.schen sprachlichen und gedanklichen Radikalität
meistert, das ist in den einzelnen Texten
des Bandes Film und Verhängnis ebenso wie in den
seither wöchentlich publizierten Kolumnen jedesmal
von neuem staunens- und bewundernswert.
Ebenfalls als Journal-Kolumne für eine Tageszeitung
(Die Presse) entstanden die Subtexte
(2006), geschrieben im Wiener Café Jelinek und
anlässlich der Lektüre der Schriften von E.M.
Cioran. Die kurzen Texte A.s hinterfragen sprachlich
meisterhaft das scheinbar Selbstverständliche,
ein Gestus, der auch in der anarchischen Neuerzählung
eines Grimmschen Märchens sichtbar
wird (Der Wolf und die sieben jungen Geißlein,
2004). Der Erzählband Unglaubwürdige Reisen
(2005) ersetzt die Bewegung in der geographischen
Welt durch imaginäre Reisen an Orte der Kindheit,
traumatisch erfahrene Urszenen als Fragmente der
eigenen Identität.
Werkausgaben: Kurzschlüsse (Prosa). Wien 2001 (mit
CD); Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden. Hg.
von Richard Reichensperger. Frankfurt a. M. 1991.
Literatur: Samuel 32003; Herrmann/Thums 2001; Lindemann
1988; Moser, Samuel (Hg.): Ilse Aichinger, Materialien
zu Leben und Werk. Frankfurt a. M. 32003; Herrmann,
Britta/Thums, Barbara (Hg.): »Was wir einsetzen
können, ist Nüchternheit«. Zum Werk Ilse Aichingers.
Würzburg 2001; Lindemann, Gisela: Ilse Aichinger.
München 1988.
Heinz F. Schafroth/Red.
Alexis, Willibald
(d. i. Georg Wilhelm Heinrich Häring)
Geb. 29. 6. 1798 in Breslau;
gest. 16. 12. 1871 in Arnstadt
So wie A. die Mark Brandenburg in seinen
historischen Romanen dargestellt habe, sei er »eine
ganz große Nummer«, schreibt Theodor Fontane
1895 an Heinrich Jacobi. 1872 hatte Fontane den
»märkischen Klassiker« A. und seine »vaterländischen
Romane« in einem großen Essay zwar ausführlich
gewürdigt, aber letztlich resümiert, der
Autor – sein Stil sei oft schwerfällig und kaum
flüssig lesbar – würde wohl nur wenige Leser
ansprechen: Er »konnte nicht populär werden und
wird es nicht werden«. Urteile wie das Fontanes
führten zu dem recht einseitigen Bild eines mittelmäßigen
Autors, das sich immer mehr verfestigte:
A. als der patriotische Fanatiker, der Preußen und
die Hohenzollern-Dynastie verklärt und überschätzt;
das umfangreiche Gesamtwerk wurde auf
seine acht historischen Romane reduziert, in denen
A. die Geschichte Brandenburg-Preußens bearbeitete,
womit gleichzeitig andere Teile seines
Gesamtwerks fast vollständig aus dem Gedächtnis
des Leserpublikums verschwanden. In der Bundesrepublik
galt der weitgehend in Vergessenheit geratene
A. lange nur noch als Verherrlicher Preußens,
in der DDR wurde ihm – begünstigt durch
die marxistische Literaturkritik – eine etwas
größere Aufmerksamkeit zuteil. Von einzelnen
Studien abgesehen, wird A.’ umfangreiches, vielschichtiges
Werk erst seit einigen Jahren differenzierter
betrachtet, neu analysiert, bewertet und der
Autor sogar als ein »Bahnbrecher des deutschen
Romans« (Anni Carlsson) angesehen. Die sehr
schlechte Editionslage von A.’ teils weit verstreut
erschienenen Werken (u. a. Romane, Novellen,
Dramen, Lyrik, autobiographische Schilderungen,
Reisebeschreibungen, publizistische und literaturkritische
Arbeiten) und Briefen, die noch unzureichend
erforschten Lebensumstände und kaum
untersuchte Stellung im Literaturbetrieb des
19. Jahrhunderts erschweren weiterhin eine Beschäftigung
mit A.
Mit dem 1824 erschienenen Roman Walladmor,
den A. – wie auch seinen zweiten Roman
Schloß Avalon (1827) – als die freie Übersetzung
eines Werks des berühmten Walter Scott ausgab,
gelang ihm sein erster literarischer Erfolg. Der
studierte Jurist gab die Beamtenlaufbahn am Berliner
Kammergericht auf und widmete sich fortan
dem Schreiben. A. verfasste eine kaum zu überblickende
Menge an Beiträgen für die bekanntesten
Zeitungen und Zeitschriften der VormärzÄra
und die Zeit der 1848er Revolution (u. a.
Vossische Zeitung, Jahrbücher der Gegenwart und
Der Freimüthige, oder: Berliner Conversations-
Blatt). Als einflussreicher literarischer ›Großkritiker‹
(u. a. in den Blättern für literarische Unterhaltung
und im Morgenblatt für gebildete Leser)
und zeitkritischer Publizist, der für Pressefreiheit
eintrat und die Zensur kritisierte, war er eine
Macht. Mit beinahe allen Autoren seiner Zeit
»hatte er persönlichen oder literarisch vermittelten,
freundlichen oder feindlichen Kontakt« (Beutin);
A. unterstützte die in- und ausländische Literaturproduktion
und förderte die zeitgenössische
Literatur, unter anderem Heinrich Heine. Über
seine Reisen durch Frankreich, Skandinavien, Süddeutschland,
Österreich und Ostpreußen veröffentlichte
A. Reiseberichte und Feuilletons
(Herbstreise durch Scandinavien, 2 Bde., 1828;
Wanderungen im Süden, 1828; Wiener Bilder,
1833). Während A.’ Dramen (etwa Die Sonette, um
1827; Aennchen von Tharau, um 1829; Der Salzdirektor,
um 1851) – zu ihrer Zeit zwar nicht völlig
erfolglos – schon im 19. Jahrhundert in Vergessenheit
gerieten und heute unbekannt und unerforscht
sind, erfreute sich ein Gedicht einer größeren
Popularität: seine Ballade Fridericus Rex, die,
so Fontane, schon »ganz und gar zum Volkslied«
geworden sei. Großes Interesse brachte A. Kriminalfällen
entgegen, die er sammelte, beschrieb und
zusammen mit dem Juristen Julius Eduard Hitzig
unter dem Titel Der neue Pitaval. Eine Sammlung
der interessantesten Criminalgeschichten aller Län-
der aus älterer und neuerer Zeit von 1842 an herausgab
(60 Bände, von denen A. 28 verfasste). Er
konnte seine juristischen Erfahrungen, psychologischen
Kenntnisse und epischen Fähigkeiten
einbringen, um Geschichten zu schreiben, die als
Grenzform zwischen literarischer Erzählung und
quasi-authentischem Fallbericht bzw. Reportage
angesiedelt sind.
Die kaum erforschte Novellistik A.’ (u. a. Gesammelte
Novellen, 4 Bde., 1830/31; Neue Novellen,
2 Bde., 1836) und vor allem historische Romane
stellen den wichtigsten und umfangreichsten Teil
seines OEuvres dar. Von Walter Scott beeinflusst,
erwarb er sich zwar seinen Ruf als »vaterländischer
« Autor mit den acht – mehrbändigen –
historischen Romanen über Themen der brandenburgisch-
preußischen Geschichte (Cabanis, 6 Bde.,
1832; Der Roland von Berlin, 3 Bde., 1840; Der
falsche Woldemar, 3 Bde., 1842; Die Hosen des
Herrn von Bredow, 2 Bde., 1846–1848; Der Wärwolf,
3 Bde., 1848; Ruhe ist die erste Bürgerpflicht,
oder Vor fünfzig Jahren, 5 Bde., 1852; Isegrimm,
3 Bde., 1854; Dorothe, 3 Bde., 1856), verarbeitete
aber auch Themen der französischen Geschichte,
wie in Urban Grandier oder die Besessenen von
Loudun (2 Bde., 1843) einen berühmten französischen
Kriminalfall aus dem 17. Jahrhundert. Mit
seinen Zeitromanen Das Haus Düsterweg. Eine
Geschichte aus der Gegenwart (2 Bde., 1835) und
Zwölf Nächte (3 Bde., 1838) trug er – wie die
Jungdeutschen – zur Kritik der Zeit bei. A. gilt
heute nicht nur als der neben Tieck wichtigste
Autor historischer Romane im Vormärz, sondern
auch als der bedeutendste Theoretiker des Genres
in dieser Zeit; er hinterließ zwar keine komplexe
Theorie, doch die Anmerkungen und Exkurse zum
Geschichtsroman, die sich in Vorworten und Zwischenbemerkungen
seiner Romane finden, bilden
die Bausteine zu A.’ Theorie des historischen Romans.
Die neuere Forschung spricht A. vom Vorwurf
der ›Borussomanie‹ frei, denn der Wahrheitsanspruch,
den er an den historischen Roman und
an sein eigenes Erzählen stellte, schloss die glorifizierende
Darstellung aus. In den frühen 1850er
Jahren verließ A. das Berlin der Reaktionszeit und
zog in die kleinstaatliche Provinz nach Arnstadt in
Thüringen, wo er 1856 und 1860 zwei schwere
Schlaganfälle erlitt, die bis zu seinem Tod 1871 ein
langes Siechtum zur Folge hatten.
Werkausgaben: Romane und Erzählungen. Gesamtausgabe.
23 Bde. Hg. von Norbert Miller/Markus Bernauer.
Hildesheim 1996 ff.; Vaterländische Romane. Hg. von
Ludwig Lorenz und Adolf Bartels. 10 Bde. Leipzig
1921–25; Gesammelte Werke. 20 Bde. in 7 Bänden.
Berlin 1874.
Literatur: Dittrich, Janny: Willibald Alexis in Arnstadt.
Geschichts- und literaturwissenschaftliche Untersuchungen
über ein Dichterleben in der zweiten Hälfte des
19. Jh.s. Frankfurt a. M. u. a. 2001; Beutin, Wolfgang/
Stein, Peter (Hg.): Willibald Alexis (1798–1871). Ein
Autor des Vor- und Nachmärz. Bielefeld 2000; Thomas,
Lionel H.C.: Willibald Alexis. A German Writer of the
Nineteenth Century. Oxford 1964.
Alexander Reck
Altenberg, Peter
(d. i. Richard Engländer)
Geb. 9. 3. 1859 in Wien;
gest. 8. 1. 1919 in Wien
A. war der Inbegriff des Wiener Kaffeehausliteraten
und Bohemien. Seine Prosaskizzen, seine
kulturkritischen Aphorismen und Bilder aus dem
Wiener Großstadtalltag nannte er »Extrakte des
Lebens« (Wie ich es sehe, 1896; Was der Tag mir
zuträgt, 1900; Bilderbögen des kleinen Lebens,
1909). Nach einem abgebrochenen Jura- und Medizinstudium
versuchte er sich u. a. als Buchhändler,
bis er sich – von Karl Kraus gefördert – als
freier Schriftsteller in den Kaffeehäusern einrichtete,
dort residierte, arbeitete und lebte. Außer Karl
Kraus waren Egon Friedell und der Architekt Adolf
Loos seine Mentoren; mit den Literaten des Jungwiener
Kreises stand er im engen Kontakt.
A. gilt als Meister der kleinen Form: der Skizze,
des Feuilletons, des Aphorismus, der Anekdote. Er
komprimierte einen Eindruck in knappster
sprachlicher Gestalt, hinter der jedoch stets das
erlebende Ich greifbar bleibt: das solipsistische Ich
eines sensitiven, nervösen Augenmenschen. Die
Sammlung Wie ich es sehe (die Betonung liegt auf
»sehe«) kann für A.s literarisches Verfahren exemplarisch
stehen. Den Augenblick, den flüchtigen
Eindruck, die plötzliche Begegnung, die dissoziierte
Wirklichkeit holt er mit seiner Ein-Wort- und
Ein-Satz-Kunst in die Sprache. Am besten hat er
dieses in seiner Selbstbiographie (1918) charakterisiert:
»Ja, ich liebe das ›abgekürzte Verfahren‹,
den Telegrammstil der Seele! Ich möchte einen
Menschen in einem Satze schildern, ein Erlebnis
der Seele auf einer Seite, eine Landschaft in einem
Worte! Lege an, Künstler, ziele, triff ins Schwarze!
Basta.« Dort hat er auch seine Optik, seinen Kult
des Sehens beschrieben: »Mein Leben war der
unerhörten Begeisterung für Gottes Kunstwerk
›Frauenleib‹ gewidmet! Mein armseliges Zimmerchen
ist fast austapeziert mit Aktstudien von vollendeter
Form. … Wenn P. A. erwacht, fällt sein
Blick auf die heilige Pracht, und er nimmt die Not
und die Bedrängnis des Daseins ergeben hin, da er
zwei Augen mitbekommen hat, die heiligste
Schönheit der Welt in sich hineinzutrinken! Auge,
Auge, Rothschild-Besitz des Menschen! … Ich
möchte auf meinem Grabsteine die Worte haben:
›Er liebte und sah!‹«
A. war der unschuldigen Huldigungen und
Verehrung für das Schöne voll; vor allem den
aufblühenden Jungmädchenleib beschrieb er. Bei
aller Egozentrik war er fähig, sich ohne Begehren
der Frau zu nähern, ein Freund, kein Verführer. Er
ging als ästhetischer Solipsist ganz im interesselosen
Anschauen seiner schönen Objekte auf. Er
bedauerte, dass die freien erotischen Beziehungen
durch Konventionen und durch das Machtstreben
vereitelt werden.
A. machte das Café Central berühmt, so wie
diese Lokalität seine Lebensweise förderte und
prägte. Er schrieb zumeist auf Veranlassung, eilig
für ein kleines Honorar, das oft schon durch den
Vorschuss aufgebraucht war. Zornig konnte er in
seinen Aphorismen werden: »Mein Gehirn hat
Wichtigeres zu leisten, als darüber nachzudenken,
was Bernard Shaw mir zu verbergen wünscht, indem
er mir es mitteilt!« Zuweilen zielte er tiefer:
»Musik ist: wie wenn die Seele plötzlich in einer
fremden Sprache ihre eigene spräche!« Sein Erscheinen
ließ immer etwas Besonderes erwarten;
seine berühmte allnächtliche Odyssee, die Suche
nach seiner Wohnung, war polizeinotorisch. Allein
dies reichte Egon Friedell schon aus für eine ganze
Anthologie von Altenberg-Anekdoten, in denen er
seine erinnerbare Gestalt gefunden hat.
Literarisch liegt A.s Bedeutung in seinem »Impressionismus
« oder »Pointillismus«, besser: in
den spontan wirkenden Skizzen, und in seinem
Beitrag zur Geschichte des Wiener Feuilletons. Der
Ich-Kult war ihm wie den meisten Kaffeehausliteraten
Selbstverständlichkeit. »Mich interessiert
an einer Frau meine Beziehung zu ihr, nicht ihre
Beziehung zu mir! … Der Blick, mit dem sie einen
anderen liebenswürdig anschaut, macht mich,
mich allein unglücklich! Daher gehört dieser Blick
mir, mir und nicht ihm, dem eitlen Laffen! Mir,
mir allein gehört alles, was von ihr kommt, Böses
und Gutes, denn ich, ich allein empfinde es!«
A. war der klassische Schmarotzer, der in Häusern
der Aristokratie ebenso verkehrte wie im
Bordell, wenn er nicht gerade im Kaffeehaus war.
Als Bohemien und radikaler, doch sanftmütiger
Individualist verfolgte er, verfolgten ihn verschiedene
Reformideen (natürliche Kleidung, Gesundheitsschuhe).
Mit seinem Reformwahn reagierte er
auf den Verlust der Wertordnung, auf das, was bei
Hermann Broch als »Verlust des Zentralwertes«
in der zu Ende gehenden Donaumonarchie diagnostiziert
worden war. Seine Exzesse (Alkohol,
Schlafmittel) verursachten wiederholt Nervenkrisen
und bedurften der klinischen Behandlung.
Oder er erholte sich als Nachtschwärmer bei Gelagen
von seinen strapaziösen Reformen an Leib
und Gliedern. Kaum verwunderlich, dass für ihn
Stoffwechselstörungen die einzige Erklärung für
die Taten der Bösewichter der Weltliteratur waren.
In den späteren Jahren wird das Erlebnis, der
einzigartige Eindruck derart stilisiert, dass die
Empfindung zum Fetisch wird oder zum beliebigen
Reiz verkümmert. Seine Texte wurden nach
seinem Tode von Alfred Polgar (Nachlaß), von
Karl Kraus (Auswahl) und von Egon Friedell herausgegeben
(Das Altenberg-Buch, 1922).
Werkausgabe: Ausgewählte Werke in 2 Bänden.
München 1979.
Literatur: Barker, Andrew: Telegrammstil der Seele. Peter
Altenberg – eine Biographie. Wien u. a. 1998; Kosler,
Hans Christian (Hg.): Altenberg, Peter: Leben und Werk
in Text und Bildern. Frankfurt a. M. u. a. 1997; Schaefer,
Camillo: Peter Altenberg oder die Geburt der modernen
Seele. Wien/München 1992.
Helmut Bachmaier
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