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Erziehung sehen, analysieren und gestalten
Ewald Kiel (Hrsg.)
Verlag Julius Klinkhardt
EAN: 9783781518803 (ISBN: 3-7815-1880-9)
224 Seiten, paperback, 15 x 21cm, 2012
EUR 19,90 alle Angaben ohne Gewähr
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Umschlagtext
Der vorliegende Band versucht auf das Erziehen in der Schule vorzubereiten, indem er anhand der Diskussion von authentischen Fällen strukturiert in wichtige Problemfelder der Erziehungstheorie einführt. Zentrale Begriffe der Strukturierung sind „sehen“, „analysieren“ und „gestalten“.
Erziehung sehen meint die Identifikation von erzieherischen Problemkonstellationen anhand authentischer Fallgeschichten. Erziehung analysieren bezieht sich auf die Diskussion der Fälle entlang zentraler erziehungswissenschaftlicher Theorien. Erziehung gestalten verweist auf die Reflexion der wissenschaftlichen Begriffe auf der Basis fallorientierter und theoretischer Aufgaben, welche sich sowohl für das selbstorganisierte Lernen als auch für die Bearbeitung in Seminaren eignen.
Das Buch richtet sich an Lehramtsstudierende in der ersten Ausbildungsphase, an Referendare, aber auch an alle in der Lehrerausbildung tätigen Personen sowie an Eltern, die an erzieherischen Fragestellungen über die häusliche Umgebung hinaus im Kontext Schule interessiert sind.
Rezension
Konkrete und authentische Fallgeschichten führen in diesem Band in erzieherische Problemkonstellationen ein und eröffnen damit dem Pädagogikstudenten, dem Referendar oder auch dem (Jung-)Lehrer die Möglichkeit, sich über pädagogische Handlungsoptionen im schulpädagogischen Kontext fall-basiert Gedanken zu machen und pädagogische Lösungen zu suchen inmitten der Kontroverese zwischen intentionalem Erziehungsbegriff und Anti-Pädagogik; denn die Anti-Pädagogik fordert, Kinder nicht zu erziehen. Dieses Buch hingegen definiert Erziehung als ein legitimes intentionales Handeln, bei dem Erwachsene mit sozialen Handlungen auf psychische Dispositionen von Kindern einwirken, um diese zu verändern, zu erhalten oder unerwünschte zu verhüten.
Oliver Neumann, lehrerbibliothek.de
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung: Was ist Erziehung? (Ewald Kiel) 9
2 Denken in Systemen (Sabine Weiß) 17
2.1 Erziehen als Denken in Systemen 17
2.2 Systemtheorie und ökosystemischer Ansatz 18
2.2.1 Grundlagen der Systemtheorie 18
2.2.2 Der ökosystemische Ansatz von Bronfenbrenner 20
2.2.3 Das Konzept gegen schulische Gewalt von Dan Olweus 24
2.3 Die Institutionen der Erziehung 27
2.3.1 Wandel von Familie und Erziehung 27
2.3.2 Die Familie 29
2.3.3 Die Schule 32
2.4 Denken auf Systemebene für Beratung und Therapie 34
2.4.1 Klassifi kation systemischer Beratungs- und Therapieansätze 34
2.4.2 Grundlagen systemischer Beratung und Therapie 37
2.5 Aufgaben 39
2.6 Literatur 42
3 „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“ (Eva Steinherr) 45
3.1 Freiheit und Zwang in der Erziehung? 45
3.2 Freiheit statt Zwang 48
3.2.1 Bedrohung der Freiheit durch gesellschaftliche Verführung 49
3.2.2 Bedrohung der Freiheit durch Bestrafung und Belohnung 51
3.2.3 Bedrohung der Freiheit durch bevormundende Belehrung 52
3.3 Zwang statt Freiheit 56
3.3.1 Freiheit als Antwort Kants auf den Zwang in seiner Kindheit: Man darf den Eigenwillen des Kindes nicht brechen 57
3.3.2 Freiheit als Antwort Neills auf den Zwang in seiner Kindheit: Verzicht auf Schulpflicht in Summerhill 61
3.4 Durch Zwang zur Freiheit? 63
3.4.1 Sinnvolle Grenzsetzungen sorgen für Disziplin, solange das Kind zur Selbstdisziplin noch nicht fähig ist 65
3.4.2 Sinnvolle Grenzen sind vor allem Beschränkungen, die sich aus dem natürlichen Widerstand der Dinge ergeben 67
3.4.3 Grenzsetzungen sind eine notwendige, aber nicht hinreichende Grundlage für Freiheit. In dem Maße, in dem ein Kind eigene Urteilsfähigkeit entwickelt, machen sie sich überflüssig 69
3.5 Ausblick: Maximale Freiheit in der Antipädagogik? 72
3.6 Aufgaben 74
3.7 Literatur 77
4 Menschenbilder im Erziehungsprozess (Thomas Lerche) 81
4.1 Der Mensch als „homo mutan(du)s“ 82
4.2 Historische Entwicklung von Menschenbildern 85
4.3 Menschenbilder als Grundlage von Erziehungszielen und Erziehungshandeln 88
4.4 Menschenbilder in der Diskussion „Freiheit vs. Zwang“ 91
4.5 Systemtheoretische Erziehungstheorien und ihre zugrunde liegenden Menschenbilder 93
4.5.1 Michel Foucault: Disziplin und Strafe 94
4.5.2 Niklas Luhmann: Der Mensch als selbstrefl exives System 98
4.6 Lernpsychologische Erziehungstheorien und ihre zugrunde liegenden Menschenbilder 102
4.6.1 Burrhus Frederic Skinner: Belohnung und Bestrafung 102
4.6.2 Ernst von Glasersfeld: Erziehung als soziales Aushandeln 107
4.7 Klaus Schneewind: Freiheit in Grenzen 112
4.8 Aufgaben 117
4.9 Literatur 121
5 Erziehung zwischen Familie und Schule (Wolf-Thorsten Saalfrank) 123
5.1 Erziehungsverantwortlichkeiten 123
5.2 Erziehung in der Familie 124
5.2.1 Das Grundrecht auf Erziehung liegt bei den Eltern – Art 6, 2 GG 125
5.2.2 Wenn elterliche Erziehung scheitert – Das Kinder- und Jugendhilfegesetz 128
5.3 Erziehung in der Schule 132
5.3.1 Schule als sekundäre Sozialisationsinstanz – Der Erziehungsund Bildungsauftrag der Schulen 133
5.3.2 Verweise, Nachsitzen, Schulausschluss – Der Bereich der Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen 135
5.3.3 Unterricht und/oder Erziehung? – Welche Aufgabe hat die Schule? 141
5.3.4 Wer erzieht wohin? – Diskrepanzen zwischen elterlichem und schulischem Erziehungshandeln 146
5.4 Erziehungsvereinbarungen als Lösungsansatz 150
5.4.1 Erziehung als Kooperation – Die Erklärungen von Wiesbaden und Bonn 150
5.4.2 Erziehungsvereinbarung und Schulverfassung – Beispiele aus der Praxis 152
5.5 Aufgaben 156
5.6 Literatur 158
6 Milieuspezifische Erziehungsstile (Sylva Liebenwein) 161
6.1 Die sozialen Milieus in Deutschland 162
6.2 Bildungsaspirationen in den sozialen Milieus 166
6.2.1 Milieuzuordnung – Einschränkungen 166
6.2.2 Konservativ-etabliertes Milieu – Das klassische Establishment 166
6.2.3 Sozialökologisches Milieu 167
6.2.4 Prekäres Milieu 168
6.3 Erziehungsstile in den sozialen Milieus 169
6.3.1 Konservativ-etabliertes Milieu: Autoritative Erziehung 171
6.3.2 Sozialökologisches Milieu: Demokratische Erziehung 172
6.3.3 Prekäres Milieu: Vernachlässigende Erziehung 172
6.3.4 Autoritäre Erziehung 173
6.3.5 Permissiv-verwöhnende Erziehung 173
6.4 Desiderat: Optimierung der Erreichbarkeit durch Elternberatung und -kurse 174
6.5 Zusammenfassende Fallanalyse und Konsequenzen für das Lehrerhandeln 175
6.6 Anhang: Kurzbeschreibungen der Sinus-Milieus 176
6.7 Aufgaben 178
6.8 Literatur 179
7 Erziehung im interkulturellen Kontext (Angela Guadatiello & Wolf-Thorsten Saalfrank) 183
7.1 Die komplexe Situation von Migrantenfamilien 184
7.2 Die Migrantenmilieus in Deutschland – Ergebnisse der SINUS-Studie 186
7.2.1 Traditionsverwurzelte Migrantenmilieus 188
7.2.2 Migrantenmilieus im Prozess der Modernisierung 190
7.2.3 Postmoderne Migrantenmilieus 192
7.3 Erziehung zwischen Tradition und Moderne in türkischen Familien 194
7.4 Erziehung und Bildung – Ist die Migrantenfamilie bildungsverhindernd? 199
7.5 Aufgaben 202
7.6 Literatur 204
8 Selbsterziehung des Erziehers (Ewald Kiel & Agnes Braune) 207
8.1 Selbsterziehung im Spannungsfeld soziologischer psychologischer und geisteswissenschaftlich-pädagogischer Theorien 208
8.2 Selbsterziehung als Entwicklungsaufgabe in der Lehrerbildung 215
8.3 Fazit 217
8.4 Aufgaben 218
8.5 Literatur 220
Autorenverzeichnis 222
Leseprobe:
1 Einleitung: Was ist Erziehung?
Ewald Kiel
Markus ist elf Jahre alt. Er hat aus der Geldbörse seiner Mutter 90 Euro gestohlen
und diese 90 Euro zusammen mit erspartem Geld in eine Spielkonsole umgesetzt. Er
weiß, dass seine Mutter Spielkonsolen dieser Art ablehnt und ihm niemals eine solche
kaufen würde. Der von der Mutter getrennt lebende Vater steht solchen Konsolen
positiver gegenüber, hätte aber auch pädagogische Bedenken.
Die Mutter von Markus erhält eines Tages einen Anruf von einer anderen Mutter,
durch den ihr mitgeteilt wird, Markus habe schon seit Wochen eine Spielkonsole in
ihrem Haus deponiert. Sie wundere sich darüber, dass er diese Spielkonsole niemals
mit nach Hause nehme. Sie vermutet zu Recht „da ist etwas faul!“ Markus wird
daraufhin von der Mutter zur Rede gestellt, die den Verlust der 90 Euro noch gar
nicht bemerkt hat. Er gibt sofort alles zu, sowohl den Gelddiebstahl als auch den
Konsolenkauf.
Der Vater wird über den Vorfall nicht informiert. Er merkt jedoch über mehrere Wochen,
dass etwas mit seinem Sohn nicht stimmt, dieser sich zurückzieht. Der Vater
fragt nach Schulproblemen und erhält immer dieselbe Antwort „Alles in Ordnung,
Pa, mach dir keine Sorgen!“ Die Mutter ergreift folgende Maßnahmen: Markus erhält
vier Wochen Taschengeldentzug. Sie geht mit Markus, der Spielkonsole und der
von Markus überraschenderweise aufbewahrten Rechnung in den Laden, wo die
Konsole gekauft wurde. Sie bittet Markus den Verkäufer zu identifi zieren, sie stellt
den Verkäufer zur Rede und verlangt die Rücknahme der Konsole, obwohl sie schon
sechs Wochen alt ist. Der Laden muss sich dem Argument der Mutter beugen, die
darauf hinweist, dass einem Zwölfjährigen ohne offensichtliche Zustimmung der Eltern
keine ca. 200 Euro teuere Spielkonsole verkauft werden darf. Der Zwölfjährige
ist in diesem Sinne nicht geschäftsfähig. Markus ist das Durchsetzen der Forderung
der Mutter mit einem heftigen Wortwechsel und verschiedenen Vertretern der Verkaufsladens
sehr peinlich.
Nach diesem Gespräch werden die Leistungen von Markus in der Schule sichtlich
schwächer, und die Mutter und auch der Vater werden zu einem Gespräch in die
Schule einbestellt. Der Vater wird vorher noch über die Vorfälle informiert und
macht der Mutter heftige Vorwürfe, weil er nichts davon gewusst hat. Im Elterngespräch
wird die Lehrerin über das Erziehungsproblem informiert, und sie bittet die
Mutter ausdrücklich nicht mehr so streng mit Markus zu sein, er sei „vollkommen
von der Rolle“. Beide Eltern teilen Markus mit, dass sie den Vorfall als einmaligen
Ausrutscher betrachten wollen und es nicht nötig sei, ihn weiter anzusprechen. Die
Leistungen von Markus verbessern sich wieder, und es kommt zu keinen weiteren
Auffälligkeiten.
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Der geschilderte Vorfall kann als ein komplexes Erziehungsproblem verstanden werden,
in dem Elternhaus und Schule miteinander verschränkt sind. Es kommt zu
einer Störung im Verhältnis von Mutter und Sohn, und die Mutter versucht mit sozialen
Handlungen, wie dem Ermahnen, dem Verhängen von Sanktionen, Einfl uss
auf psychische Dispositionen zu nehmen. Sie möchte sein Verhältnis zur psychischen
Disposition Ehrlichkeit verändern und damit eine möglichst dauerhafte Transformation
seines Verhaltens oder seiner Handlungen herbeiführen. Gleichzeitig versucht
sie mit ihren Handlungen ein weiteres Erziehungsziel durchzusetzen, nämlich
virtuelle Erfahrungen, die ihrer Meinung nach für Elfjährige nicht geeignet sind,
von ihrem Sohn fern zu halten.
Erziehung, so lässt sich mit Blick auf dieses Beispiel sagen, ist intentional. Der
Erziehungswissenschaftler Wolfgang Brezinka defi niert dies wie folgt: Ein Erzieher
versucht mit sozialen Handlungen auf psychische Dispositionen eines zu
Erziehenden einzuwirken, um diese Dispositionen zu verändern, zu erhalten
oder unerwünschte zu verhüten. „Als Erziehung werden jene sozialen Handlungen
bezeichnet, durch die versucht wird, das psychische Dispositionsgefüge anderer
Menschen in irgendeiner Hinsicht dauerhaft zu verbessern oder (hinsichtlich jener
Bestandteile, die als wertvoll angesehen werden, aber gefährdet sind) zu erhalten“
(Brezinka, 1990, S. 79).
Brezinka beschäftigt sich in dieser Defi nition ausdrücklich nicht mit der Frage,
welches denn veränderungswürdige oder erhaltenswürdige Dispositionen
sind. Für ihn ist dies eine Frage von Werten und Normen, und diese sind für
ihn nicht Teil von Wissenschaft, sondern ein Teil der pädagogischen Praxis.
Mit anderen Worten, der Erziehungsbegriff von Brezinka ist inhaltsleer, er beschreibt
eine Mechanik zwischen Erzieher und zu Erziehenden. Für Eltern und
für Lehrer sieht die Sache jedoch anders aus. Sie müssen sich für Erziehungsziele
entscheiden, diese Ziele den Kindern setzen und ihre Umsetzung kontrollieren.
Wissenschaft ist für Brezinka nicht der Ort, eine solche pädagogische Praxis ist
zu beeinfl ussen.
Dieser intentionale Erziehungsbegriff wird aus unterschiedlichen Perspektiven
kritisiert:
Den wohl radikalsten Widerspruch zu einem solchen Erziehungsbegriff hat die
deutsche Anti-Pädagogik formuliert. Bei Ekkehard von Braunmühl heißt es
hierzu plakativ: „Der Anspruch, andere Menschen in ihren Grundstrukturen zu
formen, ihnen Ziele der Lebensgestaltung, den ‚Kurs fürs Leben‘ zu setzen, […],
dieser Anspruch ist es, der mit dem Begriff ‚Erziehung‘ gekennzeichnet wird.
Ihn zu durchschauen, als seinem Wesen nach intolerant, misstrauisch, totalitär
und auf Unterwerfung zielend, ist die Voraussetzung dafür, die Erziehung nicht
nur als überfl üssig, sondern als kinder-, menschen-, lebensfeindlich, als verbrecherisch
zu erkennen“ (Braunmühl, 1988, S. 78). Die Antipädagogik fordert,
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Kinder nicht zu erziehen. Stattdessen sollen sich Erwachsene authentisch verhalten.
Dadurch erzeugten sie Widerstände, welche erzieherisch wirkten.
Die Mutter von Markus dürfte in diesem Sinne das Spielen mit einer Spielkonsole
kaum verbieten. Allerdings könnte sie sich authentisch gegen das Stehlen von Geld
verwahren.
Die Antipädagogik beruft sich auf eine lange Tradition, bei der Jean-Jacques
Rousseau eine große Rolle spielt. Der erste Satz seines Erziehungsromans „Alles,
was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den
Händen des Menschen.“ (Rousseau, 1963, S. 107) kann als gegen das Erziehungshandeln
gerichtet interpretiert werden.
Eine andere Kritik an einem solchen intentionalen Erziehungsbegriff entzündet
sich an der Annahme, dass lediglich Erwachsene Einfl uss auf Kinder nehmen.
Es wird ungefähr wie folgt argumentiert: Einerseits sind Erwachsene kompetenter
und lebenserfahrener als Kinder, und sie haben deshalb ein Recht und
eine Verpfl ichtung Kinder zu erziehen. Andererseits gibt es aber auch die Möglichkeit
des Einfl usses der Kinder auf die psychischen Dispositionen der Erwachsenen.
Mit anderen Worten, aufgrund eines Kompetenzgefälles entsteht
eine Verpfl ichtung zur Erziehung, aber im Prozess des Erziehens beeinfl ussen
auch Kinder Erwachsene. Dies ist etwas verkürzend die Position, die Herbert
Gudjons in seiner populären Einführung in die Pädagogik darstellt (Gudjons,
2003). Zur Charakterisierung der Beziehung von Kindern und Erwachsenen
kann folgende Erich Fromm zugeschriebene Analogie hilfreich sein: Die Passagiere
eines Flugzeugs können einem Piloten kaum Vorschriften machen, wie
dieser ein Flugzeug zu fl iegen habe. Sie sind dafür im Allgemeinen nicht kompetent
genug, und tatsächlich wird dies wohl auch kaum vorkommen. Betrachtet
man die Piloten als Erzieher und die Kinder als Fluggäste, dann können
Kinder Wünsche äußern, aber in einem ihre Eltern erziehenden Sinne keine
Vorschriften machen, Sanktionen verhängen etc. D.h. in der erziehenden Beziehung
zwischen Erwachsenen und Kindern wird das Kompetenzgefälle unter
Absehung denkbarer Ausnahmen als gegeben vorausgesetzt. Hieraus ergibt sich
ein Recht und eine Verpfl ichtung für die Eltern zu erziehen. Umgekehrt haben
im Regelfall Kinder zwar Einfl uss auf die Eltern, aber im allgemeinen nicht das
Recht, die Verpfl ichtung oder auch die Kompetenz, ihre Eltern zu erziehen. Der
Erziehungsauftrag der Schule gibt auch ihr als Institution das Recht und die
Verpfl ichtung zur Erziehung (vgl. Saalfrank i.d.B., S. 123-160).
Ein dritter Gesichtspunkt der Kritik an dem Erziehungsbegriff von Brezinka ist
die Frage des Widerstands der Kinder. Für Brezinka scheinen Kinder zunächst
einmal eher passiv soziale Handlungen des Erziehens anzunehmen. Die pädagogische
Praxis zeigt, dass Kinder Erziehungsziele und erzieherische Maßnahmen
nicht einfach annehmen.
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Markus, im oben genannten Bespiel, stimmt dem Erziehungsziel der Mutter „Kinder
sollen reale Erfahrungen machen und keine virtuellen mit elektronischen Spielkonsolen“
nicht zu, obwohl dies nach Meinung wahrscheinlich vieler Erwachsener
ein vernünftiges Erziehungsziel ist. Er zeigt Widerstand, um seine Handlungsmöglichkeiten
zu erweitern.
Die psychologische Theorie der Reaktanz erklärt einen solchen Widerstand wie
folgt: Glaubt eine Person grundsätzlich frei zwischen verschiedenen Verhaltensalternativen
wählen zu können und erlebt dann eine Einschränkung, entsteht
eine sogenannte Reaktanz. Dies ist eine motivationale Erregung mit dem Ziel,
die bedrohte Freiheit wieder her zu stellen (vgl. Dickenberger, 1985). Setzt man
Reaktanz mit Widerstand gleich, dann wäre Reaktanz eine durchaus rationale
Reaktion. Wir wollen den Begriff Widerstand jedoch weiter fassen und unter
ihm auch eine irrationale Komponente, ein bloßes ‚Dagegensein’ mitverstehen.
Mit anderen Worten: Widerstand im Erziehungsprozess hat rationale und irrationale
Komponenten.
Ein solcher Widerstand muss keineswegs negativ gewertet werden. Widerstand
gegen Intentionen der Eltern ist Teil der natürlichen Entwicklung von Kindern.
Sie müssen sich von den Eltern emanzipieren. Es gilt, auch wenn man diesen
Widerstand für unangemessen hält, diesen als Entwicklungsschritt anzuerkennen
und nicht zu verteufeln. Der Widerstand ist eine ‚natürliche‘ Reaktion auf
das bekannte Kantische Paradox, jemanden durch Zwang zur Freiheit zu erziehen
(vgl. Steinherr i.d.B., S. 45-79). Ohne Widerstand gibt es keine Entwicklung
zur Freiheit. Moderne Erziehungstheoretiker plädieren dafür, diesen
Widerstand weder zu brechen noch einfach anzuerkennen. Der Sozialpsychologe
Klaus Schneewind etwa plädiert dafür, einerseits Grenzen zu setzen, und
das heißt auch, Sanktionen bei Grenzverletzungen zu verhängen. Andererseits
sollen diese Grenzen nicht so eng sein, dass ein Kind keine Wahlmöglichkeiten
mehr hätte (Schneewind & Böhmert, 2008). Schneewind nennt dieses Konzept
Freiheit in Grenzen.
Neben dem Widerstand lässt sich der in der postmodernen Diskussion altertümlich
wirkende, aber wieder populär gewordene Begriff Widerfährnis anführen,
der ebenfalls im erzieherischen Handeln mit zu bedenken ist. Erziehen ist,
wie schon angeführt, keine Mechanik von Handlungen, bei der Kinder das
tun, was Eltern oder andere Erzieher möchten ...
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