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Handbuch Anthropologie Der Mensch zwischen Natur, Kultur und Technik
Handbuch Anthropologie
Der Mensch zwischen Natur, Kultur und Technik




Eike Bohlken, Christian Thies (Hrsg.)

Verlag J. B. Metzler
EAN: 9783476022288 (ISBN: 3-476-02228-5)
467 Seiten, hardcover, 18 x 25cm, 2009

EUR 49,95
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Was ist der Mensch? Wie ist sein Verhältnis zum Kosmos, zu den Mitmenschen und zu sich selbst? Gibt es eine Sonderstellung des Menschen? Das Handbuch erörtert diese Fragen aus dem Blickwinkel zentraler Disziplinen. Darunter: Hirnforschung, Kognitivismus, Philosophische Anthropologie, Soziobiologie, Tiefenpsychologie und Transhumanismus. Es stellt mit Kant, Darwin, Freud, Plessner, Elias, Geertz u. a. die wichtigsten Klassiker der modernen Anthropologie vor und erläutert Schlüsselbegriffe des menschlichen Seins, wie z.B. Arbeit, Emotionen, Familie, Homo faber/Technik, Macht, Religiosität, Spielen und Tod.
Rezension
Der Begriff Anthropologie bezeichnet die "Lehre vom Menschen". Schon in der Antike wird der Mensch (anthropos) als "animal rationale" bezeichnet, das Sprache, Vernunft und Moral ausbringen kann, und als zoon politikon, als in (staatlich) verfassten Gemeinschaften lebendes Wesen. Seit dem 19. Jhdt. hat sich eine Vielzahl disziplinärer Anthropologien etabliert: historische, medizinische, biologische, soziologische, pädagogische, philosophische, theologische u.a. Anthropologien sind seitdem unserem Wissenschaftsbetrieb vertraut. Das Wissen über den Wissen hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten exponentiell erweitert, - umso wichtiger ist es, das Wissen über den Menschen fächerübergreifend zusammenzutragen, wie es in diesem Handbuch Anthropologie auf hervorragende Art und Weise geschieht.

Jens Walter, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Das gegenwärtige Wissen zum Menschen systematisch zusammengefasst
Aktuelles Thema in Forschung, Lehre und den Medien
Sichtweise unterschiedlicher Disziplinen: Philosophie, Kulturwissenschaften, Naturwissenschaften

Autoren:
Eike Bohlken (geb. 1967), Dr., ist Wissenschaftlicher Assistent am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover.
Christian Thies (geb. 1959), PD. Dr., ist stellvertretender Direktor des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung

II. Klassiker

1. Immanuel Kant. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
2. Johann Gottfried Herder . . . . . . . . . . . . . 17
3. Charles Darwin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
4. Karl Marx. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
5. Sigmund Freud . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
6. Marcel Mauss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
7. Ernst Cassirer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
8. Max Scheler. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
9. Martin Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
10. Helmuth Plessner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
11. Norbert Elias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
12. Arnold Gehlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
13. Claude Lévi-Strauss . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
14. Clifford Geertz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
15. Michel Foucault . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

III. Ansätze

1. Behaviorismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
2. Enhancement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
3. Entwicklungspsychologie . . . . . . . . . . . . 115
4. Ethnologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
5. Evolutionspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . 130
6. Hirnforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
7. Historische Anthropologie . . . . . . . . . . . 147
8. Kognitivismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
9. Kulturphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
10. Künstliche Intelligenz / Künstliches Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
11. Literarische Anthropologie. . . . . . . . . . . 177
12. Medizinische Anthropologie . . . . . . . . . 183
13. Pädagogische Anthropologie . . . . . . . . . 190
14. Paläoanthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
15. Phänomenologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
16. Philosophische Anthropologie . . . . . . . . 216
17. Pragmatismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
18. Primatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
19. Soziobiologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242
20. Theologische Anthropologie . . . . . . . . . 250
21. Tiefenpsychologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
22. Transhumanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268
23. Verhaltensgenetik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276

IV. Begriffe

1. Aggression. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
2. Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
3. Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
4. Animal rationale. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296
5. Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
6. Bewusstsein. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304
7. Emotionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308
8. Empathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
9. Entfremdung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316
10. Erinnerung / Gedächtnis. . . . . . . . . . . . . 320
11. Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324
12. Freiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328
13. Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332
14. Gesundheit / Krankheit . . . . . . . . . . . . . . 336
15. Homo faber / Technik . . . . . . . . . . . . . . . 340
16. Homo oeconomicus. . . . . . . . . . . . . . . . . 344
17. Homo sociologicus. . . . . . . . . . . . . . . . . . 348
18. Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352
19. Kindheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356
20. Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359
21. Lachen und Weinen . . . . . . . . . . . . . . . . . 363
22. Leib / Leiblichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367
23. Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371
24. Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375
25. Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379
26. Mode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
27. Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387
28. Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391
29. Rausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395
30. Religiosität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399
31. Rituale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402
32. Schrift. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407
33. Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411
34. Sinne. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414
35. Speziesismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418
36. Spielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
37. Sprache. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426
38. Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431
39. Unmenschlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434
40. Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438
41. Zoon politikon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442

V. Anhang

Die Herausgeber / Die Autorinnen und Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457



Leseprobe:

II. Klassiker
1. Immanuel Kant
Immanuel Kant wird am 22. April 1724 als viertes
von neun Kindern im ostpreußischen Königsberg
geboren, wo er am 12. Februar 1804 auch stirbt. Das
Leben der Familie Kant wird maßgeblich durch den
(lutherischen) Pietismus mit seiner Betonung der
Herzensfrömmigkeit bestimmt, der seit dem Ende
des 17. Jh.s in Königsberg Fuß fasste. Eine Besonderheit
der Königsberger Universität stellt die enge Verbindung
von Pietismus und Metaphysik dar. Sie wird
vor allem von Franz Albert Schulz (1692–1763), der
bei Christian Wolff (1679–1754) studierte, vertreten.
Nach Jahren der Tätigkeit als Hauslehrer und Privatdozent
erfolgt im März 1770 die Berufung Kants auf
das ersehnte Ordinariat für Logik und Metaphysik
an der Königsberger Universität. Einen Ruf nach
Halle lehnt Kant 1778 ab. Seiner Ansicht nach bietet
die Stadt am Pregel mit ihren politischen Institutionen,
der Universität und der »Lage zum Seehandel«
alles, was sich ein gebildeter Mensch und Philosoph
zur »Erweiterung sowohl der Menschenkenntniß als
auch der Weltkenntniß« (Anthr, 120–121 Anm.) nur
wünschen kann.
Die Königsberger Berufung krönt für Kant ein
publizistisch und philosophisch ereignisreiches Jahrzehnt,
in dem er sich unter dem Einfluss der neuesten
englischen und französischen Philosophie von
der deutschen Schulmetaphysik löst. Über den epistemologischen
Skeptizismus einerseits und die Gefühlsethik
andererseits findet er den Weg zu einer
neuen Konzeption von Philosophie und Metaphysik.
Beeinflusst durch Jean-Jacques Rousseau ist Kant
seit Anfang der 1760er Jahre davon überzeugt, dass
der Mensch als Person (s. Kap. IV.28) im Zentrum
von Philosophie und Metaphysik steht. Von Rousseau
lernt Kant, dass alle Menschen Würde haben (s.
Kap. IV. 25: Menschenwürde), weil sie frei handelnde
Wesen sind (s. Kap. IV.12: Freiheit), die sich durch
diese Fähigkeit von allen anderen Lebewesen auf Erden
unterscheiden (vgl. AA XX, 44; Klemme 2007).
In der Kritik der reinen Vernunft von 1781 sieht er
folgerichtig in der Moral (s. Kap. IV.27) die »ganze
Bestimmung des Menschen« (KrV A 840/B 868; vgl.
KpV, 122; umfassend Brandt 2007).
Doch wie sind Freiheit und Moral in einer durchgehend
naturkausal bestimmten Welt möglich? Wenige
Jahre nach seiner Rousseau-Lektüre gibt ihm
das Jahr 1769 »großes Licht« (AA XVIII, 60). Worin
dieses genau besteht, ist in der Literatur bis heute
umstritten. Doch außer Frage steht, dass Kant in diesem
Jahr mit seiner neuen Lehre von Raum und Zeit,
die er 1770 in seiner Inauguraldissertation Über die
Form und die Prinzipien der sensiblen und der intelligiblen
Welt vorträgt, die Grundlage für seinen transzendentalen
Idealismus legt. Nach Maßgabe dieses
Lehrstücks können wir die Dinge immer nur als Erscheinung,
niemals aber so erkennen, wie sie an sich
selbst beschaffen sind. Den entscheidenden Schritt
zur Philosophie der Kritik der reinen Vernunft vollzieht
Kant vermutlich allerdings erst nach 1770. In
den Prolegomena verweist er dankbar auf David
Hume (1711–1776), der ihn aus seinem »dogmatischen
Schlummer« (Prol., 260; vgl. 338) erweckt
habe.
Nach 1781 erweitert Kant schrittweise seine kritische
Philosophie in Gestalt der Ende 1787 publizierten
Kritik der praktischen Vernunft und der 1790 veröffentlichten
Kritik der Urteilskraft. Ferner publiziert
er in den 1780er und 1790er Jahren eine Reihe wegweisender
Arbeiten zur Moral-, Rechts- und politischen
Philosophie sowie zur Geschichtsphilosophie
und Religionsphilosophie. Seine Arbeiten an einer
Metaphysik der Natur führen über Entwürfe und
Skizzen nicht hinaus, die heute unter der Bezeichnung
Opus postumum bekannt sind. Die eine Rechtsund
eine Tugendlehre umfassende Metaphysik der
Sitten erscheint 1797. Im folgenden Jahr werden die
beiden letzten von Kant selbst redigierten Bücher
gedruckt: Der Streit der Fakultäten und die Anthropologie
in pragmatischer Hinsicht.
Die Frage nach dem Menschen
Die Anthropologie von 1798 geht auf ein Privatkolleg
zurück, das Kant jeweils im Winter von 1772/73 bis
1795/96 hält, während er im Sommer über Physische
Geographie liest (vgl. Brandt/Stark 1997). Kant
möchte die Anthropologie »zu einer ordentlichen
academischen disciplin« (Brief, X, 145) machen. Der
12 II. Klassiker
Inhalt dieser Vorlesungen ist uns durch eine Reihe
von studentischen Nachschriften bekannt, die 1997
in einer kritischen Ausgabe innerhalb seiner Gesammelten
Schriften (Akademie-Ausgabe) erschienen
sind. Der Nutzen der Anthropologie besteht nach
Kant vor allem darin, Kenntnisse zu vermitteln, die
die akademische Jugend klug für die Welt machen.
Im Winter 1775/76 greift Kant hierfür erstmals das
Wort ›pragmatisch‹ auf: Durch das Pragmatische
wird eine Wissenschaft »vor das Leben brauchbar«
(AA II, 443). Die pragmatische Anthropologie setzt
die Transzendentalphilosophie voraus und fragt danach,
was der Mensch »als freihandelndes Wesen aus
sich selber macht oder machen kann und soll.« (Anthr,
119). Als Weltkenntnis vermittelnde pragmatische
Wissenschaft grenzt sich die ›pragmatische Anthropologie‹
von der ›physiologischen‹ Betrachtung
des Menschen ab, die erforscht, was die Natur aus
dem Menschen macht (vgl. AA XXV, 470; Anthr,
119).
Da Professoren in Preußen ihre Vorlesungen nach
einem Lehrbuch halten müssen, es aber noch kein
Lehrbuch der Anthropologie gibt, wählt Kant die
Psychologia empirica (Abdruck in: AA XV, 5–54) des
von ihm geschätzten Alexander Gottlieb Baumgarten
(1714–1762) als Leitfaden seiner Vorlesungen.
Als ›Hilfsmittel‹ greift er auf unterschiedliche Quellen
zurück: auf Biographien, Romane, Geschichtsdarstellungen
und auf eigene Beobachtungen. Kant
erweist sich als aufmerksamer Leser und großer
Kenner der zeitgenössischen Literatur. Entsprechend
vielfältig sind die Themen, die er abhandelt: das Ich
und die Sinne (s. Kap. IV. 34), bewusste und unbewusste
Vorstellungen, die Begriffe der Laune, der
Leidenschaften und der Affekte, die vier Temperamente,
die moralische Erziehung und der Charakter
des Menschengeschlechts. Wer die Vorlesungen gehört
oder ihre Nachschriften gelesen hat, der kann
sich in der Welt orientieren. Die Nachschriften sind
vor allem auch deshalb von großer Bedeutung, weil
sich in ihnen Veränderungen nachvollziehen lassen,
die Kant an zahlreichen Lehrstücken seiner Philosophie
vorgenommen hat. Dies trifft beispielsweise auf
seine Konzeption von Selbst und Freiheit sowie auf
seine Ästhetik und Geschichtsphilosophie zu (vgl.
Klemme 1996, 76–101; Brandt/Stark 1997; Louden
2000, 62–106; Guyer 2003).
Allerdings hängt der philosophische Wert der
pragmatischen Anthropologie primär von der Antwort
auf die Frage ab, welchen systematischen Ort
sie im Ganzen der Philosophie einnimmt. In der
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) behauptet
Kant, dass jede Wissenschaft einen empirischen
und einen rationalen Teil umfasst. Den rationalen
Teil der Ethik nennt Kant »Moral«, »Moralphilosophie
« oder »reine Moralphilosophie«, den
empirischen Teil dagegen »praktische Anthropologie«
(GMS, 388–389). In der Einleitung in die Metaphysik
der Sitten bezeichnet Kant »das andere Glied der
Eintheilung der praktischen Philosophie überhaupt«
als »die moralische Anthropologie« (MdS, 217).
Während die reine Moralphilosophie und die Metaphysik
der Sitten von aller Empirie abstrahieren und
um den Begriff einer notwendigen und apriorischen
Verpflichtung kreisen, stellt die praktische oder moralische
Anthropologie eine angewandte Wissenschaft
dar. Die Kenntnis des Menschen ist unverzichtbar,
weil die Anwendung der moralischen Gesetze
auf Einzelfälle und ihre Verankerung im Wollen
einer Person »durch Erfahrung geschärfte Urteilskraft
« (GMS, 389; vgl. 410 Anm., 412) erfordern. In
den Worten der Metaphysik der Sitten: Die moralische
Anthropologie erforscht »nur die subjective,
hindernde sowohl als begünstigende Bedingungen
der Ausführung der Gesetze« (MdS, 217) der Moral.
Ist diese ›moralische‹ oder ›praktische‹ Anthropologie
mit der ›pragmatischen‹ identisch, oder enthält
die Letztere zumindest die Erstere? Oder versucht
Kant in der Anthropologie sogar die Frage nach
der Bestimmung des Menschen zu beantworten? In
der Kritik der reinen Vernunft vertritt Kant die Ansicht,
dass die Philosophie ihrer inneren Natur nach
für den Menschen unvermeidlich ist, weil dieser an
ihren Themen ein ›reines Vernunftinteresse‹ nimmt.
Dieses Interesse zielt auf die Beantwortung von drei
Fragen: »1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun?
3. Was darf ich hoffen?« (KrV A 805/B 833). In einem
Brief an Carl Friedrich Stäudlin vom 4. Mai
1793 fügt Kant eine vierte Frage hinzu: »Mein schon
seit geraumer Zeit gemachter Plan der mir obliegenden
Bearbeitung des Feldes der reinen Philosophie
ging auf die Auflösung der drei Aufgaben: 1) Was
kann ich wissen? (Metaphysik) 2) Was soll ich tun?
(Moral) 3) Was darf ich hoffen? (Religion); welcher
zuletzt die vierte folgen sollte: Was ist der Mensch?
(Anthropologie; über die ich schon seit mehr als
20 Jahren jährlich ein Kollegium gelesen habe).«
(Brief, 414; vgl. 25). Wie verhalten sich diese vier
Fragen zueinander? Ohne an dieser Stelle die zahlreichen
Veränderungen berücksichtigen zu können,
die Kant in der Architektonik seiner Philosophie
zwischen 1772/73 und 1798 vorgenommen hat, kann
diese Frage grob wie folgt beantwortet werden:
Was kann ich wissen?: Kants erste Frage zielt auf
1. Immanuel Kant 13
den Ursprung, den Umfang und die Grenzen unseres
spekulativen Vernunftgebrauchs. Er beantwortet
sie in der ersten Kritik mit der vermögenstheoretischen
Unterscheidung zwischen Verstand und (der
im engeren Sinne so zu verstehenden) Vernunft.
Während der Verstand mittels seiner Begriffe die
Gegenstände der Erfahrung konstituiert, fragt die
Vernunft nach dem Unbedingten aller für uns Menschen
bedingten Erkenntnis. Diese Erkenntnis ist einerseits
material durch die in unserer Sinnlichkeit
gegebenen Vorstellungen (Empfindungen) und andererseits
durch die reinen Formen unserer Sinnlichkeit
(Raum und Zeit) und unseres Verstandes
(Kategorien) bedingt. So wenig, wie wir die allgemeinen
Strukturen der Dinge an sich selbst erkennen
können, ist es uns aufgrund der spezifischen Beschaffenheit
unserer Erkenntnisvermögen möglich,
Aussagen über die Existenz von Seele, Welt und Gott
zu treffen. Kant weist die substanziellen Erkenntnisansprüche
der von Christian Wolff in die metaphysica
generalis (Ontologie) und metaphysica specialis
(Psychologie, Kosmologie, Theologie) eingeteilten
traditionellen Metaphysik zurück, um auf der
Grundlage einer umfassenden kritischen Sichtung
der menschlichen Vernunft eine neue, auf dem transzendentalen
Idealismus beruhende Metaphysik der
Natur und der Sitten zu entwickeln. Mit der Zurückweisung
der traditionellen Substanzmetaphysik
kann der Mensch nicht mehr als ein Wesen definiert
werden, das aus einer res cogitans und einer res extensa
zusammengesetzt ist (s. Kap. IV. 22: Leib/Leiblichkeit
sowie IV.28: Person).
Was soll ich tun?: Kants zweite Frage setzt die Beantwortung
der ersten Frage voraus. Ihr Gegenstand
ist die transzendentale und praktische Freiheit des
Menschen, d. h. sein Vermögen, von sich aus nach
dem Moralgesetz in der Welt kausal wirksam zu werden.
Die prinzipielle Vereinbarkeit dieser Freiheitsidee
mit der Idee einer nach den naturkausalen Gesetzen
determinierten Welt der Erfahrung (s. Kap.
IV.12: Freiheit) meint Kant mit seiner Lehre vom
transzendentalen Idealismus zeigen zu können.
Beide Arten von Kausalität widersprechen sich nicht,
weil die transzendentale Freiheit in der intelligiblen
Welt der Dinge an sich eine mögliche Form der Kausalität
ist, während die Welt der Erscheinungen
durch die mechanischen Gesetze determiniert ist.
Ich bin also berechtigt, meine Handlungen aus zwei
verschiedenen kausalen Perspektiven zu betrachten.
Der positive Nachweis dieser Freiheit wird im Rahmen
der Moralphilosophie geleistet und im Kontext
einer Metaphysik der Sitten dogmatisch ausgeführt.
So behauptet Kant in der Kritik der praktischen Vernunft,
dass uns das Moralgesetz als ein »Faktum der
Vernunft« (KpV, 31) im Bewusstsein gegeben ist. Mit
dem Moralgesetz steht aber auch die Wirklichkeit
der praktischen Freiheit fest, weil nach Kant die Freiheit
der Wesensgrund des Moralgesetzes ist.
Was darf ich hoffen?: Der Begriff der reinen praktischen
Vernunft leitet zu Kants dritter Frage über:
Welches ist der höchste Zweck, den wir durch unsere
reine praktische Vernunft zu bewirken hoffen können?
Nach Kant umfasst dieser Zweck ein empirisches
und ein rein vernünftiges Element: Zum einen
ist der Mensch ein Sinnenwesen, das in der eigenen
Glückseligkeit seine Bestimmung als Naturwesen
findet. Er würde diese Bestimmung erreichen, wenn
es ihm gelänge, alle seine Neigungen zu befriedigen.
Zum anderen ist der Mensch aber auch ein Vernunftwesen,
und als ein solches findet er seine Bestimmung
in der Tugend. Kants fester Überzeugung
nach ist der Mensch als Individuum in dieser Welt
weder vermögend, seine natürliche noch seine moralische
Bestimmung zu erreichen. Aber er muss
doch hoffen können, seine Bestimmung zu erfüllen.
Da ferner das menschliche Streben nach Glückseligkeit
in einen Konflikt mit dem moralischen Wollen
treten kann, stellt sich die Frage, ob der Mensch
nicht alle Hoffnung fahren lassen muss, sein natürliches
Streben nach Glückseligkeit mit seinem moralischen
Streben nach Tugend vereinbaren zu können.
Müsste er diese Hoffnung aufgeben, würde dies nach
Kant negative Auswirkungen auf die moralische Motivation
haben. Denn eine Vernunft, welche die Tugend
als Zweck vorgibt, aber keinen Weg vorzeichnen
kann, auf dem dieser Zweck auch erreicht werden
kann, ist in sich widersprüchlich. Kant beantwortet
die dritte Frage im Rahmen seiner Lehre
vom höchsten Gut: Unter der Voraussetzung der Unsterblichkeit
der Seele, der Existenz Gottes und der
Freiheit des Menschen kann der Mensch auf eine
Proportionalität von Tugend und Glück nach dem
irdischen Tod hoffen (vgl. KpV, 132 ff.). Wer tugendhaft
handle, erweise sich der Glückseligkeit als würdig.
Was ist der Mensch?: Kants vierte Frage kann nicht
unabhängig von seinen ersten drei Fragen verstanden
werden. Denn bei seiner Antwort greift er auf
normative und deskriptive Theorieelemente zurück,
die er im Kontext seiner Beantwortung der ersten
drei Fragen entwickelt hat. So beantwortet er die
normative Frage nach der moralischen Bestimmung
des Menschen nicht in der Anthropologie, sondern
im Rahmen seiner kritischen Hauptwerke. Beispiels14
II. Klassiker
weise heißt es in § 84 der Kritik der Urteilskraft, dass
das Dasein des Menschen als eines noumenalen Wesens
»den höchsten Zweck in sich hat«. Als »Subjekt
der Moralität« existiert der Mensch als Endzweck,
dem »die ganze Natur teleologisch untergeordnet
ist« (KdU, 435–436), d. h. die Natur ist kein bloß mechanisches
Geschehen, sondern muss vielmehr so
beurteilt werden, als ob der Mensch ihr höchster
Zweck wäre. Die Natur will demnach, dass der
Mensch sich in ihr als frei handelndes Wesen realisiert.
Die in der Freiheit bestehende Würde hebt den
Menschen nicht nur über den Mechanismus der Natur,
mit ihr wird dem Menschen zugleich ein oberster
oder letzter Zweck vorgegeben, den er in dieser
Welt realisieren soll. Weil der Mensch einen Vorzug
vor allen anderen Lebewesen in der Welt hat, rechtfertigt
dies unsere Beschäftigung mit ihm: »Es intereßirt
uns also der Mensch mehr als die Natur, denn
die Natur ist wegen des Menschen, der Mensch ist
der Zweck der Natur.« (AA XXV, 470). Die in der
Anthropologie zu beantwortende Frage nach dem
Menschen kann also nicht so verstanden werden, als
ob Kant in dieser Disziplin die Tugend als den letzten
Zweck des Menschen bestimmen würde. Kants
pragmatische Anthropologie tritt demnach nicht
(wie bei David Hume) an die Stelle der Metaphysik,
sondern setzt sie voraus. Ob die Anthropologie als
»›fundamentalethische Anthropologie‹« entgegen
Kants eigener Auskunft »eine wesentliche Rolle«
(Höffe 1994, 102; siehe auch Wood 1991) für die
Ethik spielt, kann an dieser Stelle nicht diskutiert
werden.
Obwohl die Vorlesungen über pragmatische Anthropologie
und die Anthropologie von 1798 sicherlich
nicht mit der moralischen oder praktischen Anthropologie
identisch sind und die Buchfassung
auch nicht die Erwartungen erfüllt, die Kant in ihrem
Vorwort bei seinen Lesern weckt, enthalten sie
doch Lehrstücke, die der angewandten Philosophie
zugehören. Das »aus Beobachtung und Erfahrung«
(VAnthr, 7) gewonnene pragmatisch-technische
Wissen befähigt nämlich nicht nur dazu, sich in der
natürlichen Welt zu orientieren, es setzt auch in den
Stand, Maßnahmen zur Verbesserung der moralischen
Situation des Menschen in der Welt zu ergreifen.
Wenn wir es denn wollen und uns klug genug
anstellen, können wir (im Prinzip) unsere moralische
Bestimmung in dieser Welt erreichen. Der
Mensch ist durch seine reine praktische Vernunft
dazu bestimmt, »in einer Gesellschaft mit Menschen
zu sein und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaften
zu cultiviren, zu civilisiren und zu moralisiren
« (Anthr, 324). Dieser Prozess der fortschreitenden
Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung
setzt mit der Erziehung des Menschen »zum Guten«
(Anthr, 324–325; vgl. VAnthr, 858) ein. Doch wie
kann der Mensch »zum Guten« erzogen werden,
wenn sein Erzieher selbst dieser Erziehung bedarf?
Dieses Paradoxon kann Kants Verständnis nach nur
durch glückliche Umstände und Gelegenheiten aufgelöst
werden.
Die Präsenz der reinen Moralphilosophie in der
Anthropologie kann an den beiden Themenfeldern
zum einen der Motivation und des Charakters und
zum anderen des Rechts verdeutlicht werden (vgl.
Firla 1981; Louden 2000, 69; Louden 2003 sowie kritisch
Brandt/Stark 1997, XLVI-L; Brandt 1999, 14–
20).
Moralphilosophie und Anthropologie
Motivation und Charakter: Mit einiger Ausführlichkeit
äußert sich Kant zu den empirischen Ressourcen
und Voraussetzungen moralischen Wollens und
Handelns. Zwar vermag der Mensch prinzipiell nach
der Vorstellung von Begriffen zu handeln. Weil aber
der Charakter das »Principium der freien Handlungen
aus Grundsätzen« (VAnthr, 630) ist und es Menschen
gibt, die in diesem Sinne keinen (z. B. schwer
geistig Behinderte) oder noch keinen (z. B. Kinder)
Charakter haben, können wir praktizierte Moralität
nicht bei allen Menschen erwarten. Denn nur wer
über Einsicht in Grundsätze verfüge, könne auch einen
Charakter haben. Männer erwürben einen Charakter
selten vor ihrem 40. Lebensjahr. Weit verbreitete
Vorurteile seiner Zeit teilend geht Kant davon
aus, dass die Natur der Frau dem Erwerb eines Charakters
»nicht so angemessen« (VAnthr, 631) scheint.
Wer keinen Charakter besitze, dessen Handeln
werde durch sinnliche Triebfedern und Begierden
bestimmt, aber er handle nicht aus Neigung. Denn
eine Neigung stellt eine zu einem Habitus gewordene
sinnliche Begierde dar (vgl. Anthr, 251), die auf subjektiven
Grundsätzen (Maximen) beruht, die Kants
Meinung nach in der Regel nur bei Männern anzutreffen
sind. Wer aber gar keine Maximen hat, dem
fehlt der Bezugspunkt für die Anwendung des Kategorischen
Imperativs. Wer keinen entweder guten
oder bösen Charakter besitzt, ist moralisch verloren,
weil es für ihn keinen guten Willen und keinen moralischen
Fortschritt geben kann (vgl. VAnthr, 631).
Vor diesem Hintergrund muss auch Kants negative
Charakterisierung der Leidenschaften verstan1.
Immanuel Kant 15
den werden. Leidenschaften wie Ehrsucht, Herrschsucht
und Habsucht sind »Krebsschäden für die
reine praktische Vernunft und mehrenteils unheilbar:
weil der Kranke nicht will geheilt sein und sich
der Herrschaft des Grundsatzes entzieht, durch den
dieses allein geschehen könnte.« (Anthr, 266). Leidenschaften
sind »nicht bloß pragmatisch verderblich,
sondern auch moralisch verwerflich« (Anthr,
267). Am Begriff der zur Leidenschaft gewordenen
Neigung wird die ganze Strenge der kantischen Konzeption
moralischer Zurechnung deutlich: Die Person
(s. Kap. IV. 28) ist im vollen Sinne des Wortes für
sie verantwortlich. Denn wer aus Neigung handelt,
hat es sich zur Maxime gemacht, niemals aus Achtung
vor dem Moralgesetz handeln zu wollen. Aufgrund
ihrer Dauer unterscheidet sich die Neigung
von Affekt und Leidenschaft, die ihrerseits zugerechnet
werden können, weil sie die Freiheit einer Person
voraussetzen: »Der Affekt tut einen augenblicklichen
Abbruch an der Freiheit und der Herrschaft über
sich selbst. Die Leidenschaft gibt sie auf und findet
ihre Lust und Befriedigung am Sklavensinn.« (Anthr,
267). Weil Leidenschaften Kants Verständnis
nach unsere Vernunft und Freiheit aufheben, verfügen
Tiere auch nicht über Leidenschaften. Sklave
seiner Leidenschaften kann nur derjenige sein, der
auch ihr Herr hätte sein können. Das ist bei Tieren
aber ausgeschlossen (vgl. Anthr, 269; vgl. 270).
Das Recht: Vor der Furie der Leidenschaften rettet
den Menschen allein das Recht. Aufgrund seiner
›reinen praktischen Vernunft‹ wünscht er, sich in einen
Zustand mit seinen Mitmenschen zu begeben,
in dem »jedem das zuteil werden kann«, was das
»unmittelbar aus dem Begriff der äußeren Freiheit«
(Anthr, 170–271) hervorgehende Recht will. Das
Recht ist für Kant der Schlüssel zur innerweltlichen
Realisierung der moralischen Bestimmung zwar
nicht des einzelnen Menschen, wohl aber der Gattung.
Der Eintritt in »irgendeine bürgerliche Gesellschaft
« (Anthr, 330) ist aus praktischen Gründen
notwendig, weil allein in ihr die Freiheit der einen
Person mit der Freiheit der anderen Person in eine
gesetzliche Übereinstimmung gebracht werden
kann. Der Fortschritt der menschlichen Gattung bemisst
sich somit nicht (wie beim einzelnen Menschen)
an der Tugend, sondern an der Verwirklichung
des friedensstiftenden Rechts. Der Motor des
Rechtsfortschritts der menschlichen Gattung sind
für Kant bestimmte Völker. Dementsprechend beurteilen
wir den Wert eines Volkes ausschließlich nach
seinem Beitrag, den es für die Verbesserung des
Rechtszustandes der Welt leistet. Dabei hätte die
menschliche Gattung ihre innerweltliche Bestimmung
nach Kant genau dann erreicht, wenn es ihr
gelungen wäre, die äußeren Beziehungen zwischen
ihren Angehörigen nach dem Vernunftrecht zu regeln,
das seinerseits im angeborenen Freiheitsrecht
des Menschen seine letzte, moralische Begründung
erfährt. Aus diesem Grunde äußert sich Kant in seinen
geschichtsphilosophischen und anthropologischen
Schriften auch sehr anerkennend über die europäische
Verfassungsgeschichte seit der griechischen
Antike, die seiner Einschätzung nach eine
Vorbildfunktion für die ganze Welt hat. Und aus
demselben Grunde begeistert er sich für das Unterfangen
des französischen Volkes nach 1789, sich eine
Angriffskriege ausschließende republikanische Verfassung
zu geben. Die Republik ist die »wahre bürgerliche
Verfassung«, weil in ihr »Gewalt mit Freiheit
und Gesetz« verbunden ist. In der »weltbürgerlichen
Gesellschaft (cosmopolitismus)« (Anthr, 331)
findet das Menschengeschlecht somit seine Bestimmung.
Ausblick
Das Verhältnis von reiner Philosophie und pragmatischer
Anthropologie wird von Kant letztlich nicht
eindeutig geklärt, was sicherlich auch mit den diversen
Ansprüchen zu tun hat, die Kant an die Anthropologie
stellt, insbesondere mit ihrer Nähe zur empirischen
Psychologie (vgl. umfassend Sturm 2009).
Letztere ist in Kants Rede von der »Anthropologie
des inneren Sinnes« präsent, die als »theoretische
Erkenntnis« eine »Kenntnis unseres denkenden
Selbst im Leben« (KdU, 461) ist. In der Kritik der Urteilskraft
heißt es, dass die »psychologischen Bemerkungen
« über die »Phänomene unseres Gemüts […]
reichen Stoff zu den beliebtesten Nachforschungen
der empirischen Anthropologie« geben (KdU, 277).
Sodann behauptet Kant in der Vorrede zu der (nicht
von ihm edierten) Logik, dass unsere Fragen nach
dem Wissen, Sollen und Hoffen »im Grunde« zur
Anthropologie gerechnet werden können, »weil sich
die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen« (Logik,
25). Wie jedoch alle Philosophie Anthropologie
sein kann, wenn die reine praktische Vernunft apriorische
Ansprüche erhebt, die über die Existenz und
empirische Natur des Menschen hinausgehen, bleibt
ungeklärt. In einer Reflexion deutet Kant mit dem
Ausdruck »anthropologia transscendentalis« (AA
XV, 395; vgl. Hinske 1966, 427) eine Art von Fundamentalanthropologie
an, zu der er sich aber eben16
II. Klassiker
falls nicht näher äußert. Eine Anthropologie, die
transzendental sein will, kann jedenfalls keine Anthropologie
im Sinne der physiologischen, empirischen,
pragmatischen, praktischen oder moralischen
Anthropologie sein. Sie wäre schlicht ein neuer
Name für unser transzendentales Wissen über den
Menschen als eines denkenden, wollenden und hoffenden
Wesens. Rätselhaft bleibt schließlich auch die
Idee einer durch keine Anthropologie zu ersetzenden
»Anthroponomie«, einer Gesetzgebung für den
Menschen, die durch die »unbedingt gesetzgebende
Vernunft aufgestellt wird« (MdS, 406; dazu Wenzel
1992, 276–280).
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Heiner F. Klem