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Komplexitäten. Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen  edition unseld
Komplexitäten. Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen


edition unseld

Sandra Mitchell

Reihe: edition unseld


Suhrkamp
EAN: 9783518260012 (ISBN: 3-518-26001-4)
174 Seiten, paperback, 11 x 18cm, 2008

EUR 10,00
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Eine neue Herausforderung für die Wissenschaft: Die Welt ist komplex, also sollten es auch unsere Vorstellungen von ihr sein. Die Naturwissenschaften haben traditionell nach einfachen, universalen und zeitlosen Gesetzen gesucht. Aber dieses Unternehmen ist gescheitert. Die Autorin zeigt, daß uns die Kompleität der lebendigen Welt dazu zwingt, unsere Denkmodelle radikal zu revidieren.

Sandra Mitchell, Professorin für Wissenschaftstheorie und -geschichte an der University of Pittsburgh.

"Es wäre anmaßend zu glauben, es gebe nur eine einzige wahre Vorstellung von der Welt, die deren natürliche Arten vollkommen abbilden würde. Jede Vorstellung ist bestenfalls auf einen Ausschnitt bezogen, idealisierend und abstrakt."
Rezension
Das Wissen um die Komplexität der Welt war zumindest in dem Sinn nie verloren gegangen, dass Philosophen und Theologen, aber auch viele Biologen, Botaniker und andere Naturwissenschaftler der Überzeugung blieben, weder die Welt noch die Natur ließen sich jemals vollständig erklären.Trotzdem war das lange vorherrschende und immer noch dominante wissenschaftliche Paradigma durch die Begriffe Allgemeingültigkeit, Determinismus, Einfachheit und Einheitlichkeit bestimmt. Dieses Paradigma war und ist auf der Suche nach einer ''Weltformel', einer Theorie also, mit deren Hilfe sich gewissermaßen alles erklären ließe.
Sandra Mitchell wählt einen anderen Ansatz: "Ich werde mich für einen pluralistisch-realistischen Ansatz in der Ontologie einsetzen; das heißt nicht, daß es mehrere Welten gäbe, aber es gibt mehrere richtige Wege, unsere Welt zu analysieren ..." (23)
Ausgehend vom Krankheitsbild Depression legt sie dar, dass sich die wenigsten Wirklichkeiten von einem Ansatz und einer Sichtweise her erklären lassen. Immer spielen mehrere Faktoren zusammen, so dass beispielsweise bei einer Depression eben nicht nur genetische und chemische, sondern auch psychologische und gesellschaftliche Ursachen in Rechnung zu stellen sind. Erklärungen nur von einer Sichtweise her, etwa der psychologischen, werden dem Phänomen Depression nicht gerecht.
Dasselbe gilt auch für die Natur, in der eine positivistische Naturwissenschaft alles auf deterministische Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zurückführen wollte. In einer komplexen Welt gibt es komplexe Verursachungen und dynamische Entwicklungen, bei denen von einer ersten Ursache her nicht zwingend vorausgesagt werden kann, zu welchem Ergebnis und zu welchen Wirkungen der sich daraus entwickelnde Prozess später führen wird.
Mitchell plädiert deshalb für einen neuen Ansatz, den sie 'integrativen Pluralismus' nennt. Gerade angesichts hochkomplexer Phänomene wie der globalen Erwärmung sei es zwingend geboten, vielperspektivische Modelle des möglichen Geschehens zu entwickeln, um auf die Dynamik der Prozesse einigermaßen angemessen reagieren zu können: "Insbesondere wenn es darum geht, wie sich die Komplexität auf unsere Pläne und Handlungsweisen auswirkt, kann das Festhalten an leichter handhabbaren sicheren Überzeugungen zur Katastrophe führen." (151)
Mitchells Ausführungen sind für jeden von großem Interesse, der zwar offen für den Fortschritt ist, gleichzeitig aber schon immer ein Unbehagen an der Dominanz und der Apodiktik naturwissenschaftlicher Erklärungsmodelle hatte. Offenbar zeichnen sich in der Wissenschaftstheorie Entwicklungen ab, die zu einer neuen Bewertung der Kontingenz der Welt und des 'Seins' der Natur führen und damit auch neue Annäherungen zwischen Naturwissenschaft und beispielsweise der Theologie denkbar werden. Kontingenz ist im religiösen Denken immer schon ein handlungsleitender Begriff gewesen, ebenso wie die Natur als etwas begriffen wurde, das sich einer vollständigen Erschließung durch den Menschen entzieht. In der Sprache der Wissenschaftstheorie: auch ein Pluralismus von Erklärungen liefert keine vollständige Abbildung des Phänomens, sondern allenfalls eine hinreichende.
Obwohl Mitchell in ihrem Buch anspruchsvolle wissenschaftstheoretische Überlegungen anstellt, werden sie durch ihre transparente Sprache und die immer wieder angeführten anschaulichen Beispiele auch für wissenschaftstheoretisch wenig vorgebildete Leserinnen und Leser verständlich. Die Lektüre sei allen dringlich empfohlen, die sich Gedanken darüber machen, ob und wie in unserer unübersichtlichen und überkomplexen Welt überhaupt noch verantwortlich entschieden und gehandelt werden kann.

Matthias Wörther, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Eine neue Herausforderung für die Wissenschaft: Die Welt ist komplex, also sollten es auch unsere Vorstellungen von ihr sein. Viele Disziplinen der Geistes- und Sozialwissenschaften haben sich lange an diese Maxime gehalten. Die Naturwissenschaften aber haben traditionell nach einfachen, universalen und zeitlosen Gesetzen gesucht. Damit wollten sie die »schwirrende Verwirrung« (»blooming, buzzing confusion«, William James) erklären, die die ungeschulten Sinne dem Geist präsentieren. Aber dieses Unternehmen ist gescheitert. Sandra Mitchell zeigt, daß uns die Komplexität der lebendigen Welt dazu zwingt, unsere Denkmodelle radikal zu revidieren und nach einer adäquateren Erkenntnislehre zu suchen. Dazu hat die Systemtheorie Vorgaben geliefert, die seit einigen Jahren von der Komplexitätstheorie spezifiziert worden sind. Komplexe Systeme – wie die Welt, in der wir leben – zeichnen sich unter anderem durch Emergenz und Relationen aus: Was auf der Makroebene sichtbar wird, ist erst durch Wechselwirkungen zwischen den Elementen des Systems zu erklären. Wohin zum Beispiel ein Vogelschwarm fliegt, hängt nicht nur von den Individuen ab, sondern vor allem von Feedbackprozessen zwischen ihnen. Mitchell fordert deshalb: Wer die Welt verstehen will, muß auch verstehen lernen, warum das Ganze tatsächlich mehr ist als die Summe der einzelnen Teile.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort und Danksagung 9
Ein Fall von Komplexität 11
Newtonsches Weltbild und integrativer Pluralismus 19
Warum wir unser Naturverständnis ändern sollten 30
Organisation auf vielen Ebenen: Komposition und Kausalität 32
Vielfalt und Kontingenz in der Evolution 55
Zufälligkeit und natürliche Notwendigkeit 65
Notwendigkeit, Möglichkeit und das kontingente Universum 74
Wie wir die Welt untersuchen 81
Handlen in einer komplexen Welt 108
Robustheit in der Szenarienanalyse 117
Zusammenfassung 132
Pragmatische Überlegungen 148
Dynamische Überlegungen 150
Anmerkungen 155
Literaturnachweise 156
BIldnachweise 174