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Mein Süßkind
Ein Jesus-Roman
Klaas Huizing
Gütersloher Verlagshaus
, Random House
EAN: 9783579065793 (ISBN: 3-579-06579-3)
240 Seiten, Festeinband mit Schutzumschlag, 14 x 22cm, 2012
EUR 19,99 alle Angaben ohne Gewähr
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Umschlagtext
Klaas Huizing, 1958 in Nordhorn geboren, lebt und arbeitet heute in Würzburg und in Saarbrücken. Er ist u.a. Chefredakteur des Kulturmagazins „OPUS“. 2003/2004 erhielt er das Jahresstipendium im Internationalen Künstlerhaus Villa Concordia. Seine Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Rezension
Ein gewagtes Sujet, - das der Schriftsteller und Theologe (Prof. Dr.) Klaas Huizing hier behandelt: Ein Jesus-Roman. Ein Roman, aber womöglich nah an der Wirklichkeit; immerhin: so könnte es gewesen sein mit alledem, was wir über Jesus eben nicht wissen - und wir wissen wenig über Jesus! - : Kindheit, Jugend und das junge Erwachsenenalter des Mannes aus Nazareth wird uns durch die biblische Überlieferung nicht verdeutlicht, mithin ein Ort für die rege Phantasie, hier aber eine an möglicher Realität gebundene Phantasie ... So könnte es tatsächlich gewesen sein. Freilich: Es ist und bleibt Fiktion, ein Roman, aber ein Roman, der nicht von den historischen Fakten wegführt, sondern eher zu ihnen hinführt, eine eigene Form "narrativer Theologie", die ggfs. auch als Ganztext-Lektüre im Religionsunterricht Verwendung finden kann, ggfs. in fächerverbindender Perspektive Religion - Deutsch.
Thomas Bernhard, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Der Roman erzählt in atmosphärisch dichten Szenen die Kindheit, Jugend und das junge Erwachsenenalter des Mannes aus Nazareth und füllt damit Lücken, die die Bibel ausspart ... Vor dem inneren Auge ersteht die Lebenswirklichkeit Jesu, wie sie tatsächlich gewesen sein könnte. Ein sensibler und hoch begabter junger Jude, wach für die Welt, die ihn umgibt, zugleich verbunden und eingezwängt in der Familie, sehnsuchtsvoll und ängstlich, immer wieder ahnend, was er sein könnte, immer wieder zweifelnd - am Ende frei.
Die Karriere des Jeschua zum Sohn Gottes
Vor dem inneren Auge ersteht die Lebenswirklichkeit Jesu, wie sie tatsächlich gewesen sein könnte. Ein senibler und hoch begabter junger Jude, wach für die Welt, die ihn umgibt, zugleich verbunden und eingezwängt in der Familie, sehnsuchtsvoll und ängstlich, immer wieder ahnend, was er sein könnte, immer wieder zweifelnd - am Ende frei.
Der Roman erzählt in atmosphärisch dichten Szenen die Kindheit, Jugend und das junge Erwachsenenalter des Mannes aus Nazareth und füllt damit Lücken, die die Bibel ausspart.
So könnte es tatsächlich gewesen sein. Eingezwängt zwischen den Erwartungen der Mutter und dem überforderten Stiefvater, beschützt von seinem Freund Jonathan, versucht Jeschua Klarheit darüber zu bekommen, warum er so ganz anders als die anderen ist. Tief verwurzelt in den Traditionen seines Volkes, kommt er als Bauhandwerker in der aufstrebenden Stadt Sepphoris, nur wenige Kilometer von Nazareth entfernt gelegen, auch in Kontakt mit hellenistischer Kultur und entdeckt in sich die Begabung zu erzählen und zu heilen. Seine Mutter, von seiner Entwicklung enttäuscht, hält ihn für wahnsinnig geworden und will ihn zurück nach Nazareth holen.
Die Kindheit und Jugend des Jesus von Nazareth
Ein Roman über das Werden des Erlösers
Ungewöhnlich, atmosphärisch dicht, klug
"Klaas Huizings "mein Süßkind" ist ein suggesiv erzählter, formal souveräner und inhaltlich zur Refelexion anregender Text - [...] absolut auf dem Stand der modernen Literatur, formal, sprachlich und auch thematisch. [...]."
Fränkische Nachrichten, Kultur (str) (24.08.2012)
"Neben der interessant gestalteten Beziehung zwischen Jesus und seiner Mutter war ich beim Lesen überrascht von dem Humor der mir entgegenschlug. Beinah unrespektierlich, ja sogar ohne Hemmungen beschreibt Klaas Huizing Jesus als ein Kind, welches begabt ist, aber doch auch so seine Probleme im Alltag hat. [] ...kann ich dieses Buch nur empfehlen. Vielleicht gelingt es dem Autor sogar, ganz neue Leserkreise für Jesus zu gewinnen!"
Bücher ändern leben, Christian Döring (02.08.2012)
Inhaltsverzeichnis
Der Gesprenkelte 8
Falsch gewickelt 12
Schönheitshungrig 16
Augenlächler 20
Der Räderesel 21
Jakobus und seine Brüder 23
Mater dolorosa 25
Jüdisch Brot 26
Buchstabentausch 31
Erster Auftritt 35
Mater dolorosa 40
Unter Gelehrten 41
Wutstau 44
Arche now 47
Huckepack 49
Die Saulskrankheit 50
Mirjam hilf 54
Höhlengleichnis 56
Töpferglaube 59
Eingemauert 60
Adamsklumpen 63
Honigmond 65
Nazarener Dachsturz 70
Mirjam hilf 75
Augenfieber 76
Mater dolorosa 77
Boxbeutel 79
Dreschschlittenfahrt 82
Bewerbungsgespräch 86
Nusscreme 88
Jonathans Fransen 90
Nachspielzeit 94
Trittbrettfahrer 95
Das Trinkergelübde 97
Mirjam hilf 101
Vorhof-Flimmern 102
Mater dolorosa 108
Pausenclown 110
Stütze 113
Gesellenprüfung 117
Neue Welt 119
Alles auf Honig 123
Barmherziger Römer 129
Mater dolorosa 133
Mirjam hilf 135
Wolkenkuckucksheim 136
Hosea redivivus 140
Jeschua hat den Blues 143
Mirjam hilf 146
Schiffschaukel 147
Mater dolorosa 152
Der Stein der Weisen 154
Der Säulenheilige 157
Wasserspiele in Sepphoris 160
Der Rucksackphilosoph 164
Spätheimkehrer 168
Hiebfest 173
Mirjam hilf 177
Herzschule 178
Leiharbeiter 180
Sprüche Jesu 184
Magda Carta 185
Nischenwissen 189
Bella Martha 194
Kleiner Mann 197
Blitzgescheit 199
Mater dolorosa 202
Mirjam hilf 204
Essen auf Rädern 205
In Gestalt eines Ebers 208
Sprüche Jesu 211
Bocksgesang 212
Abschiedsspiel 216
Mutterkorn 221
Johannesmonat 224
Sprüche und Gleichnisse Jesu 228
Mirjam hilf 230
Mater dolorosa 232
Dank 237
Leseprobe:
8 DER GESPRENKELTE
Ein mühsam unterdrückter Schrei.
So fing alles an.
Wahrscheinlich schlang ihre Mutter die Arme um sich, was sie
immer tat, wenn sie den Schmerz aus sich herauspressen wollte,
Blut stieg ihr dann ins Gesicht als würde sie sich schämen, ihre
Zehen verkrampften – ihre schönen geraden Zehen, um die sie
alle Frauen des Dorfes beneideten.
Versündige dich nicht! Nicht den Gesprenkelten! So erhör
doch mein Flehen!
Mirjam, die nah an die Fensteröffnung geschlichen war, spürte
wie ihr Pulsschlag so laut wurde, als könne sie damit das ganze
Dorf aufwecken. Sie war ganz Puls. Ein panischer Puls. Wie
sehnte sie sich danach, dass ihre Mutter ihren Kopf in ihre Hände
nähme und ihre Haare küsste.
Die Stimme ihres Vaters hatte etwas mühsam Beherrschtes,
einen schwarzen Unterton: Ich werde zum Gespött des ganzen
Dorfes, alle werden mich scheel anschauen. Und man wird dich
scheel anschauen. Und den Gesprenkelten wird man auch scheel
anschauen, weil er die Nähe unseres Töchterleins sucht, um sie
herumscharwenzelt, sobald sie sich auf dem Markt mit ihrer
Freundin blicken lässt.
In Mirjams linker Wade fing ein Nerv an zu zittern. Wie unzuverlässig
ihr Leib seit Wochen war. Sie hörte, wie ihre Mutter
versuchte den Vater zu besänftigen, der nach Luft rang, aber
unbeirrbar war: Es zählte zu deinen Pflichten, sie im Alltag zu
beschützen, Weib. Erinnere dich, wie ich dir ansagte, unser
Täubchen möge nicht ohne dich nach draußen gehen! Der Engel
wegen. Wer vermag es, unserem Täubchen in die Augen zu sehen,
ohne daran Wohlgefallen zu empfinden? Auch den Himmlischen
wird dieses so reine Antlitz nicht verborgen geblieben
sein. Auch den Himmlischen nicht!
Jetzt konnte ihr Vater seine Stimme kaum mäßigen. Eine Röte
flackerte über Mirjams Gesicht, eine Erinnerung an die zarte
Berührung des Fremden überfiel sie. Sie kniff sich in den Ober-
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arm, damit die Erinnerung verblasste. Gesegnet bist du unter den
Frauen. Dieser Satz gehörte jetzt ihr. Den konnte ihr niemand
mehr rauben.
Kurzatmig, den Tränen nahe, sprach jetzt ihr Vater: Meine
Mirjam tanzte vor den Himmlischen auf dem Erdenrund und
war ihnen angenehm. Wer von uns Sterblichen will es ihnen
verdenken! Wessen Herz bleibt unberührt, dem unsere Mirjam
einen scheuen Blick gönnt? Mein Täubchen, mein kleines, unschuldiges
Täubchen. Auf dich mussten Engel aufmerken! Warum
konnte ich nicht in deiner Nähe sein, warum gab ich dich
in die schlechte Obhut deiner unverständigen Mutter? Wo warst
du, Weib, als sie daselbst deines Schutzes bedurfte? Sag an, damit
dich der Grimm meines Zornes nicht länger trifft!
Mirjam hörte ein leises Wimmern. Dann ein flehentliches
Flüstern, das über den Erdboden zu ihr kroch: Aber der Gesprenkelte
ist die Frucht eines Götzenanbeters. Er ist verflucht
vom Mutterleibe an. Verrate unser Töchterchen nicht an den Gesprenkelten.
Ich flehe dich an! Versündige dich nicht.
Ihr Vater räusperte sich, schaffte Platz und verstaute seinen
Schmerz.
Es wird viel Unnützes geredet, Weib. Ich will dir die wahre
Geschichte erzählen, damit du wieder aufrecht gehen kannst und
dem Gesprenkelten fürderhin mehr Recht widerfahren lässt.
Mirjam schlug jetzt auch die Arme um sich. Eine heftige Erinnerung
an die Umarmung des Fremden durchfuhr sie. Schnell
ließ sie ihre Arme wieder sinken.
Gesegnet bist du unter den Frauen.
Ihr Vater hob an zu erzählen: Höre, Weib, Eliezer, der Vater
des Gesprenkelten, war ein oft zu Späßen aufgelegter Schafhirte,
der sich mit meinem Vater die kargen Weiden teilte. Kam er zu
Besuch, dann konnten wir Jungen es gar nicht erwarten, bis er
endlich anhob zu erzählen. Er war prall mit Geschichten gefüllt.
So fett wie sein Wanst, so triefend vor Fett war seine Erzählstimme,
die alle in den Bann schlug. Ich entsinne mich aber, wie er
einmal ganz verstört bei uns erschien, seltsam missgelaunt und
missmutig. Nichts erinnerte an den Geschichtenerzähler Eliezer.
Er habe, einer kleinen Wette mit einem anderen Schafhirt we-
10 gen, den alten Hirtentrick nachgestellt, den einst Jakob so klug
eingesetzt hatte. Du erinnerst doch die Geschichte, wie Jakob,
fern von zu Hause, seinem Onkel Laban, der ihn hintergangen
hatte, das Versprechen abrang, alle gesprenkelten Schafe aus einer
reinweißen Herde sollten künftig ihm gehören?
Mirjam nickte, so wie wahrscheinlich auch ihre Mutter nickte.
Wer kannte diese Jakob-Geschichten nicht! Mit ihrem Leib ging
eine kleine Verwandlung vor, nur in ihrer linken Handfläche
zuckte ganz vereinzelt noch ein Nerv, ihr Leib kam durch die
Erzählstimme ihres Vaters langsam zur Ruhe.
Also, so hob der Vater wieder an, Jakob, groß ist der Ruhm
dieses Mannes, wandte einen Trick an, nahm Äste von Pappeln,
schälte weiße Streifen, legte die gestreiften Äste in die Tränken,
und wenn dann die Tiere zum Trinken kamen, wo sie sich mit
Vorliebe begatteten, dann warfen diese reinweißen Muttertiere
später gesprenkelte Lämmer. Welch köstlicher Trick!
Mirjam hörte, wie ihr Vater kurz auflachte, dann schnell das
Lachen kassierte: Dieser Eliezer also wollte den Hirtentrick
nachstellen und wettete auf den Allmächtigen, aber wie er es
auch anpackte, es misslang ihm. Er nahm Pappeln, probierte
Haselsträucher, nichts glückte. Er verlor also die Wette, zahlte
seine Wettschulden, übergab seinen besten Widder an den anderen
Schäfer, der heimlich fremden Göttern opferte. Eliezer, der
trickreiche Eliezer, schien am Höchsten zu zweifeln. Ein anderer
in unserer Runde, der fromme Naphtal, gab ihm, vielleicht zum
Scherz, wer kann es wissen, den Rat, den Allmächtigen noch einmal
zu prüfen. Er möge doch eine gestreifte Pappelstange am
Rande seiner Schlafstatt platzieren und darauf starren, wenn er
seiner Frau beiwohne, dann werde er wahrlich die Macht des
Allmächtigen erleben. Wir hielten uns die Seiten vor Lachen. Oft
kreiste an diesem Abend der Weinbecher. Am Ende der Nacht
war auch der Lautenspieler zu betrunken, um noch aufzuspielen.
Mirjam rückte mit dem Ohr noch näher an die Fensteröffnung,
weil ihr Vater gluckste und dabei Silben verschluckte.
Erneut räusperte sich ihr Vater: Wir hatten die Geschichte
bereits vergessen, bis wir am Tag der Beschneidung des jüngsten
Sprosses des Eliezer dieses gesprenkelten Knaben ansichtig
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wurden, ein am ganzen Körper mit weißen Flecken geschecktes
Menschenkind. Der Allmächtige hatte sein Urteil gesprochen.
Nie kam darauf in geselliger Runde jemals die Rede. Naphtal
wurde ein frommer Einsiedler, mein Vater löschte die Geschichte
aus seinem Gedächtnis, Eliezer aber verstummte, schenkte
seinem Sohn nie den Segen, schämte sich ob seines Aussehens,
verstarb im nächsten Frühjahr. Wir aber gewöhnten uns an den
Gescheckten. Und auch ich schwieg, wenn wieder einmal die
Rede ging, der Gescheckte büße mit seinem Aussehen für die
Sünden, die er bereits im Mutterleib begangen habe. Die Weiber
erzählten sich, als Ungeborener habe der Gesprenkelte gegen
den Bauch getreten, wenn seine Mutter in Kana an einem
heidnischen Heiligtum vorbeiging, als wolle er sich dort verneigen.
Weibergeschwätz. Woher sollten auch die törichten Weiber
wissen, welche Bewandtnis sein Aussehen hatte? Höre, Weib: Ist
der Gescheckte nicht vielmehr ein Zeichen dafür, dass dem Allmächtigen
alles möglich ist und wir seinen Namen nicht unnütz
im Munde führen sollen? Ist der Gesprenkelte nicht Unterpfand
für die große Macht des Höchsten? Und ist der Gesprenkelte
vom Allmächtigen vielleicht sogar einzig dazu geschaffen worden
unsere, deine und auch meine Schmach zu lindern?
Mirjam fuhr mit ihrer Zunge über ihre gesprungenen Lippen.
Der Gesprenkelte. Der Gesprenkelte würde es sein. Sie würde ihm
gehören.
Höre, Weib, der Gesprenkelte muss unser Täubchen zum
Weib erwählen, damit niemand die Scham unserer Familie aufdeckt.
Ein schmaler Brautpreis wird den Argwohn mildern, warum
er so plötzlich in der Gunst unserer Mirjam gestiegen ist.
Beeilen wir uns, damit er schnell das Täubchen erkennt und die
Schande von uns ferngehalten wird. Du aber trage künftig besser
Sorge um unsere anderen Töchter.
Ihre Mutter?
Nur ein leises Murmeln war zu hören.
Mirjam nickte. Der Gescheckte würde ihr Mann werden. Aber
was bedeutete das schon! Sie trug Jeschua unter ihrem Herzen.
Du bist gesegnet unter den Frauen, flüsterte Mirjam.
12 FALSCH GEWICKELT
Du bist gesegnet unter den Frauen.
Sie hatte sich eine Rosenmalve ins Haar geflochten. So übermütig
fühlte sie sich. Später würde sie eine kräftige Suppe kochen
und die gesammelten Malvenblätter untermischen. Und etwas
Zwergzichorie beifügen. Der Gesprenkelte mochte den leicht
bitteren Geschmack. Vielleicht würde sie aus Koriander und Honig
eine Nachspeise zubereiten, so süß wie Honigkuchen.
Manna, Weib, so muss das himmlische Manna unseren Vorfahren
in der Wüste geschmeckt haben, wird der Gesprenkelte
dann ausrufen, wird versuchen seinem Gesicht einen Ausdruck
von Zufriedenheit zu entlocken, seine schweren Lider schließen
und sich für Augenblicke in ein glückliches Kind zurück verwandeln.
Dieses Bild ließ Mirjam zum Weidenkorb eilen, in dem Jeschua
schlief. Aber dann duckte sich die gute Laune weg. Jeschua
lag in seinem Körbchen, hatte sich freigestrampelt, die Wickelbänder
lagen am Fußende, er schlug die Augen auf, streckte seine
Arme aus und lächelte sie an.
Jeschua, stammelte Mirjam, rieb sich über das Gesicht: Was
tust du? Wie geschieht mir! Ich habe die Enden der Bänder doch
ganz fest verknotet!
Sie öffnete ihre Arme, um ihn aufzunehmen, zögerte kurz,
hob ihn dann hoch, legte seinen Kopf unter ihr Kinn und herzte
ihn, als wolle sie ihn für alle künftigen Leiden, die die Welt
für ihn bereit hielt, vorab trösten, und als würde sie selbst den
Schmerz proben, den sie wegen dieses Knaben würde ertragen
müssen.
Gestern noch war sie ihre Freundin Deborah um Rat angegangen,
hatte ihr zugesehen, wie sie ihren Sohn, nachdem er gebadet
worden war, die Wickelbänder anlegte, um Verkrümmungen
vorzubeugen.
Deborah, die Schultern leicht schaukelnd, hatte mit verstellter
Stimme gesagt: Der Allmächtige hat uns als seine Ebenbilder
geschaffen, deshalb müssen wir Menschenkinder demütig, aber
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doch aufrecht gehen, und dürfen nicht wie die Tiere mit dem
Kopf am Erdboden verbleiben.
Dann hatte sich ihr Lächeln durch ihr Gesicht gearbeitet, Mirjam
hatte auf die starken Oberzähne gestarrt, als müsse sie den
Text dort ablesen: Wir wollen doch starke und gerade Söhne aufziehen.
Mein Elias ist offenbar falsch gewickelt worden, oft läuft
er krumm wie eine Zeder, die sich ächzend im Nordwind biegt.
Mein Gesprenkelter gleicht einem gescheckten Jakob-Lamm,
aber er ist wenigstens lotrecht.
Mirjam umarmte Deborah. Deborah rieb ihr den Rücken, legte
ihr dann beide Hände auf die Schulter: Gib acht, du darfst die
Wickelbänder nicht zu stark festzurren, sonst läuft dein Jeschua
wohlmöglich noch blau an, erntet blaue Flecken und wird der
blau Gesprenkelte. Ein Gesprenkelter im Dorf reicht hin.
Mirjam spreizte ihre Zehen in ihren Sandalen, so kräftig
schüttelte sie das Lachen: Und wie prüfst du die Festigkeit der
Wickelbänder?
Ich nehme einen Löffel und fahre behutsam mit dem Stiel
unter die Wickelbänder. Mein Jonathan ballt dann immer die
Fäustchen und gickert und gluckst, dass es eine Freude ist ihm
zuzuschauen. Wenn dein Jeschua sich frei strampelt, dann hast
du ihn vielleicht nicht straff genug gewickelt. Oder binde in der
nächsten Nacht einen festen Knoten. Den kann auch dein Jeschua
nicht überlisten.
Doch. Ihr Jeschua konnte offenbar auch einen Knoten überlisten.
Mirjam prüfte die Wickelbänder. Sie waren unbeschädigt,
sahen wie unbenutzt aus. Sie legte, um sich selbst zu beruhigen,
Jeschua an die Brust, genoss nur fahrig das Gefühl, wenn er die
Milch aus ihr heraussaugte. Sie hatte offenbar fette Milch, denn
Jeschua meldete sich in den Nächten nie. Sogar der Gesprenkelte
hatte einen Satz gesagt, den man als Lob deuten konnte. Und
Milchschorf, mit dem Jonathan zu kämpfen hatte, entdeckte
Mirjam an keiner Stelle seines Kopfes. Leise sang sie Jeschua ein
Lied vor, wiegte ihn minutenlang. Dann legte sie ihn wieder in
sein Körbchen, küsste ihn auf die Stirn, warf sich einen Schleier
um und rannte zu ihrer Freundin.
Noch bevor Mirjam etwas sagen konnte, erkannte Deborah
14 den Schrecken in ihrem Gesicht. Sie wartete, bis sich Mirjams
Atem beruhigte, entriss ihr dann die ersten Wörter. Knoten. Jeschua.
Wickelbänder. Grau die Worte. Mit beinahe unmerklichen
Lippenbewegungen presste sie hervor: Ich tauge nicht als
Mutter.
Dabei schaute sie an Deborahs Gesicht vorbei und senkte den
Blick.
Deborah hob mit zwei Fingern langsam Mirjams Kinn: Was
schämst du dich, meine Freundin, ich kenne keine Mutter, mich
eingeschlossen, die so innig mit ihrem eigenen Sohn verkehrt. Die
Farbe deiner Mutterliebe ist um so viel kräftiger als bei uns Gewöhnlichen.
Komm, wir werden den kleinen Jeschua überlisten.
Deborah zog Mirjam lachend nach draußen, sie passierten
auf halbem Weg den Gesprenkelten, der ihnen kopfschüttelnd
nachblickte.
Nadel und Faden, Mirjam!
Leicht verschwitzt stand Deborah vor dem Weidenkörbchen.
Mirjam spürte, wie die mühsam erkämpfte Fassung ins Wanken
geriet. Nadel und Faden? Stets beneidete sie die Ordnung,
die Deborah in ihrem Haus hielt. Drei Körbe musste sie durchwühlen,
bis sie endlich Nadel und Faden fand. Sie nahm sich in
diesem Augenblick vor, eine noch bessere Mutter zu werden und
noch sorgfältiger den Haushalt zu führen.
Hier, hier hast du Nadel und Faden.
Dann legten sie gemeinsam Jeschua die Wickelbänder an,
prüften mit einem Löffelstiel die Festigkeit der Bänder. Auch
Jeschua gickerte und gluckste und ballte die Fäustchen. Mit gedämpfter
Stimme sagte Deborah: Jetzt werden wir die Enden der
Bänder vernähen, so wie wir es immer bei einem Leichnam machen.
Mirjam erschrak über das Wort Leichnam sichtbar, traute sich
aber nicht etwas einzuwenden. Ihr Magen verkrampfte sich augenblicklich.
Sie nickte nur.
Fertig. Morgen in der Frühe werden wir wissen, ob dein Sohn
sich auch aus diesen vernähten Binden zu befreien versteht. Sollte
das der Fall sein, dann müssen wir den Rabbi um Rat angehen,
dann ist dein Sohn Jeschua anders als unsere Söhne.
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Ein plötzlicher Reizhusten überfiel Mirjam und zerstörte jeden
vernünftigen Satz, den sie eigentlich hätte sagen wollen.
Kurzatmig verabschiedete sie Deborah. Mirjams Nerven hielten
es kaum aus, so ersehnte sie den nächsten Morgen. Sie kämpfte
sich durch das Kochen, immer nach Jeschua schielend, strich den
Nachtisch, tastete sich durch die Gespräche mit dem Gesprenkelten,
der mit einem Freund einen neuen Bauauftrag gefeiert
hatte, ließ auch das Körbchen nicht aus dem Blick als der Gesprenkelte
sie verwohnte, blieb wach, nachdem der Gesprenkelte
schon nach dem ersten Krächzen eingeschlafen war. Sie setzte
sich neben das Körbchen und hielt mit aller Kraft Wache. Stunde
um Stunde behütete sie den Schlaf ihres Erstgeborenen. Dann
glaubte sie zu spüren, wie jemand ihr ganz sacht Fingerspitzen
auf die Augenlider legte. Ein leichter Geruch nach Rossminze,
der ihr wunderbar vertraut erschien.
Als sie mit dem ersten Hahnschrei erschrocken erwachte, fiel
ihr erster Blick auf Jeschua, der in seinem Körbchen mit den gelösten
Wickelbändern glücklich spielte.
Jeschua hatte sich frei gestrampelt. Hatte den Leichensack aufgetrennt.
Hatte Deborah und ihr eine Lehre erteilt.
Mirjam nahm die Wickelbänder. Ein Hauch von Rossminze.
Sie nickte, stand auf, machte Feuer, übergab die Wickelbänder
den Flammen.
Als am Morgen Deborah erschien, hatte Mirjam eine Ausrede
ersonnen: Auch Jeschua wird, das zeigt diese Nacht, ein lotrechter
Mensch werden. Kein Grund, sich Sorgen zu machen. Mein
Jeschua ist wie alle anderen Kinder auch. Den Rabbi müssen wir
also nicht behelligen.
Mehr sagte sie nicht, um nicht gegen das Gebot der Lüge zu
verstoßen.
Lotrecht. Sie nahm Deborah in den Arm.
Alles in schöner Ordnung!
Sie glaubte fest daran.
Alles in Ordnung.
16 SCHÖNHEITSHUNGRIG
Endlich Ordnung in allen Körben.
Den Brotofen geputzt.
Die Schilfmatte ausgebessert.
Alle Räume gefegt.
Die Lampen mit Öl aufgefüllt.
Das Fußwaschbecken gereinigt.
Jetzt noch die Truhe.
Ein heftiger Drang zu weinen packte Mirjam, als sie in der äußersten
Ecke ihrer großen Truhe ein kleines Leinsäckchen entdeckte.
Ihre Finger ertasteten einen Armreif, Glasperlen, einen
Ring mit einer Gemme. Alle Energie floh aus ihrem Körper, sie
sank neben der Truhe auf ihre Knie, fühlte ein scharfes Stechen
in ihren Nieren.
Vater, stammelte sie.
Wer durfte solch einen Vater sein eigen nennen! Wie oft hatte
sie auf seinem Schoß gesessen, wenn ihr Vater von seinen Geschäften
zurückkam: Schau doch, Weib, wie kräftig die Augen unser
Mirjam leuchten, wie das Auge eines teuren Metalls. An dich,
Kind, muss der Dichter gedacht haben, als er schrieb: Dein Haar
ist wie eine Ziegenherde, die vom Gileadgebirge herabstürmt.
Dann hatte er sie gestreichelt, auf den Schenkeln geschaukelt
und geherzt, bis die Mutter zum Essen rief. Ihr Vater kitzelte sie
noch einmal ganz ausgelassen, als sei der Ruf gar nicht an sein
Ohr gedrungen, küsste sie mit hochrotem Kopf, denn das Toben
forderte seinen Tribut, dann hockten sie sich zum Essen hin. Sofort
kehrten die Sorgen in sein Gesicht zurück.
Häufig brachte er ihr Glasperlen von seinen Reisen mit, einmal
sogar einen Armreif, den ihre Mutter ihr verbot zu tragen,
sichtbar erzürnt, sie sei zu jung, Menschen seien missliebig, mit
dem Armreif herausgeputzt wirke sie aufreizend wie eine Hure,
die sich schamlos den Blicken darbiete. Offenbar sei ein böser
Geist in ihren Vater gefahren, der ihn veranlasse solch verderbliche
Geschenke mitzubringen. Es sei besser, ihr Vater würde sich
ein Auge ausreißen, als auf diesem Weg fortzufahren: Der All-
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mächtige gebe, dass er künftig seinen unreinen Mund geschlossen
hält und das falsche Lob wegsperrt. Und du, Tochter, verschließe
du künftig deine Ohren, wenn ein böser Dämon deinen
Vater heimsucht. Schätze dich glücklich, dass ich so acht auf dich
gebe! Mäßige also deinen Mutwillen!
Mirjam, sie erinnerte sich genau, hatte die Worte ihrer Mutter
damals nicht richtig deuten können, hatte sich gefügt, sich ein
Leinsäckchen genäht und den Armreif und die Glasperlen darin
verwahrt.
Noch immer lag das Leinsäckchen auf ihrem Schoß. Als ihr
Zeigefinger die Gemme ertastete, drängten sich andere Bilder
nach vorn.
Als einmal ihre Mutter einen der seltenen Besuche bei einer
Schwägerin in Bethsaida machte und sie mit ihrem Vater allein
war, fielen alle Nöte von ihm ab, er summte ausgelassen ein Lied,
hörte gar nicht auf sie zu schaukeln und zu kitzeln, küsste sie
auf die Augen, biss ihr in die Ohrläppchen, nannte sie auserkoren
aus den Menschenkindern, steckte ihr sogar einen Ring mit
einer Gemme an den Finger, hieß sie vor ihm zu tanzen, damit
er sich entspanne, und sie hatte sich gedreht und gedreht, war
ausgelassen dem Schwung ihres Körpers gefolgt, ihr Vater hatte
hörbar geschnauft und laut gerufen: Es freut sich mein Herz, es
jauchzt meine Leber, dann war er ganz plötzlich aufgestanden
und war mit schnellen Schritten in den Innenhof verschwunden
und zur Latrine geeilt. Sie aber hatte den Ring geküsst, dann in
ihrem Leinsäckchen verschwinden lassen.
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