lehrerbibliothek.deDatenschutzerklärung
Kritik der neomythischen Vernunft Band 3 Die Fiktionen der science auf dem Wege in das 21. Jahrhundert
Kritik der neomythischen Vernunft Band 3
Die Fiktionen der science auf dem Wege in das 21. Jahrhundert




Linus Hauser

Reihe: Kritik der neomythischen Vernunft


Schöningh Wissenschaft
EAN: 9783506781970 (ISBN: 3-506-78197-9)
633 Seiten, hardcover, 16 x 24cm, 2016

EUR 138,00
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Stimmen zum ersten Band

"...schon jetzt lässt sich sagen, daß Hausers Buch ein ganzes Forschungsfeld wenn nicht eröffnet, so doch besser erschließbar gemacht hat. [...] Es nimmt von vornherein für das Unternehmen von Linus Hauser ein, daß es vorschnelle Identifizierungen und Totalisierungen vermeidet und auf klare Differenzierung setzt." Stephan Breuer, FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG

"Hausers Arbeit stellt einen der bedeutendsten religionswissenschaftlichen Beiträge der nachmarxistischen Ära dar." Eckard Nordhofen, DIE ZEIT

Der Autor:

Linus Hauser, Prof. Dr. phil., geb. 1950, ist Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Gießen.
Rezension
Mit Band III schließt Linus Hauser die 'Kritik der neomythischen Vernunft' ab, zweifellos, wie er schreibt, sein 'Lebenswerk' (Band III, 559). Band I war 2004 unter dem Titel 'Menschen als Götter der Erde. 1800 - 1945', Band II im Jahr 2009 mit dem Titel 'Neomythen der beruhigten Endlichkeit. Die Zeit ab 1945' erschienen. Jetzt also Band III: 'Die Fiktionen der science (sic!) auf dem Wege in das 21. Jahrhundert'. Alles in allem umfasst Hausers Trilogie fast 2000 Seiten, keine Lektüre also, die man eben mal schnell hinter sich bringen könnte, jedenfalls nicht, wenn man sich intensiver mit dem Werk befassen will.

Die 'Kritik der neomythischen Vernunft' ist vor allem ein weit gespanntes, oft vermeintlich und manchmal tatsächlich entlegene Inhalte referierendes Kompendium, das eine auf den ersten Blick unübersehbare Fülle an Materialien vor seinen Lesern ausbreitet. Vom Geisterglauben des 19. Jahrhunderts über Petrovna Blavatsky, Hitlers krude Weltanschauungen, Ayn Rands Riesenroman 'Wer ist John Galt?' (neu auf Deutsch 2012 als 'Der Streik'), philosophische Ansätze (Wittgenstein, Popper, Fleck, Kuhn, Toulmin und viele andere mehr), die Fülle der Sciencefiction-Literatur, die Sinn-Universen von Star Trek und Star Wars, Ron Hubbards Scientology-Bewegung, die New-Age-Philosophen (Trevelyan, Capra) und Wissenschaftler wie Hermann Oberth, Carl Sagan und Steven Hawking spannt sich der Bogen bis zur Präastronautik Erich von Dänikens.

Staunend und kopfschüttelnd erfährt man von Mesmerismus, Spiritismus, Emanationismus, Nordismus und Katastrophismus, von Ariosophie und Reinkarnationsglaube, von Theagenesis, dem Chaos Cult of Cthulhu 33, vom Cosmologic Turn, von Burrell Cannons Ezechiel Airship, von Uraniden, vom UFO-Kult und vom totalitären Hindunationalismus und dessen präastronautischer Interpretation der Nationalepen Bhagavadgita und Mahabharata.

Diese Fülle erschließt sich jedoch schnell, wenn man sich Hausers Ansatz zu eigen gemacht hat. Hauser geht davon aus, dass alle, Gläubige wie Atheisten, Wissenschaftler wie Techniker und Fromme wie Zyniker heute vor der Aufgabe stehen, sich mit vier großen metaphysischen Orientierungsaufgaben auseinanderzusetzen und ein eigenes Verhältnis dazu zu finden: Der kopernikanischen (der Mensch ist nicht Zentrum des Universums), der darwinischen (wir stammen aus dem Tierreich und entwickeln uns), der freudianischen (wir sind nicht Herr unserer selbst und können uns nicht vollständig aufklären) und der androidischen Orientierungsaufgabe (die elektronischen Maschinen machen uns zunehmend Konkurrenz). Nicht zuletzt, weil die tradierten Welterklärungen in Gestalt der Religionen weithin an Überzeugungskraft verloren haben, und es etwa der christlichen Theologie bislang nicht gelungen ist, überzeugende Antworten auf die genannten Herausforderungen zu finden, ist ein kaum zu überblickendes Spektrum von unorthodoxen, fantastischen und abwegigen Welterklärungen und Lebensdeutungen entstanden, das also, was Hauser 'Neomythen' nennt. Metaphysische Bedürfnisse sind auch in nachmetapyhsischen Zeiten weiterhin vorhanden und die Antworten darauf besitzen ihre eigene Vernunft.

Hausers etwas sperrige Definition der Neomythen: "Religionsförmige Neomythen sind ein kulturelles und individuelles Sich-Beziehen auf Endlichkeit ohne Bewusstsein ihrer Radikalität und im Bewusstsein der realen Aufhebung derselben durch das Handeln des Menschen oder anderer endlicher Mächte" (Band I, 55) findet sich anschaulich (aber noch ohne den späteren Bezug der Neomythen auf den Kosmos überhaupt) in der Titelformulierung von Band 1: "Menschen als Götter der Erde". Oder noch einmal anders gesagt: Neomythen sind Weltdeutungen ohne einen Begriff von nicht einholbarer Transzendenz und absoluter Endlichkeit und sie können ihren Anspruch auf umfassende Weltdeutung deshalb laut Hauser nicht einlösen. Sein fester Punkt, von der aus er das Weltanschauungsgewimmel kritisiert, sind letztlich der Glaube und die Theologie des Christentums. (Vgl. Hauser auf Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=HRjpc45gChU).

Band III, der Gegenstand dieser Besprechung ist, weist diese Neomythen vor allem im Bereich der gegenwärtigen Naturwissenschaften nach. Es genügt zunächst einmal, der Argumentation paradigmatisch an einem Beispiel aus § 31 (Raumfahrtwissenschaftler als Propheten) zu folgen. Betrachten wir Hermann Oberth, den 'Vater der deutschen Raumfahrtwissenschaft'. Nach einer kurzen biografischen Skizze setzt sich Hauser mit Oberths Philosophie auseinander, vor allem mit dessen Buch 'Katechismus der Uraniden'. Auf der einen Seite ist Oberth einer der Pioniere und Wegbereiter der Weltraumforschung, auf der anderen Seite verliert er sich in seinen Schriften in einen obskuren UFO-Glauben. Schea Tal Wir, ein Wesen von einem anderen Planeten, ein Uranide, übermittle ihm die Erkenntnisse, die er den Menschen weitergebe. So sei die Erde ein 'Besserungs- und Übungsplanet' (Band III, 312), der mit seinen menschlichen Bewohnern von einer außerirdischen Vorsehung immer wieder auf den rechten Weg gebracht werde.

Universales wissenschaftliches Denken und eine partikuläre, abwegige Lebensphilosophie sind nicht nur bei Oberth auf merkwürdige Weise ineinander verquickt, eine Tatsache, auf die Hauser durchgehend hinweist, wenn er analog zu Oberth zahlreiche andere Wissenschaftsgrößen und ihre Weltanschauungen vorstellt. Er nennt diese Formen der Weltdeutung 'wissenschaftsförmige Kolportage'. Die Faszination wie Gefährlichkeit der neomythischen Denkwelten und ihrer 'wissenschaftsförmigen Kolportage' liegt genau in der dogmatisch beanspruchten und vollmundig vertretenen vermeintlichen Objektivität und Wissenschaftlichkeit, in deren Glanz dann philosophisch wie theologisch Unfug aller Art unter die Leute gebracht wird. Ein prominentes Beispiel dafür ist etwa Richard Dawkins ('Der Gotteswahn'), dessen wissenschaftliche Verdienste unbestritten sind, dem man aber dennoch ohne Einschränkung vorwerfen kann: "dass er ein philosophischer Laie ist und jede metaphysische Tiefe, die erst einen Einblick in die Traditionen der Religionen ermöglicht, vermissen lässt." (III, 460). Auch Stephen Hawking wäre zu nennen, der über sein physikalisches Fachgebiet hinaus den Sinn des ganzen Kosmos zu erklären sucht. (Vgl. auch Hausers Hawking-Kritik auf Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=wqKI0T5rhBM).

Das große Verdienst von Hauser liegt im Aufweis der Tatsache, dass Wissenschaft Mythologie sein kann, dass Neomythen ihre eigene Vernunft besitzen und dass diese Vernunft partikulärer Natur ist und deshalb einer Kritik unterzogen werden muss. Wer unter 'Sekten' nur die üblichen Verdächtigen subsumiert, die Gegenstand der kirchlichen Beratungsstellen für Weltanschauungsfragen sind (wie etwa die Scientologen), übersieht einen Großteil der religionsförmigen Auffassungen, die den Zeitgeist bestimmen und weit gefährlicher werden können als einzelne Sekten. Ihre Popularität und ihr Einfluss in der medial bestimmten Öffentlichkeit ist sehr viel größer, als es der akademischen Theologie bewusst sein dürfte. So breit Hauser sein Werk angelegt hat: es beansprucht weder Vollständigkeit, noch kann es die dargestellten Phänomene immer in der nötigen Tiefe analysieren. Aber schon der erste Aufriss stellt einen theologischen Perspektivenwechsel dar, weil es dem trivialen, fantastischen und mythischen Denken nicht von vornherein mit Ablehnung begegnet, sondern es in seiner reale Biografien bestimmenden Prägekraft zur Kenntnis nimmt. Was diesem Überblick allerdings abgeht, ist eine stärkere und systematisch begründete Gewichtung und Priorisierung der behandelten Neomythen. So kommt beispielsweise der Transhumanismus, der die Visionen von künstlicher Intelligenz, die Denkweise der Technik-Eliten in Kalifornien und Europa und die Zukunftshoffnungen auch breiterer Bevölkerungsschichten maßgeblich mitbestimmt, viel zu kurz, während dem inzwischen doch etwas angestaubten Erich von Däniken und seiner Weltsicht breiter Raum eingeräumt wird.

Jedoch: einer allein kann in seiner beschränkten Lebenszeit nicht alles leisten. Das entgegnet Hauser in seinem Nachwort auch seinen Kritikern, die einfordern, dass nun eigentlich "eine theologische Aufarbeitung des Phänomens den Abschluss des dritten Bandes bilden müsste" (III, 561). Diese Aufarbeitung fehlt. Auch wenn man Hausers Erklärung akzeptiert, ist die von Anfang an in seinem Werk fehlende Rückbindung an das gegenwärtige theologische Denken auffällig. Der akademischen Theologie mögen die Neomythen suspekt erscheinen und nur als Randphänomene wahrgenommen werden, ganz ohne Ansätze und Antwortversuche dürfte sie dennoch nicht sein. Hausers analytisches Instrumentarium leistet offenbar nicht genug, um die mögliche und notwendige Anbindung an schöpfungstheologische, christologische, eschatologische und anthropologische Ansätze herauszufordern. Das mag die letztlich doch magere Rezeption seines Werkes in fachtheologischen Kreisen mit erklären.

Ungeachtet dieser Einschränkungen hat die 'Kritik der neomythischen Vernunft' ein breiteres Interesse verdient und sei es zunächst auch nur schmökernder Weise: dieses Werk ist über weite Strecken höchst unterhaltsam. Wer die Hausersche Brille aufsetzt, verlässt die eigenen Ordnungsstrukturen und erfährt, in was für unterschiedlichen Sinnwelten Menschen unterwegs sind und wie sie sich darin verorten, und dass im Grunde immer die Sehnsucht nach gelingendem Leben, nach Dauer und nach einer umfassenden Sicht der Dinge diese 'mythischen' Bemühungen antreibt. Eine für Religionspädagogen wichtige Einsicht der Lektüre besteht überdies darin, Science-Fiction-Romane, filmische Space-Operas und populärwissenschaftliche Zukunftsvisionen mit anderen Augen zu sehen: Auch sie sind Teil unserer Bemühungen, mit uns selbst, der Welt und unserem Ort im Kosmos zurechtzukommen. Das Interesse Jugendlicher an solchen spekulativen Entwürfen ist bekannt.

A propos 'schmökern': Der vom Verlag sicherlich genau kalkulierte Preis von Band III, 138 Euro, ist ein großes Hindernis für die breitere Lektüre. Vermutlich wird nur helfen, Fachschaften, religionspädagogischen Bibliotheken und etwaigen Mäzenen dringlich anzuraten, das Geld dafür im Interesse der Weiterbildung der Lehrkräfte und als Bezugsgröße für einen aktuellen und schülerbezogenen Religionsunterrichtes auszugeben.


Matthias Wörther, lehrerbibliothek.de


PS: Hier noch die formale Nörgelecke, die NICHT als substantieller Teil der Besprechung zu verstehen ist:

1) Das ausführliche Inhaltsverzeichnis ist zwar hilfreich für einen schnellen Zugriff, hätte aber deutlich übersichtlicher gesetzt werden können.
2) Dasselbe gilt für das Literaturverzeichnis. Immer wieder verliert man das Alphabet und glaubt sich im Buchstaben D, weil eine lange Reihe von Ders. aus dem Blick geraten lässt, dass man schon bei M oder N ist.
3) Der Sinn des Wechsels zu in kleinerer Schrift gesetzten Abschnitten hat sich mir nicht erschlossen.
4) Ein Personen- und Sachregister für alle drei Bände wäre schön.
5) Wer wird ellenlange kryptische URLs wie etwa im Literaturverzeichnis bei 'Hasted, J., The Metal Benders' (III, 604) eingeben, um sie zu nutzen oder zu überprüfen? Ich weiß allerdings auch nicht, wie man es in einem gedruckten Buch anders machen sollte. Im Übrigen ist es mir nicht gelungen, die so aufwändig nachgewiesene Internetedition tatsächlich im Netz aufzufinden. Bei books.google.de ist sie sicher nicht vorhanden. Als antiquarisches Buch wird es etwa von eurobuch.com sofort nachgewiesen.



Verlagsinfo
Auch in den Chefetagen der Wissenschaft finden neomythische Allmachtsfantasien statt. Nobelpreisträger träumen von einer – vom kosmischen Geist durchdrungenen – Quantensphäre und Begründer der Raumfahrt stellen Überlegungen an, die die Gedanken Erich von Dänikens vorwegnehmen.
Prominente Vertreter der Wissenschaftselite haben eine Vielzahl von vermeintlich wissenschaftlich begründeten Weltanschauungen aufgestellt.
Ausgehend von Neomythen innerhalb der Wissenschaftselite wird dargestellt, wie eine in populären Sachbüchern beginnende Rezeption von wissenschaftsförmigen Neomythen in der Öffentlichkeit stattfindet. Seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts beginnt sich eine neue, zukunftsträchtige Form der szientistischen Esoterik herauszubilden, die eugenische und totalitäre Fantasien beinhaltet.
Dieser Band beschließt die Kritik der neomythischen Vernunft mit dem Aufweis, auf welchem dünnen Eis eine Vernunft der modernen Wissenschaft steht, die sich von erkenntnistheoretischen Reflexionen löst und dabei religionsförmigen Projektionen erliegt. Damit erweisen sich die populären Neomythen des Alltags, die in den ersten beiden Bänden dargestellt wurden, keinesfalls als Randphänomene, denen man mit Schmunzeln begegnen darf.
Inhaltsverzeichnis
(sehr ausführlich, hier nur die Hauptteile, detailliert unter https://www.schoeningh.de/uploads/tx_mbooks/9783506781970_iv.pdf, eine Leseprobe des Buches findet sich unter https://www.schoeningh.de/uploads/tx_mbooks/9783506781970_leseprobe.pdf)

Vorwort ... 15
Einführung in den dritten Band: Begriffliche Grundlagen ... 17
Achter Hauptteil: Quantenpyhsik - Quantenmetaphysik - Quantentherapie
Neunter Hauptteil: Suche nach Geborgenheit im Kosmos - Aufbrüche in den Weltraum ... 225
Zehnter Hauptteil: Präastronautik - Die Systemesoterik des 21. Jahrhunderts ... 449
Schlusswort: Begrifflicher Zusammenhang der drei Bände ... 559
Biografische Informationen zum dritten Band ... 573
Bibliografie der Rezensionen zur Kritik der neomythischen Vernunft ... 633