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Handbuch Bioethik  In Zusammenarbeit mit dem Deutschen Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften (DRZE)
Handbuch Bioethik


In Zusammenarbeit mit dem Deutschen Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften (DRZE)

Dieter Sturma, Bert Heinrichs (Hrsg.)

Verlag J. B. Metzler
EAN: 9783476023704 (ISBN: 3-476-02370-2)
493 Seiten, hardcover, 17 x 24cm, April, 2015

EUR 69,95
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Zu den Grenzfragen des Lebens. Bioethik - Feld intensiver Auseinandersetzung im fachwissenschaftlichen Diskurs und kontroverser Diskussionen in der breiten Öffentlichkeit. Das Handbuch erläutert die Grundlagen und gibt einen Überblick über Bereiche, in denen bioethische Fragen relevant sind, wie Menschenwürde, Leben, Tod und Krankheit. Daneben widmet es sich den speziellen bioethischen Problemen wie etwa Zulässigkeit von Sterbehilfe, Präimplantationsdiagnostik oder embryonaler Stammzellenforschung und zeigt die Schnittstellen der Bioethik zu anderen Disziplinen und gesellschaftlichen Bereichen auf (Bioethik in der Lehre, Biopolitik, Biorecht und Ethikkommissionen).

Dieter Sturma ist Professor für Philosophie unter besonderer Berücksichtigung der Ethik in den Biowissenschaften an der Universität Bonn, Direktor des Instituts für Wissenschaft und Ethik (IWE), Bonn, Direktor des Deutschen Referenzzentrums für Ethik in den Biowissenschaften (DRZE), Bonn sowie Gründungsdirektor des Instituts für Ethik in den Neurowissenschaften (INM-8) am Forschungszentrum Jülich.

Bert Heinrichs ist Professor für Ethik und Angewandte Ethik an der Universität Bonn sowie Arbeitsgruppenleiter im Institut für Ethik in den Neurowissenschaften (INM-8) am Forschungszentrum Jülich.
Rezension
Bioethik wird nicht nur in den Fachwissenschaften, sondern zunehmend auch in der Öffentlichkeit wahrgenommen und diskutiert. Die gediegenen Metzler-Handbücher bieten einen fundierten, kompetenten und vielperspektivischen Zugang auf das behandelte Thema und stellen den aktuellen Stand der Dinge zum Thema umfassend dar, so dass sich auch die Perspektiven für die weitere Behandlung der Thematik aufzeigen. Zum schnellen und kompetenten fachwissenschaftlichen Hintergrund eignen sich die einzelnen Artikel auch zur Unterrichtsvorbereitung in den Sekundarstufen. Das gilt auch für dieses neue interdisziplinäre "Handbuch Bioethik". Zunächst wird auf ca. 10 S. Hauptströmungen, Methoden und Disziplinen geklärt, dann folgenden auf ca. 170 S. zentrale Begriffe und Konzepte der Bioethik, bevor im Hauptteil Kap. 3 vielfältige bioethische Themen alphabetisch geordnet auf 250 je kompakt vorgestellt werden. Schnittstellen zu anderen Disziplinen und ein umfangreicher Anhang (vgl. Inhalstverezichnis) bilden den Abschluß. Die Bioethik stellt - in Verbindung mit der Medizinethik - die vielleicht größte derzeitige praktisch-ethische Herausforderung dar, die aufgrund ihrer unmittelbaren Anschlußfähigkeit an das Leben des Menschen auch gern im Ethik-, Gesellschaftskunde- oder Religionsunterricht thematisiert wird. Ziel der Bioethik als philosophischer Teildisziplin ist es, Kriterien zu formulieren, kritisch zu prüfen und zu begründen, mit deren Hilfe die Frage, welches Handeln moralisch verantwortbar ist, zu beantworten. Für viele bioethische Probleme gibt es keine Patentlösungen - diese werden der Komplexität des Lebens nicht gerecht.

Jens Walter, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Bioethik - Begriff, Geschichte, Themenfelder
Bioethische Themen: Genetik, vorgeburtliche Diagnostik, Forschung am Menschen, Palliativmedizin, Klimaschutz

Inhaltsverzeichnis
I. Bioethik – Hauptströmungen, Methoden und Disziplinen 1

II. Zentrale Begriffe und Konzepte der Bioethik 9


1 Argument der schiefen Ebene 9
2 Behinderung 13
3 Datenschutz 17
4 Dilemma 21
5 Diskriminierung 26
6 Empirie 31
7 Ethos 35
8 Gerechtigkeit 44
9 Güter und Güterabwägung 51
10 Informierte Einwilligung 58
11 Interessen und Interessenkonflikte 66
12 Kommerzialisierung 70
13 Konsens 76
14 Krankheit 82
15 Leben 91
16 Lebensqualität 98
17 Menschenwürde und Instrumentalisierung 102
18 Nachhaltigkeit 109
19 Natur 115
20 Paternalismus 122
21 Person 129
22 Prinzip der Doppelwirkung 136
23 Risiko 140
24 Technikfolgenabschätzung 147
25 Tod 154
26 Verantwortung 160
27 Werte 165
28 Zukünftige Generationen 174

III. Bioethische Themen 181

1 Alter/Altern 181
2 Arzneimittel 185
3 Ärztliche Berufsethik 189
4 Arzt-Patient-Verhältnis 194
5 Assistierte Reproduktion und vorgeburtliche Diagnostik 199
6 Bevölkerungswachstum und demographischer Wandel 209
7 Biobanken 214
8 Biodiversität 217
9 Chimären und Hybride 226
10 Demenz 231
11 Doping 239
12 Embryonen und Föten 245
13 Enhancement 249
14 Forschung am Menschen 254
15 Gender 262
16 Gentechnik in der Lebensmittelproduktion 266
17 Gentherapie 270
18 Gesundheit und Gerechtigkeit 275
19 Gesundheitskompetenz 280
20 Gesundheitsvorsorge 287
21 HIV/AIDS 293
22 Humangenomforschung 300
23 Intersex 307
24 Klimaschutz 312
25 Klonen 318
26 Landschaft 324
27 Leihmutterschaft 329
28 Nanotechnologie 333
29 Neuromedizin und Neurowissenschaften 338
30 Ökologie und Naturschutz 346
31 Palliativmedizin 354
32 Patentierung 358
33 Patientenverfügungen362
34 Pflege 366
35 Prädiktive Gentests 369
36 Robotik 373
37 Schwangerschaftsabbruch 378
38 Sexualität 383
39 Stammzellen 387
40 Sterbehilfe 394
41 Sucht und Abhängigkeit 401
42 Synthetische Biologie 406
43 Tiere 414
44 Transplantationsmedizin 421
45 Vulnerabilität 427
46 Wunscherfüllende Medizin 432

IV. Schnittstellen zu anderen Disziplinen und gesellschaftlichen Bereichen 439

1 Bioethik in der Lehre 439
2 Biopolitik 445
3 Biorecht 448
4 Ethikkommissionen in der Forschung 451
5 Ethikräte 455
6 Institutionalisierte ethische Beratung und Begutachtung 459
7 Klinische Ethikberatung 463
8 Kulturübergreifende Bioethik 467

V. Anhang 473

1 Auswahlbibliographie 473
2 Autorinnen und Autoren 478
3 Sachregister 481



Leseprobe:

I. Bioethik – Hauptströmungen, Methoden und Disziplinen

Definition und Begriffsgeschichte
Die Bioethik analysiert und bewertet den wissenschaftlich
vermittelten Umgang mit Leben. In ihren
Teildisziplinen, insbesondere in der Medizinethik,
Tierethik und Umweltethik, untersucht sie die Auswirkungen
wissenschaftlich-technischer Entwicklungen
auf einzelne Personen, die Gesellschaft sowie
auf andere Lebensformen und die Umwelt.
Das thematische Spektrum der Bioethik erstreckt
sich über das gesamte semantische Feld des Begriffs
›Leben‹ (gr. bios). Neben Problemen, die mit neuen
technischen Möglichkeiten in der Medizin verbunden
sind, hat sie sich mit Fragestellungen auseinanderzusetzen,
die sich auf einen ethisch angemessenen
Umgang mit Tieren sowie mit belebter und unbelebter
Natur insgesamt beziehen. Aufgrund seiner
Begriffsgeschichte wird der Ausdruck ›Bioethik‹ des
Öfteren mit medizinischer Bioethik gleichgesetzt.
Diese Verengung ist sachlich nicht haltbar. In der
Bioethik sind keineswegs nur Menschen Bezugspunkte
für Rücksichtnahme und Verpflichtungen,
vielmehr hat sie sich mit dem Leben insgesamt wie
mit seinen vielfältigen Erscheinungsformen auseinanderzusetzen.
Da sich die Bioethik mit einer Vielzahl
von wissenschaftlichen Erträgen und technischen
Eingriffsmöglichkeiten beschäftigt, leistet sie
in ihren jeweiligen Untersuchungen auch einen Beitrag
zur Weiterentwicklung des Menschenbildes und
des kulturellen Selbstverständnisses.
In der Ethik wird gemeinhin zwischen allgemeiner
Ethik bzw. Moralphilosophie, Metaethik und angewandter
Ethik unterschieden. Die Bioethik wird
der angewandten Ethik zugerechnet. Bioethische
Analysen berühren in entscheidenden Punkten aber
auch die Bereiche der allgemeinen Ethik und der Metaethik.
Die Bioethik ist vom Ansatz her interdisziplinär
verfasst. Wesentliche Beiträge zum interdisziplinären
Diskurs erfolgen aus der Medizin und den
naturwissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit
den unterschiedlichen Formen des Lebens beschäftigen,
sowie aus der Ethik, den Rechtswissenschaften
und normativen Bereichen der Sozialwissenschaften.
Erste Verwendungen des Begriffs ›Bio-Ethik‹ lassen
sich in deutschsprachigen Diskussionen der
1920er Jahre nachweisen (Jahr 1927). Ein direkter
begriffsgeschichtlicher Zusammenhang heutiger Verwendungsweisen
besteht mit medizinethischen Diskussionen
der Nachkriegszeit. Während der Ausdruck
›bioethics‹ in den USA von Van Rensellaer Potter
(1970, 1971) als Bezeichnung für eine neue Disziplin
eingeführt wird, versteht ihn André Hellegers als
Begriff für einen interdisziplinären Ansatz zur Bearbeitung
neuartiger normativer Probleme (Reich
1999). Das frühe thematische Spektrum der Bioethik
orientiert sich zunächst an moralischen Fragen im
Kontext der Medizin. Thematische Schwerpunkte
sind die Problemfelder Forschung am Menschen, Genetik,
Fortpflanzungsmedizin, Organtransplantation
und künstliche Organe sowie Sterben und Tod (Jonsen
1998).
Aufgrund innovativer wissenschaftlich-technischer
Entwicklungen werden moralische Fragen aufgeworfen,
für die das traditionelle ärztliche Ethos
keine hinreichenden Antworten bereithält. Zudem
ändern sich in den 1960er und 1970er Jahren die gesellschaftlichen
und rechtlichen Rahmenbedingungen
in einer Weise, dass paternalistische Setzungen
in der medizinischen Praxis, insbesondere von ärztlichen
Standesvertretern, nicht mehr unbefragt
übernommen werden. Dieser Umstand führt zur
Entwicklung interdisziplinär angelegter Debatten,
zur Einsetzung politischer Kommissionen, zur Einrichtung
von akademischen Institutionen und
schließlich zur Etablierung einer akademisch verankerten
Bioethik. Die USA haben dabei eine Vorreiterrolle
eingenommen. Mittlerweile ist die Bioethik
als wissenschaftliche Disziplin weltweit etabliert.
Bisweilen wird der Begriff ›Bioethik‹ weiter gefasst.
Er dient dann zur Bezeichnung unterschiedlichster
Beiträge aus zivilgesellschaftlichen Gruppen
zu normativ relevanten Themen im Kontext der Lebenswissenschaften.
Diese Tendenz zur Vereinnahmung
der Bioethik von nicht-fachwissenschaftlicher
Seite ist kritisch zu beurteilen. Es ist unstrittig, dass
unter den Vorzeichen des demokratisch verfassten
Rechtsstaates von allen Seiten Meinungen zu kontroversen
Themen vorgebracht werden können. Mit
dem Begriff der Ethik sind indes fachwissenschaftliche
Standards verbunden, deren Einhaltung in solchen
Diskursbeiträgen oftmals nicht gewährleistet
ist. Dazu zählen v. a. semantische Inkonsistenzen so2
I. Bioethik – Hauptströmungen,Methoden und Disziplinen
wie unzulässige Vermengungen von deskriptiven
Sätzen und normativen Forderungen, die bereits David
Hume kritisiert und die heute im Anschluss an
G. E. Moore als ›naturalistische Fehlschlüsse‹ bezeichnet
werden (Moore 1903). Das Aufspüren und
Kritisieren derartiger Fehlschlüsse gehört zum methodischen
Grundrepertoire der zeitgenössischen
Moralphilosophie.
Hauptströmungen der Bioethik
Im methodischen Profil der Bioethik bilden sich die
Hauptströmungen der zeitgenössischen Moralphilosophie
ab. Ihre wirkungsmächtigsten und normativ
ambitioniertesten Positionen sind die Tugendethik,
die deontologische bzw. kantianische Ethik und der
Konsequentialismus (Baron et al. 1997). Diese drei
Theorietypen nehmen eigenständige methodische
Perspektiven ein, die sich in der Begründungsform
und inhaltlichen Zielsetzung zum Teil deutlich unterscheiden.
Darüber hinaus verfügen sie über ein
spezifisches Vokabular, mit dessen Hilfe normative
Problemstellungen begrifflich erfasst werden.
Die Tugendethik knüpft an aristotelische Begriffe
an und entwickelt ihr normatives Vokabular entlang
der Auffassung von charakterlichen Dispositionen,
über die ein moralischer Akteur verfügen muss
(Hursthouse 1999; Foot 2001). Vor allem die Vorstellung
der Rolle des ›guten Arztes‹, der über eine aus
der Praxis heraus gewonnene Sensibilität für moralische
Problemkonstellationen verfügen muss, hat
dazu geführt, die Tugendethik auch in der Bioethik
zu etablieren (Pellegrino/Thomasma 1993). Mit Bezug
auf Pflegesituationen machen tugendethische
Ansätze geltend, dass es rein prinzipienbasierten
Theorien nicht gelinge, die moralisch relevanten Aspekte
der jeweiligen Entscheidungssituationen angemessen
in den Blick zu nehmen (Held 2006; Slote
2007). In den systematischen Kontext der Tugendethik
gehören auch kommunitaristische Theorien,
die im Gegenzug zu liberalistisch geprägten Prinzipienansätzen
die Bedeutung moralischer Gemeinschaften
betonen (Sandel 1982; Taylor 1996; MacIntyre
1997; Callahan 2003).
Gegen die Tugendethik wird v. a. eingewendet,
dass sie bezüglich konkreter Fragestellungen inhaltlich
unterbestimmt bleibe (Louden 1984). Entsprechende
Vorbehalte finden sich auch in den bioethischen
Diskussionen (Veatch 1988). Konkrete Bewertungsmaßstäbe
für Handlungskonstellationen sind
unter tugendethischen Vorzeichen schwerer zu gewinnen
als durch Rückgriff auf Prinzipien, die deontologische
und konsequentialistische Ansätze aufbieten.
Deontologische Ansätze knüpfen an Kants Moralphilosophie
an und rücken den Begriff der Autonomie
in den Mittelpunkt normativer Analysen (Hill
1991; Sturma 2004). Von dieser Grundlage aus entfalten
sie Konzeptionen für Verpflichtungen sowie
für moralische Ansprüche, die Personen gegeneinander
erheben können. Bei bioethischen Fragestellungen
kommt entsprechend dem Prinzip der informierten
Einwilligung eine vorrangige Bedeutung zu
(Dworkin 1988). Der Begriff des Vertrauens wird dabei
ergänzend hinzugenommen (O’Neill 2002). Das
normative Kernstück des deontologischen Standpunkts
ist das Instrumentalisierungsverbot (Sturma
2004; Schaber 2010). Es bietet ein praktisches Verfahren
zur Überprüfung von Handlungsoptionen
und erlaubt, gegebenenfalls bestimmte Begründungsformen
als ethisch nicht-rechtfertigungsfähig
auszuweisen.
Gegen deontologische Ansätze ist eingewendet
worden, dass sie Rationalität normativ überbewerteten
und dadurch nicht zuletzt auch höher entwickelte
Tiere keine ethisch angemessene Berücksichtigung
fänden (Singer 1994). Neuere deontologische
Ansätze vermeiden Engführungen in dem unterstellten
Sinne und erweitern den Kreis der Adressaten
moralischer Anerkennung über die ethische Gemeinschaft
der Personen hinaus (Korsgaard 2004).
Ein anderer Vorwurf, der u. a. von feministischer
Seite erhoben worden ist, richtet sich gegen die Betonung
von Autonomie und Selbstbestimmung und
macht geltend, dass menschliches Wohlergehen
ethisch nicht hinreichend erfasst werde (Gilligan
1993). Als genereller Einwand gegen deontologische
Ansätze ist diese Kritik allerdings nicht geeignet, da
zu Unrecht unterstellt wird, dass Autonomie und
Selbstbestimmung deckungsgleich seien (O’Neill
2003). Während der Begriff der Selbstbestimmung
eng an die faktischen Wünsche einer aufgeklärten
Person gebunden ist, kann das normativ gehaltvollere
Konzept der Autonomie objektive Bestimmungen
integrieren, die nicht unbedingt mit den aktuellen
Wünschen einer Person übereinstimmen müssen.
Der Konsequentialismus stellt Handlungsfolgen in
den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Die in der Bioethik
dominierende Variante des Konsequentialismus
ist der Regelutilitarismus, der sich in seinen normativen
Bewertungen am gesellschaftlichen Nutzen orientiert
und dazu geeignete Regeln entwickelt (Brandt
I. Bioethik – Hauptströmungen, Methoden und Disziplinen 3
1963; Urmson 1992). In der Bioethik sind früh Versuche
unternommen worden, durch die Anwendung
des Nutzenprinzips konkrete moralische Problemlösungen
zu entwickeln (Hare 1993; Singer 1994; Harris
1989; Birnbacher/Kuhlmann 2006). Seine vergleichsweise
einfache Theoriearchitektur lässt den Utilitarismus
für die Reduktion komplexer Problemkonstellationen
besonders geeignet erscheinen.
Der Utilitarismus sieht sich seit langem der Kritik
ausgesetzt, dass er mit seiner Orientierung am Nutzenbegriff
gerade der Komplexität moralischen Verhaltens
nicht gerecht werde (Williams/Smart 1973).
Diese Kritiklinie setzt sich in der bioethischen Debatte
unmittelbar fort. Die v. a. in der deutschsprachigen
Bioethik häufig geäußerten generellen Vorbehalte
gegenüber dem Utilitarismus greifen jedoch zu
kurz. Sie übersehen, dass der Utilitarismus keineswegs
den Einsatz neuer Techniken und Methoden
einfach und ausnahmslos legitimiert. Beispielsweise
setzt er im Bereich der Tierethik sehr weitgehende
Schutzansprüche an (Singer 1994). Es hat aber dennoch
den Anschein, dass der Utilitarismus die volle
Bandbreite von grundrechtlichen Schutzansprüchen
nicht phänomengerecht rekonstruieren kann. In bioethischen
Problemkonstellationen äußert sich dies
u. a. darin, dass der zentrale Begriff der Person (s.
Kap. II. 21) im Utilitarismus – wenn überhaupt – nur
eine nachgeordnete Rolle spielt. Personen werden lediglich
als Inhaber zukunftsbezogener Präferenzen
betrachtet, nicht aber als moralische Akteure, die in
besonderen Verpflichtungszusammenhängen stehen.
In der neueren Moralphilosophie gibt es vielfältige
Varianten und Mischformen von methodischen
Standpunkten, die Theorie- und Argumentationsstücke
aus vielen Strömungen aufnehmen. Auch in der
Bioethik sind Zusammenführungen von Theoriestücken
aus den drei Hauptströmungen mittlerweile
weit verbreitet. Auf besonders einflussreiche Weise
haben Tom Beauchamp und James Childress in ihrem
Buch Principles of Biomedical Ethics unterschiedlicheTheorientypenaufgegriffen(
Beauchamp/
Childress 2013). Der Erfolg ihres Ansatzes hängt
nicht zuletzt damit zusammen, dass keine Option
der Hauptströmungen grundsätzlich zurückgewiesen
wird. Es ist allerdings bezweifelt worden, dass die
Autoren die methodischen Spannungen, die zwischen
den Hauptströmungen bestehen, hinreichend
berücksichtigen. Entsprechend müsse offen bleiben,
ob es gelingen könne, einen kohärenten Gesamtansatz
zu entwickeln (Clouser/Gert 1990; Gert et al.
1997). Nachfragen beziehen sich zudem auch auf die
Art und Weise, wie in Entscheidungssituationen zu
verfahren sei, wenn gut begründete, aber sich ausschließende
Handlungsvorgaben aus den jeweiligen
Prinzipien folgen – ein Umstand, der in bioethischen
Kontexten keineswegs die Ausnahme ist (Heinrichs
2010). Ungeachtet der Vielzahl der Einwände gilt es
als unstrittig, dass Beauchamp und Childress mit ihren
vier Prinzipien Autonomie, Wohltun bzw. Fürsorge,
Nichtschaden und Gerechtigkeit ein weithin akzeptiertes
methodisches Werkzeug verfügbar gemacht
haben.
Neben den drei Hauptströmungen sind auch noch
andere ethische Standpunkte mit eigenständigen
Entwicklungen zu verzeichnen. Hans Jonas hat z. B.
den Begriff der Verantwortung als zentralen Begriff
einer »Ethik für die technologische Zivilisation« verwendet
(Jonas 1979). Es muss offen bleiben, ob solche
Ansätze eigenständige systematische Entwürfe
darstellen, die das Spektrum der Hauptströmungen
systematisch erweitern, oder ob es sich um spezifische
Fortentwicklungen innerhalb der Tugendethik,
der Deontologie bzw. des Konsequentialismus handelt.
Methoden und Grundbegriffe
der Bioethik
Die Bioethik entwickelt ihre Argumentationen überwiegend
in Auseinandersetzungen mit konkreten
Problemkonstellationen. Aufgrund dieses Ansatzes
besteht die Gefahr von fallspezifischen Verzerrungen,
der mit methodischen Ausweitungen sowie mit
semantischen und metaethischen Vergleichen begegnet
werden kann. Bei Versuchen, die bioethische
Theoriebildung gänzlich in Fallanalysen aufzulösen,
wie es etwa Albert Jonsen und Stephen Toulmin
(1988) sowie Baruch Brody (1988) mit ihrer Wiederbelebung
der Kasuistik unternommen haben, werden
die methodischen Unterbestimmungen, die sich
v. a.imFehleneinesnachvollziehbarenBegründungsverfahrens
und eines gesicherten Vokabulars ausdrücken,
nicht hinreichend in Rechnung gestellt.
Dagegen hat sich das im Rahmen des kantianischen
Konstruktivismus von John Rawls entwickelte Verfahren
des Überlegungsgleichgewichts (reflective
equilibrium) als wichtiges methodisches Mittel für
die Bioethik erwiesen (Rawls 1979; Daniels 1997;
Buchanan et al. 2000, 371 ff.). Der Grundgedanke besteht
darin, dass in einem dynamischen Abgleich allgemeine
Prinzipien und konkrete Einzelfallanalysen
zur wechselseitigen Korrektur herangezogen werden.
Anpassungen zur Erhaltung der Kohärenz des
4 I. Bioethik – Hauptströmungen,Methoden und Disziplinen
ethischen Gesamtgefüges sind danach auf allen
Abstraktionsebenen möglich.
Die differenzierten Problemanalysen der Bioethik
haben durchaus Einfluss auf die systematischen Debatten
der Ethik insgesamt. Im Lichte konkreter Probleme
sind klassische Theorien weiterentwickelt und
neue Differenzierungen eingeführt worden. Insofern
besteht kein einseitiges Verhältnis zwischen Moralphilosophie
und Metaethik einerseits und angewandter
Ethik andererseits. Vielmehr hat sich gerade
in den letzten Jahrzehnten auf umfassende Weise ein
wechselseitiger Austausch entwickelt. Dies zeigt sich
insbesondere bei solchen Autoren, die wesentliche
Beiträge sowohl zu Fragen der allgemeinen Ethik als
auch der angewandten Ethik verfasst haben (z. B.
P. Foot, O. O’Neill, R. Dworkin, R. M. Hare). Diese
Autoren haben ihre jeweiligen Ansätze keineswegs
formalistisch auf konkrete Fragen angewendet, sondern
Lösungsvorschläge im Lichte ihrer allgemeinen
Konzeptionen unterbreitet, diese zugleich aber auch
durch die Auseinandersetzung mit Anwendungsfragen
weiterentwickelt.
Unabhängig vom jeweiligen bioethischen Ansatz
hat die Diskussion der vergangenen Jahre gezeigt,
dass es eine Reihe von normativen Grundbegriffen
gibt, die für die Bioethik unverzichtbar sind. Dazu
gehören u. a. die Begriffe ›Person‹ (s. Kap. II. 21),
›Natur‹ (s. Kap. II. 19), ›Leben‹ (s. Kap. II. 15), ›Lebensqualität‹
(s. Kap. II. 16), ›Tod‹ (s. Kap. II. 25),
›Krankheit‹ (s. Kap. II. 14) sowie ›Gerechtigkeit‹ (s.
Kap. II. 8), ›Menschenwürde‹ (s. Kap. II. 17), ›Nachhaltigkeit‹
(s. Kap. II. 18), ›Verantwortung‹ (s. Kap.
II. 26), ›Güter‹ (s. Kap. II. 9) und ›Wert‹ (s. Kap.
II. 27). Die komplexen Verweisungszusammenhänge,
die zwischen diesen Begriffen bestehen, bilden
ein normatives Netzwerk, das Einzelanalysen innerhalb
der Bioethik umspannt.
Disziplinen der Bioethik
Die ethischen Auseinandersetzungen in der Bioethik
vollziehen sich unter problemorientierten Vorgaben.
Dieser Sachverhalt führt zu disziplinären Binnendifferenzierungen
und bereichsethischen Neuerungen.
Weil in allen bioethischen Disziplinen die normativen
Herausforderungen moderner Technologien
eine wichtige Rolle spielen, kommen in ihnen auch
Bestimmungen der Technikethik, die einen eigenständigen
Bereich der angewandten Ethik bildet, zur
Anwendung. Das gilt insbesondere für die Robotik
(Christaller et al. 2001; s. Kap. III. 36).
(1) Medizinethik. Zum Kernbestand der bioethischen
Reflexion zählt von Anbeginn die Medizinethik,
die an die lange Geschichte der ärztlichen
Standesethik anknüpft und seit den 1960er Jahren in
der Verfolgung von Lösungsstrategien für spezifische
Problemfelder bis in die aktuelle Diskussionen
hinein ein disziplinäres Profil herausbildet, das sich
thematisch an den Verläufen personalen Lebens orientiert.
Mit den Möglichkeiten technischer Verfahren
sind Entscheidungen darüber erforderlich, ab
wann menschlichem Leben der volle Schutzanspruch
zukommt, in welchem Maße prädiktives
Wissen genutzt werden soll und wie komplexe
Eltern-Kind-Beziehungen einzuschätzen sind (s.
Kap. III. 5, III. 12, III. 25, III. 27, III. 37, III. 39).
Von der frühesten Kindheit bis ins hohe Alter (s.
Kap. III. 1) ist menschliches Leben durch Krankheit
und Behinderung bedroht (s. Kap. II. 14., II. 2). Die
moderne Medizin wendet immer aufwendigere Methoden
zur Erhaltung bzw. Wiederherstellung der
Gesundheit an, was im Einzelnen zu ethischen Abwägungsproblemen
führt. Mit der Transplantationsmedizin
sind z. B. Fragen der gerechten Vergabe von
Spenderorganen verbunden (s. Kap. III. 44). Daneben
treten Rückfragen bzgl. des Hirntodkriteriums,
das im Bereich der postmortalen Organspende von
zentraler Bedeutung ist (s. Kap. II. 25), sowie Überlegungen
zur Einwilligung in Organspenden (s.
Kap. II. 10).
Im Bereich der Neuromedizin und Neurowissenschaften
wird diskutiert, wie Persönlichkeitsveränderungen
zu bewerten sind, die durch Stimulationsverfahren
ausgelöst werden, und ob Neuroprothesen
die etablierte Praxis der Verantwortungszuschreibung
herausfordern (s. Kap. III. 29). Einige öffentliche
Diskussionszusammenhänge, die gemeinhin der
Neuroethik zugerechnet werden (Geyer 2004), thematisieren
unter neurowissenschaftlichen Vorzeichen
Freiheit, Verantwortung, personale Identität
und Authentizität. Diesen Auseinandersetzungen
fehlt jedoch – anders als öffentlich zuweilen unterstellt
wird – der konkrete Bezug zu tatsächlichen Befunden
der Neurowissenschaften genauso wie der
fachwissenschaftliche Anschluss an die Wissenschaftstheorie,
Philosophie des Geistes, Ethik und
Bioethik (Bennett/Hacker 2003; Sturma 2005, 2008).
Prädiktive Gentests werfen die Frage nach einem
verantwortungsvollen Umgang mit zukunftsbezogenem
Wissen auf (s. Kap. III. 35). Es ist zudem zu klären,
wie das kurative Paradigma der Medizin um den
Bereich der Palliation ergänzt werden muss (s.
Kap. III. 31). Eng verbunden damit ist die intensiv
I. Bioethik – Hauptströmungen, Methoden und Disziplinen 5
geführte Diskussion um die Sterbehilfe (s. Kap.
III. 40). Die Medizin hat lange die Zuständigkeit für
einen ›guten Tod‹ von sich gewiesen. Die immer weiter
reichenden technischen Möglichkeiten haben
Fragen der Selbstbestimmung am Lebensende indes
vermehrt in den Vordergrund gerückt. Kontroversen
bestehen im Hinblick auf die Frage, ob der ärztlich
assistierte Suizid als Bestandteil des ärztlichen Handelns
aufgefasst werden sollte. Ein weiteres Problemfeld
ist die rechtliche Regelung der Patientenverfügung
(s. Kap. III. 33).
Auch wenn das ärztliche Handeln nicht mehr auf
die Prävention oder Heilung von Krankheiten bezogen
ist, sondern sich auf Verbesserungen menschlicher
Fähigkeiten richtet, können Fragen nach Begrenzungen
nicht abgewiesen werden. Die kontrovers
geführten Debatten über das sog. Enhancement
(s. Kap. III. 13) bzw. Doping (s. Kap. III. 11) erschließen
sich erst vor dem Hintergrund der Medizinethik
insgesamt. Einzelne Krankheiten und Syndrome haben
innerhalb der Medizinethik besondere Aufmerksamkeit
auf sich gezogen, entweder weil sie das
individuelle Leben einer Person als Person in besonderer
Weise betreffen – wie im Fall von Demenz
(s. Kap. III. 10, II. 21) und Suchterkrankungen (s.
Kap. III. 41) –, oder weil sie mit gravierenden gesellschaftlichen
Folgen verbunden sind – wie im Fall von
HIV/AIDS (s. Kap. III. 21).
Grundsätzliche Fragestellungen der Medizinethik
beziehen sich v. a. auf das normative Profil des Arztberufes
und das sich damit verbindende besondere
Verhältnis zum Patienten sowie zur Gesellschaft insgesamt
(s. Kap. III. 3, III. 4, III. 19, III. 46, III. 18,
III. 20). Die traditionelle Standesethik bildet zwar
den Anknüpfungspunkt der modernen Medizinethik,
sie ist aber nicht deren einfache Fortführung.
Eine solche Fortführung ist schon deshalb nicht
möglich, weil ein starker Paternalismus (s. Kap.
II. 20), in dem der Arzt als normative Autorität auftritt,
heute keine normativ rechtfertigungsfähige Position
mehr darstellt. In der zeitgenössischen Medizinethik
müssen vielfältige Überzeugungen und
Standpunkte integriert und methodischen Begründungen
zugeführt werden.
(2) Tierethik. Grundsätzliche Problemstellungen
der Tierethik verbinden sich mit dem rechtlichen
und moralischen Status sowie mit der Leidensfähigkeit
und den Interessen von Tieren (s. Kap. III. 43). In
den gegenwärtigen tierethischen Diskussionen nehmen
forschungsethische Problemstellungen breiten
Raum ein. Auseinandersetzungen betreffen v. a. die
Verwendung von Tieren in der Forschung. Die
Debatte reicht bis in das 19. Jahrhundert zurück. In
den 1950er Jahren führt sie zur Formulierung der
mittlerweile allgemein anerkannten 3R-Prinzipien
(replace, reduce, refine).
Die ethische und rechtliche Vertretbarkeit sowie
die genaue Ausgestaltung der Verwendung von Versuchstieren
werden bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt
kontrovers diskutiert. Aufgrund der biologischen
Verwandtschaft mit dem Menschen steht v. a.
die Forschung an anderen Primaten in der Kritik.
Zudem wird der Sinn von Forschung mit Nagetieren
wegen der fragwürdigen Übertragbarkeit der Ergebnisse
auf den Menschen vielfach in Zweifel gezogen.
Auch die Entwicklung von Chimären und Hybriden
gilt als ethisch fragwürdig (s. Kap. III. 9).
Statusfragen stellen sich dann, wenn durch biotechnologische
Verfahren die Grenze zwischen Menschen
und anderen Tieren überschritten wird. Befürchtungen
verbinden sich zudem mit der Vision
der synthetischen Biologie, künstlich Leben zu erschaffen
(s. Kap. III. 42). Unabhängig von den jeweiligen
Ernährungsgewohnheiten werden die verbreiteten
Formen der Massentierhaltung vermehrt als
ethisch inakzeptabel zurückgewiesen. Im Hinblick
auf die Bedingungen, die eine ethisch vertretbare
Form der Nutztierhaltung erfüllen muss, herrscht in
den wissenschaftlichen und öffentlichen Diskursen
keine Einigkeit. Skepsis richtet sich auch gegen die
Anwendung gentechnischer Verfahren zur Lebensmittelproduktion
(s. Kap. III. 16).
Mittlerweile geraten auch Formen des Mensch-
Tier-Verhältnisses in die Kritik, die in den ethischen
Debatten bislang kaum Beachtung gefunden oder sogar
als unbedenklich gegolten haben. Dies gilt insbesondere
für die Haltung von Wildtieren in Zoos,
Tiergärten oder im privaten Umfeld. Zunehmend
zeichnet sich ab, dass das spezifische Umfeld von
Tiergärten und Zoos trotz ihrer Bedeutung für die
Erhaltung von bedrohten Arten mit erheblichen
ethischen Problemen belastet ist. Vor allem die gezielte
Tötung einzelner Tiere, die im Rahmen von
Nachzuchtprogrammen als unbrauchbar eingestuft
worden sind, ruft Widerspruch hervor. Kritische
Überlegungen richten sich zudem auf die Jagd, die
Verwendung von Tieren zu Unterhaltungszwecken –
etwa im Zirkus – sowie auf die Züchtung und Haltung
von Haustieren.
(3) Umweltethik. Die Umweltethik bzw. ökologische
Ethik untersucht das Verhältnis der humanen
Lebensform zur nicht-menschlichen Natur in ihren
vielfältigen Ausformungen (s. Kap. III. 30). Ihr breites
thematisches Spektrum umfasst den Schutz von
6 I. Bioethik – Hauptströmungen,Methoden und Disziplinen
Klima (s. Kap. III. 24) und Umwelt genauso wie normative
Bewertungen von Biodiversität (s. Kap. III. 8)
und Landschaft (s. Kap. III. 26). Zu den umweltethischen
Grundbegriffen gehören unter anderem Nachhaltigkeit
(s. Kap. II. 18), Natur bzw. Natürlichkeit (s.
Kap. II. 19), Wert der Natur und Verantwortung für
zukünftige Generationen (s. Kap. II. 28).
Umweltethische Positionen lassen sich grundsätzlich
in anthropozentrische und nicht-anthropozentrische
Ansätze differenzieren. Bei der anthropozentrischen
Position ist zwischen einer erkenntnistheoretischen
und einer ethischen Perspektive zu unterscheiden
(s. Kap. II. 19). Der erkenntnistheoretische
Ansatz geht zunächst nur davon aus, dass Personen
über epistemische Fähigkeiten verfügen, die bei keiner
anderen animalischen Lebensform nachweisbar
seien. Mit diesem Sachverhalt verbinden sich zunächst
noch keine normativen Konsequenzen. Demgegenüber
unterstellt der ethische Anthropozentrismus
eine Sonderstellung des Menschen in der Natur,
mit der Beschränkungen seines Handlungsspielraums
nicht vereinbar seien, wenn sie nicht auch seinem
Nutzen dienten. Nicht-anthropozentrische Ansätze
lehnen die Vorstellung von einer normativen
Sonderstellung der menschlichen Lebensform ab. Zu
den nicht-anthropozentrischen Positionen gehören
der Pathozentrismus, der Biozentrismus und der
Physiozentrismus, die grundsätzliche ethische Entscheidungen
jeweils von der Leidensfähigkeit, von
Leben oder vom natürlichen System der Natur insgesamt
abhängig machen.
(4) Forschungsethik. Einen thematisch eigenständigen
Bereich bildet die Forschungsethik. Innerhalb
der aktuellen forschungsethischen Diskussion lassen
sich vier thematische Schwerpunkte identifizieren:
die gute wissenschaftliche Praxis (good scientific
practice), ethische Probleme der biomedizinischen
und der sozialwissenschaftlichen Forschung sowie
das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft
(Fuchs et al. 2010). Im Rahmen der Bioethik werden
schwerpunktmäßig Forschungen am Menschen, mit
biologischem Material sowie mit Tieren thematisiert.
Die Forschung am Menschen bildet eines der
Themen, das die Entwicklung der Bioethik maßgeblich
geprägt hat (s. Kap. III. 14). Aus diesem Diskussionszusammenhang
sind die medizinethischen
Prinzipien der Autonomie, des Wohltuns, der Schadensvermeidung
und der Gerechtigkeit hervorgegangen,
die mittlerweile als grundlegend für Bioethik
insgesamt weitgehende Anerkennung finden
(Belmont Report 1995, Beauchamp/Childress 2013).
In der Forschungsethik gelten die Konkretisierungen,
die auf diesen Prinzipien aufbauen – informierte
Einwilligung (s. Kap. II. 10, II. 3), Risiko-Nutzen-
Analyse (s. Kap. II. 23) und gerechte Probandenauswahl
bzw. Nicht-Diskriminierung (s. Kap. II. 5) – als
etabliertes Rahmenwerk für die Analyse ethischer
Probleme. Die aktuelle Diskussion richtet sich entsprechend
auf spezielle Probleme wie die Forschung
in der Genetik (s. Kap. III. 22) und in den Neurowissenschaften
(s. Kap. III. 29), die Aufnahme vulnerabler
Probandengruppen (s. Kap. III. 45), die globale
Dimension von Forschung sowie die Rolle von
Ethikkommissionen (s. Kap. IV. 4).
Die Emanzipation der Gesundheitsberufe von der
Medizin führt dazu, dass forschungsethische Fragen
im Kontext der Gesundheitsberufe gesondert diskutiert
werden (s. Kap. III. 34). Die Forschungsethik
beschäftigt sich des Weiteren mit der Forschung an
biologischem Material. Im Fall von Biobanken erweist
sich die Ausgestaltung der informierten Einwilligung
(s. Kap. III. 7, II. 10) als schwierig, weil Forschungsziele
und die Weiterentwicklung von Projekten
oftmals nicht zeitlich weit vorgreifend geplant
werden können und der Gegenstand der Einwilligung
insofern unbestimmt bleiben muss. Die Ergebnisse
der Forschung mit biologischem Material werfen
Fragen nach der kommerziellen Nutzung (s. Kap.
II. 12) auf. Insbesondere die Anwendung des Patentrechts
ist in diesem Bereich Gegenstand kritischer
Diskussionen (s. Kap. III. 32).
Bioethik und Weltanschauung
in einer pluralistischen Welt
In der Bioethik müssen normative Bewertungen
durchgeführt und Entscheidungen vorbereitet werden,
die in einer pluralistischen Gesellschaft Bestand
haben können. Weltanschauliche Sichtweisen
sind dadurch gekennzeichnet, dass sie ihren Ausgang
von Standpunkten nehmen, die in ihren
Grundlagen nicht vollständig rationalen Überprüfungen
zugänglich sind. Das schließt nicht aus, dass
es zu Übereinstimmungen zwischen weltanschaulich
motivierten Bewertungen und Resultaten bioethischer
Rechtfertigungsverfahren kommt. Weil
normative Fragestellungen oft weltanschaulich besetzte
Problemfelder – wie Schwangerschaftsabbruch,
Stammzellforschung oder Sterbehilfe – berühren,
gehört es zur Aufgabe der Bioethik, Diskursformen
und Entscheidungssituationen zu entwickeln,
die jenseits ideologischer Konflikte
verlaufen. Anstelle von polemischen Zuspitzungen
I. Bioethik – Hauptströmungen, Methoden und Disziplinen 7
müssen nachvollziehbare Begründungen und
Rechtfertigungen entwickelt werden.
Unter günstigen Bedingungen weichen weltanschauliche
Konflikte einem in konsensuelle Regelungen
mündenden Diskurs des Gebens und Akzeptierens
von Gründen (s. Kap. II. 13). Eine Verständigung
über die zugrundeliegenden medizinischnaturwissenschaftlichen
Sachverhalte und die darauf
aufbauenden Risikoabwägungen sind ein erster
wichtiger Schritt (s. Kap. II. 23, II. 24). Welche Rolle
andere Formen empirischen Wissens spielen, ist hingegen
umstritten (s. Kap. II. 6). Insbesondere wird
ein zuweilen konstatierter empirical turn durchaus
kritisch gesehen. Eine einfache Bezugnahme auf
Meinungsbilder, die mit empirischen Methoden erhoben
werden, ersetzt keineswegs die ethische Analyse
und Bewertung.
Der Sache nach sind bioethische Analysen auf den
symmetrischen Austausch von Gründen festgelegt,
der insbesondere durch Transparenz und Zugänglichkeit
gekennzeichnet ist. Insofern bewegen sich
Überlegungen zu dem in der Bioethik erarbeiteten
normativen Schutz menschlichen Lebens innerhalb
der Fluchtlinie des modernen Menschenrechtsgedankens
(Sturma 2001). Es wird sich künftig zeigen
müssen, ob der aus dem Umgang mit menschlichem
Leben gewonnene normative Schutz auch auf andere
Lebensformen ausgeweitet werden kann beziehungsweise
ausgeweitet werden muss. Bei den erforderlichen
Verständigungsprozessen können Institutionen
wie Ethikräte und Ethikkommissionen eine wichtige
Katalysatorfunktion übernehmen (s. Kap. IV. 5, IV. 6,
IV. 7). Ebenso dürfte eine stärkere Integration ethischer
Inhalte in die Ausbildung von Medizinern und
Naturwissenschaftlern helfen, normative Überlegungen
frühzeitig in der Forschung zu initiieren (s.
Kap. IV. 1).
Die Zukunft der Bioethik
Der Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnis und
die Entwicklung neuer Technologien werden die
Bioethik immer wieder mit neuen Herausforderungen
konfrontieren. Mit der fortschreitenden Globalisierung
aller Bereiche der Wissenschaften werden
zudem weitere normative Anforderungen aufkommen
(s. Kap. IV. 8). Kritische Reflexion sowie die
Etablierung von anerkannten Formen der Begründung
und Rechtfertigung werden bei der normativen
Ausgestaltung menschenwürdiger Lebensweisen –
an der das Recht und die Politik maßgeblich beteiligt
sind (s. Kap. IV. 2, IV. 3) – unerlässlich bleiben. Die
Analyse und Bewertung der Auswirkungen wissenschaftlicher
und technischer Entwicklungen auf einzelne
Personen, die Gesellschaft insgesamt, andere
Lebensformen und die Umwelt stellen insofen eine
kontinuierliche Aufgabe dar, welche die Gesellschaft
sowie die Wissenschaft und Technik dauerhaft begleiten
wird. Dabei können die Ergebnisse der bioethischen
Diskussionen der vergangenen Dekaden
nicht außer Acht bleiben. An ihnen ist nicht zuletzt
ablesbar, dass nicht alle bioethischen Fragestellungen
neuartig sind. Es zeichnet die Bioethik als wissenschaftliche
Disziplin aus, dass sie Argumente hervorbringt,
die jenseits konkreter Problemfälle Geltung
beanspruchen können. Durch die konstruktive Fortentwicklung
etablierter Ansätze und die Entwicklung
von Antworten auf neuartige Herausforderungen
ist die Bioethik eine moderne Form der normativen
Selbstverständigung des Menschen.

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