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Gewinnwarnung
Religion – nach ihrer Wiederkehr
Hans-Joachim Höhn
Schöningh Wissenschaft
EAN: 9783506782809 (ISBN: 3-506-78280-0)
216 Seiten, paperback, 14 x 22cm, 2015
EUR 24,90 alle Angaben ohne Gewähr
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Umschlagtext
Die Wiederkehr des Religiösen im Säkularen wird seit Jahren kontrovers diskutiert. Es ist Zeit für eine Zwischenbilanz: Müssen die von der säkularen Vernunft nahegelegten Zuordnungen von Religion und Kultur revidiert werden? Ab wann bedroht die Rücksichtnahme auf religiöse Traditionen und Praktiken die Freiheits- und Toleranzgewinne liberaler Gesellschaften?
Eine "Wiederkehr der Religion" geschieht nicht selten in einer kulturell regressiven Form. Es ist Zeit für eine kritische Bestandsaufnahme der widerstreitenden Prozesse von Verdrängung und Eindringen religiöser Lebensformen in säkulare Gesellschaften. Wie sich dabei Gewinn und Verlust ermitteln lassen, muss zum Kernthema sozial- und religionstheoretischer Diskurse werden. Angesichts des breiten Spektrums von fanatischer Intoleranz, fundamentalistischer Borniertheit bis hin zu subtiler Modernitätspolemik und verdeckter Aufklärungsverweigerung ist es angezeigt, die Erwartung einer "postsäkularen" Zeit mit einem Warnsignal zu versehen – frei nach den Gewinnwarnungen an der Börse.
In Fallstudien zum Status von Religionen im säkularen Rechtsstaat, zum religiösen Fundamentalismus im Internet und zum Phänomen einer "sacrophilen" Religionskritik erörtert H.-J. Höhn Risiken und Chancen einer Wiederkehr religiöser Lebensformen im Format einer Theorie reflexiver Säkularisierung.
Rezension
Kehrt die Religion in der säkularen Kultur der (Post-)Moderne nun zurück oder nicht? Und darf die aufklärerisch (post-)moderne Religionsfreiheit und -toleranz so weit gehen, dass religiöse Traditionen (der Vor-Moderne) kulturell regressiv die Errungenschaften liberaler Gesellschaften gefährden (wie es z.Zt. nicht nur der Islamismus sondern auch fundamentalistische Christen versuchen)? Das sind die Schlüsselfragen, die dieses Buch thematisiert. Wieviel ist dabei Gewinn und wieviel ist Verlust? Deshlab der Buchtitel "Gewinnwarnung": Angesichts fanatischer Intoleranz, fundamentalistischer Borniertheit, subtiler Modernitätspolemik und verdeckter Aufklärungsverweigerung sucht der Autor, selbst Theologe, zu Recht, die Erwartung einer "postsäkularen" Zeit mit einem Warnsignal zu versehen - und nicht in den üblichen religiösen Jubel über die sog. "Wiederkehr der Religion" einzustimmen. - Fazit: Ein wichtiges Buch zum Säkularisierungstheorem und eine kritische Zwischenbilanz des religionstheoretischen Diskurses der letzten 10-15 Jahre!
Thomas Bernhard, lehrerbibliothek.de
Inhaltsverzeichnis
VORWORT 9
I. ENTGLEISUNGEN?
PHÄNOMENE REFLEXIVER MODERNISIERUNG 13
1. Umstrittene Säkularisierung:
Religion – nach ihrer Wiederkehr 20
2. Schlaglichter:
Multiple Moderne – Multiple Säkularisierung 32
3. Ein sacrophages Zeitalter?
Lineare und reflexive Säkularisierung 42
3.1. Modernisierung:
Erfolgreich – aber aus dem Ruder gelaufen 44
3.2. Säkularisierung:
Effizient – aber mit ungewollten Spätfolgen 47
II. AUFWIND UND GEGENWIND:
FALLSTUDIEN ZUR REFLEXIVEN SÄKULARISIERUNG 55
1. Wer braucht eigentlich wen?
Religion(en) im liberalen Rechtsstaat 60
1.1. Staatliche Anerkennung religiöser Pluralität:
Politisches Gebot oder religiöses Eigeninteresse? 62
1.2. Platztausch:
Religiöse Angewiesenheit auf staatliche Garantien? 70
1.3. Klärungsbedarf:
Grenzwerte für religiöse Sonderrechte? 75
1.4. Loyalität und Respekt:
Was Religionen einander und dem Rechtsstaat schulden 79
2. Der beleidigte Gott:
Meinungsfreiheit versus Religionsfreiheit? 90
2.1. Verletzt, gekränkt, empört:
Provozierender Glaube – provozierter Glaube 92
2.2. Unter Diskriminierungsverdacht:
Verletzte Gefühle – verletzte Würde? 97
2.3. Zorn und Eifer:
Religion zwischen Emotion und Kritik 106
3. Ins Netz gegangen:
Religiöser Fundamentalismus im Internet 112
3.1. Religiöser Fundamentalismus:
Produkt einer modernen Gegenmoderne 115
3.2. Das Internet:
Religionsförmiges Faszinosum 119
3.3. Fundamentalismus online:
Links und Gegenlinks 125
3.4 Medialer Fundamentalismus:
Innovation und Regression 129
III. „WO FÜHRT DAS ALLES HIN?“
PERSPEKTIVEN DER RELIGIONSPROGNOSTIK 133
1. Fragwürdige Prämissen:
Religion – eine anthropologische Konstante? 141
2. Religion für Atheisten:
Sacrophile Säkularisierung? 145
2.1. MythenKonsum:
Religiöser und säkularer Synkretismus 146
2.2. GegenMythen:
Religiöse Dekonstruktion des Säkularen 152
3. Säkularisierungsresistent?
Religion – nach ihrem Ende 168
3.1. „Religion“ auf dem Prüfstand:
Philosophische Aufklärung 170
3.2. Existenz und Transzendenz:
Unkündbare Beziehungen? 174
3.3. Religiöse Transformationen:
Resonanzen des Säkularen? 185
IV. ZEITDIAGNOSE UND KULTURKRITIK:
THEOLOGIE UND SOZIOLOGIE IM DIALOG ? 205
AUSWAHLBIBLIOGRAPHIE 211
Leseprobe:
VORWORT
Für geraume Zeit haben Philosophen, Sozialtheoretiker und Historiker
das Verhältnis von Religion und Moderne als eine Mesalliance
gedeutet. Es handelt sich für sie um eine unglückliche Verbindung
von Partnern, die wegen fehlender gegenseitiger Anpassungsbereitschaft
zum Scheitern verurteilt ist. Am besten sollte diese Beziehung
durch eine baldige Trennung beendet werden. Spätestens die Scheidungsurkunde
dürfte die Modernitätsunverträglichkeit der Religion
und die Religionsunverträglichkeit der Moderne definitiv feststellen.
Gemäßigtere Kreise, welche die Kompatibilität von Religion und
Moderne ebenfalls skeptisch beurteilten, registrierten zwar, dass sich
die Religion nicht umfassend modernisieren wollte. Ihnen war auch
klar, dass von Seiten der Moderne keine Rücksichtnahme auf religiöse
Belange nötig war. Im Blick auf die zunehmende sozio-kulturelle
Unerheblichkeit religiöser Überlieferungen stellten sie sich aber darauf
ein, dass religiöse Weltdeutungen auf undramatische Weise
durch säkulare ersetzt werden. Nicht die Annahme eines konfliktreichen
Gegensatzes, sondern die Erwartung einer allmählichen Ablösung
und Überwindung des Religiösen kennzeichnet ihre Position.
Sie müssen nicht den Gang zum Scheidungsrichter beschreiten.
Trennungen lassen sich auch anders herbeiführen und besiegeln.
Bisweilen genügt das gelassene Abwarten auf ein ohnehin unausweichliches
Beziehungsende. Nicht ein spektakuläres Scheidungsurteil,
sondern der sanfte Tod der Säkularisierung wird den Schlußstrich
ziehen.
Von nahezu all diesen Annahmen und Erwartungen hat sich die
religionstheoretische Debatte der letzten Jahre verabschieden müssen.
Dies betrifft vor allem sozial- und kulturtheoretische Konzepte,
die ein Gleichheitszeichen zwischen die Größen Modernität und Säkularität
gesetzt haben. Vielfach wird ein genereller Nexus von Modernität
und Säkularität nur noch im Blick auf europäische Gesellschaften
konstatiert und nicht mehr für den Regelfall, sondern für
die Ausnahme sozialen Wandels im Weltmaßstab gehalten. Auf
diese Weise kann das Säkularisierungstheorem von überzogenen
Universalisierbarkeitsansprüchen entlastet und von prekären globalhistorischen
Prognosebehauptungen befreit werden. Aber auch im
europäischen Kontext sind durchaus unterschiedliche Konfigurationen
von Säkularität zu notieren, wenn es etwa um das institutionelle
Verhältnis von Staat und Religion geht. Das Spektrum reicht von
Resten eines Bündnisses von Thron und Altar (England) über ein
Kooperationsmodell (Deutschland) bis hin zu einem strikt laizistischen
Verständnis staatlicher Politik (Frankreich).
Während der Focus religionssoziologischer Forschungen zunehmend
auf die Analyse von „multiple secularities“ (M. Wohlrab-Sahr)
im internationalen Vergleich gerichtet ist, unternehmen die folgenden
Erörterungen den Versuch, in einem nationalen Kontext unterschiedliche
Entwicklungspfade von Säkularisierungsprozessen auszumachen
und nach ihrer sozio-kulturellen Bedeutung zu fragen.
Dabei soll gezeigt werden, dass eine kontextuell angepasste und in
diesem Sinne pluralitätsfähige Verwendung des Paradigmas „Säkularisierung“
noch immer mit beträchtlichen sozial- und religionstheoretischen
Erklärungsleistungen aufwarten kann. Anders formuliert:
Der Verzicht auf ein derart modifiziertes Säkularisierungstheorem
geht mit einem erheblichen Verlust an Erklärungsmöglichkeiten für
divergente Transformationsprozesse des Religiösen einher.
Um dieses Projekt einer kontextspezifischen Bestimmung multipler
Modernisierungs- und Säkularisierungspfade sozialwissenschaftlich
abzusichern, erfolgt zunächst ein Rückgriff auf die Theorie reflexiver
Modernisierung von Ulrich Beck. Mit diesem Ansatz kann
nicht nur ein spezifischer Typus sozialen Wandels hinsichtlich seiner
Grundlagen und ambivalenten Folgen präzise bestimmt werden.
Vielmehr lässt sich damit auch eine Theorie reflexiver Säkularisierung
konzipieren, die unter den verschiedenen Konstellationen und
Konfigurationen von Kultur und Religion in der Moderne wiederum
einen spezifischen Typus identifiziert, mit dem sich zahlreiche Phänomene
einer Verdrängung und prekären Wiederkehr des Religiösen
in säkularen Kontexten erklären lassen. Die Erklärungskraft dieses
Ansatzes wird über eine Reihe von Fallstudien erprobt, die sich
auf aktuelle Debatten um die Selbstbehauptung des Religiösen innerhalb
fortwirkender Entmythologisierungs- und Säkularisierungsprozesse
beziehen. Dabei soll gezeigt werden, dass „aufklärerische“ Arrangements,
die auf die gesellschaftliche Marginalisierung religiöser
Traditionen drängen, weil man in ihnen ein Übermaß aufklärungsresistenter
Anschauungen vermutet, in hohem Maße eine problemerzeugende
Problemlösung darstellen. Am Ende stellt sich heraus,
dass ungewollte Nebeneffekte zu neuen Hauptproblemen werden.
Ansatz und Ambition dieses Buches artikuliert der Titel: Gewinnwarnung!
Er ist mehrdeutig und soll mehrere Absichten deutlich machen.
Zum einen geht es um eine kulturkritische Reflexion eines kulturellen
Fortschrittsgedankens, der in einer religionslosen Zukunft
ein erstrebenswertes Ziel der Moderne sieht und für dieses Streben
die Kategorie „Säkularisierung“ als Leitvokabel einsetzt. Zum anderen
geht es um eine kritische Reflexion der in religiösen Kreisen einsetzenden
Erleichterung über das einstweilige Ausbleiben einer religionslosen
Zukunft. Beim Aufkommen alter und neuer Formate religiöser
Praxis angesichts einer „entgleisenden Modernisierung“ (J.
Habermas) ist nicht in jedem Fall ausgemacht, dass das Religiöse als
gesellschaftliche Produktivkraft wirksam wird. Bei seiner Wiederkehr
kann es sich auch um kulturelle und religiöse Rückschritte handeln.
Sollten sich diese regressiven Kräfte in modernen Gesellschaften
festsetzen, würden sie auch die unbestreitbaren Freiheits- und Fortschrittsgewinne
von Säkularisierungsprozessen in Frage stellen. Daran
können auch jene Akteure und Initiativen kein Interesse haben,
die sich um die Übersetzung der emanzipatorischen Potentiale religiöser
Traditionen in die Kultur der Moderne bemühen oder am
Projekt einer nachholenden Modernisierung religiöser Institutionen
arbeiten. Leicht hat es dieses Projekt ohnehin nicht. Innerhalb der
christlichen Kirchen wird es immer wieder als Selbstsäkularisierung
kritisiert. Als probates Gegenmittel propagiert man das moralisch,
liturgisch und dogmatisch Unzeitgemäße. Auf diese Weise sollen
Zeichen einer produktiven Ungleichzeitigkeit gesetzt werden. Aber
eine Selbstsakralisierung religiöser Institutionen ist nicht weniger
prekär als ihre Selbstsäkularisierung. Zu gewinnen ist für das Christentum
auf beiden Wegen kaum etwas.
Die folgenden Erörterungen wollen vor diesem Hintergrund eine
Zwischenbilanz des religionstheoretischen Diskurses der letzten 10-
15 Jahre ziehen und schreiben hinsichtlich Theorie und Empirie
meine Studie „Postsäkular. Gesellschaft im Umbruch – Religion im
Wandel“ (Paderborn 2007) fort. Dabei ist eine Quersumme meiner
bisherigen religionssoziologischen und theologischen Beobachtungen
zu Chancen und Grenzen einer „Wiederkehr der Religion“ entstanden.
Dass sich in diesen Überlegungen auch etliche Passagen finden,
die sich quer stellen zum theologischen Gegenwartsdiskurs, war
anfangs nicht beabsichtigt. Aber vielleicht erhöht dies die Rezeptionschancen
dieser Texte – und den Gewinn bei ihrer Lektüre. Dankbar
bin ich für die Unterstützung von Judith Krain und Gregor Reimann
bei der Endredaktion des Buches.
Köln im Sommer 2015
Hans-Joachim Höhn
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