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Entgrenzung der Medizin Von der Heilkunst zur Verbesserung des Menschen?
Entgrenzung der Medizin
Von der Heilkunst zur Verbesserung des Menschen?




Willy Viehöver, Peter Wehling (Hrsg.)

Transcript
EAN: 9783837613193 (ISBN: 3-8376-1319-4)
312 Seiten, paperback, 14 x 23cm, 2011, kart., zahlr. Abb.

EUR 29,80
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Der Boom der Schönheitschirurgie, die Nutzung von Medikamenten zur Verbesserung der Stimmung oder Gedächtnisleistung sowie die »Anti-Aging«-Bewegung – alles Anzeichen dafür, dass die Medizin sich künftig nicht mehr allein mit der Heilung kranker Menschen, sondern zunehmend mit der »Optimierung« der körperlichen und geistigen Fähigkeiten Gesunder beschäftigen wird.

Die Beiträge in diesem interdisziplinär besetzten Band gehen systematisch der Frage nach, wie neuartig diese Entwicklungen im historischen Vergleich sind, und erörtern kritisch die möglichen sozialen Folgen einer solchen »Entgrenzung« des medizinischen Wirkungsbereichs.
Rezension
Es geht um die Verjüngung und Verschönerung des Menschen; der medizinische Wirkungsbereich "entgrenzt" sich, weite Teile der Medizin mutieren von der klassischen Heilkunst hin zum ›Human Enhancement‹, also zur technischen Optimierung des gesunden Menschen: Schöne neue Medizin – die Medizin weitet ihre Ziele und ihren Einflussbereich auf die »Optimierung« gesunder Menschen aus. Der Band geht diesem Trend von der Schönheitschirurgie über den Ritalin-Gebrauch bis zur »Anti-Aging«-Bewegung kritisch auf den Grund; denn die gesellschaftlichen Folgen dieser Entwicklung sind noch keineswegs ausgelotet, z.B. kann sie neue Zwänge mit sich bringen, etwa eine unausgesprochene Verpflichtung, die eigene körperliche und geistige Leistungsfähigkeit immer weiter zu steigern.

Dieter Bach, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Willy Viehöver (PhD rer. pol.) arbeitet als Soziologe an der Universität Augsburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kultur- und Wissenssoziologie, Modernisierungstheorie, Soziologie des Körpers sowie Diskursanalyse.
Peter Wehling (PD Dr. phil.) arbeitet als Soziologe an der Universität Augsburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Wissenssoziologie, Wissenschafts- und Techniksoziologie, Gesellschaftstheorie sowie Biopolitik.

Schlagworte:
Körper, Anti-Aging, Enhancement, Medizingeschichte, Medizinethik, Biopolitik
Adressaten:
Soziologie, Geschichtswissenschaft, Medizin, Philosophie

Interview
... mit PhD rer. pol. Willy Viehöver und PD Dr. phil. Peter Wehling
1. »Bücher, die die Welt nicht braucht.« Warum trifft das auf Ihr Buch nicht zu?
..., weil es sich mit einem Thema beschäftigt, das ›uns alle‹ in Zukunft betreffen wird. Die Transformation von Teilen der Medizin von der klassischen Heilkunst hin zum ›Human Enhancement‹, also zur technischen Optimierung des gesunden Menschen, eröffnet nicht nur vermeintlich großartige Möglichkeiten der Körperverbesserung. Sie kann auch neue Zwänge mit sich bringen, etwa eine unausgesprochene Verpflichtung, die eigene körperliche und geistige Leistungsfähigkeit immer weiter zu steigern.
2. Welche neuen Perspektiven eröffnet Ihr Buch?
Das Buch greift die Thematik aus einer interdisziplinären Perspektive auf: Anders als in der bisherigen Debatte werden nicht nur bioethische und medizinhistorische Beiträge berücksichtigt, sondern auch sozial- und rechtswissenschaftliche Überlegungen. Damit kann der Band sowohl zeigen, welche historischen Vorläufer der Verjüngung und Verschönerung des Menschen es gab, als auch, was an der aktuellen Thematik neu ist und neue gesellschaftliche Antworten verlangt.
3. Welche Bedeutung kommt dem Thema in den aktuellen Forschungsdebatten zu?
Die Idee der Perfektionierung des Menschen mit medizinisch-technischen Mitteln scheint in jüngster Zeit immer mehr Anhänger zu finden. Die Debatte zwischen Befürwortern und Kritikern des Enhancements wird daher in Zukunft sicherlich noch an Brisanz gewinnen. Es ist hierbei wichtig sich zu vergegenwärtigen, dass die möglicherweise wachsende Neigung zu optimierenden Eingriffen weder naturgegeben noch unausweichlich ist, sondern Ausdruck und Folge spezifischer gesellschaftlicher Antriebskräfte.
4. Mit wem würden Sie Ihr Buch am liebsten diskutieren?
Mit all jenen, die behaupten, der Mensch sei ›von Natur aus‹ unvollkommen und strebe deshalb zu Recht nach Verbesserung und Perfektionierung, ganz gleich mit welchen Mitteln. Übersehen wird dabei gerne, dass es immer eine kontingente gesellschaftliche Bewertung darstellt, den menschlichen Körper und Geist für unvollkommen und ›verbesserungsbedürftig‹ zu erklären.
5. Ihr Buch in einem Satz:
Es wirft einen differenzierten Blick auf die sich abzeichnenden Umbrüche im medizinischen Handlungsbereich und ermöglicht reflektierte Antworten auf die Frage, welche Medizin wir in Zukunft haben wollen.

Editorial zur Reihe:
Die neuere empirische Wissenschaftsforschung hat sich seit den späten 1970er Jahren international zu einem der wichtigsten Forschungszweige im Schnittfeld von Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft entwickelt. Durch die Zusammenführung kulturanthropologischer, soziologischer, sprachwissenschaftlicher und historischer Theorie- und Methodenrepertoires gelingen ihr detaillierte Analysen wissenschaftlicher Praxis und epistemischer Kulturen. Im Vordergrund steht dabei die Sichtbarmachung spezifischer ... mehr Konfigurationen und ihrer epistemologischen sowie sozialen Konsequenzen – für gesellschaftliche Diskurse, aber auch das Alltagsleben. Jenseits einer reinen Dekonstruktion wird daher auch immer wieder der Dialog mit den beobachteten Feldern gesucht.
Ziel dieser Reihe ist es, Wissenschaftler/-innen ein deutsch- und englischsprachiges Forum anzubieten, das
* inter- und transdisziplinäre Wissensbestände in den Feldern Medizin und Lebenswissenschaften entwickelt und national sowie international präsent macht;
* den Nachwuchs fördert, indem es ein neues Feld quer zu bestehenden disziplinären Strukturen eröffnet;
* zur Tandembildung durch Ko-Autorschaften ermutigt und
* damit vor allem die Zusammenarbeit mit Kollegen und Kolleginnen aus den Natur- und Technikwissenschaften unterstützt, kompetent begutachtet und kommentiert.

Die Reihe wendet sich an Studierende und Wissenschaftler/-innen der empirischen Wissenschafts- und Sozialforschung sowie an Forscher/-innen aus den Naturwissenschaften und der Medizin.
Die Reihe wird herausgegeben von Martin Döring und Jörg Niewöhner.
Wissenschaftlicher Beirat: Regine Kollek (Universität Hamburg, GER), Brigitte Nerlich (University of Nottingham, GBR), Stefan Beck (Humboldt Universität, GER), John Law (University of Lancaster, GBR), Thomas Lemke (Universität Frankfurt, GER), Paul Martin (University of Nottingham, GBR), and Allan Young (McGill University Montreal, CAN).

Since the late 1970s, empirical science studies have developed into a key field of research at the intersection of science, technology and society. This field merges a repertoire of theories and methods stemming primarily from cultural anthropology, sociology, linguistics and history. Its main characteristic is the detailed analysis of scientific practices and epistemic cultures and how these become entangled with public discourses and everyday life. This focus tries to reveal specific, local configurations and their epistemological as well as social consequences. Beyond a mere deconstruction, science studies are constantly looking to engage with the fields in which they do their work. The goal of this book series is to offer to scholars a German and English speaking Forum that
* develops inter- and trans-disciplinary bodies of knowledge in the areas of medicine and the life sciences and makes these nationally and internationally available;
* supports young scientists through opening up a new field of work which runs across existing disciplinary structures;
* encourages the formation of tandems through co-authorship. In particular, it supports, evaluates and comments on collaborative projects with colleagues from the natural and engineering sciences.
The series is directed towards scholars and students from both the empirical science/social studies and the natural sciences and medicine.
The series is edited by Martin Döring and Jörg Niewöhner.
Scientific Advisors: Regine Kollek (University of Hamburg, GER), Brigitte Nerlich (University of Nottingham, GBR), Stefan Beck (Humboldt University, GER), John Law (University of Lancaster, GBR), Thomas Lemke (University of Frankfurt, GER), Paul Martin (University of Nottingham, GBR), and Allan Young (McGill University Montreal, CAN).
Inhaltsverzeichnis
Einleitung

Entgrenzung der Medizin: Transformationen
des medizinischen Feldes aus soziologischer Perspektive 7
PETER WEHLING/WILLY VIEHÖVER

I. Gesundheit, Krankheit und Optimierung aus medizinhistorischer und -theoretischer Sicht

Konzepte von Gesundheit und Krankheit –
Die Historizität elementarer Lebenserscheinungen zwischen Qualität und Quantität 51
HEINER FANGERAU/MICHAEL MARTIN

Enhancement vor dem Hintergrund verschiedener Konzepte von Gesundheit und Krankheit 67
CHRISTIAN LENK

Das »Recht auf optimale physiologische Lebensmöglichkeiten«.
Die Verbesserung und Verjüngung des Menschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts 89
HEIKO STOFF

II. Entgrenzung der Medizin - Vier Fallbeispiele

Neuro-Enhancement oder Krankheitsbehandlung?
Zur Problematik der Entgrenzung von Krankheit und Gesundheit am Beispiel ADHS 121
FABIAN KARSCH

Mach mich schön! Geschlecht und Körper als Rohstoff 143
PAULA-IRENE VILLA

Hintergründe, Dynamiken und Folgen der prädiktiven Diagnostik 163
THOMAS LEMKE/REGINE KOLLEK

Ausweitung der Kampfzone:
Anti-Aging-Medizin zwischen Prävention und Lebensrettung 195
TOBIAS EICHINGER

III. Recht und Ethik als Möglichkeiten gesellschaftlicher Gestaltung

Ungleich besser? Zwölf Thesen zur Diskussion über Neuro-Enhancement 231
JOHANN S. ACH/BEATE LÜTTENBERG

Professionsethische Aspekte aktueller Praktiken der Optimierung der menschlichen Natur 251
DIRK LANZERATH

Entwicklung und Entgrenzung medizinrechtlicher Grundbegriffe – am Beispiel von Indikation und Information 271
REINHARD DAMM

Autorinnen und Autoren 303


Leseprobe:

Entgrenzung der Medizin –
Transformationen des medizinischen Feldes
aus soziologischer Perspektive
PETER WEHLING/WILLY VIEHÖVER
1. Was heißt »Entgrenzung der Medizin«?
In der renommierten Zeitschrift Nature plädierten im Dezember 2008
sieben prominente Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den
USA und Großbritannien, darunter Mediziner und Neurowissenschaftlerinnen,
ein Jurist, ein Ethiker sowie der Chefredakteur der Zeitschrift,
für die »verantwortungsvolle Nutzung« von Medikamenten zur kognitiven
Leistungssteigerung durch gesunde Menschen (Greely et al. 2008).
Ein Jahr später zogen in der populärwissenschaftlichen Zeitschrift Gehirn
und Geist wiederum sieben deutsche Forscherinnen und Forscher
aus Medizin, Philosophie und Rechtswissenschaft nach. In ihrem Memorandum
Das optimierte Gehirn vertraten sie die Auffassung, »dass es
keine überzeugenden grundsätzlichen Einwände gegen eine pharmazeutische
Verbesserung des Gehirns oder der Psyche gibt« (Galert et al.
2009: 47). Auch die Bioethiker Robert Ranisch und Julian Savulescu
sind der Ansicht, »prinzipielle ethische Bedenken gegenüber der Verbesserung
der menschlichen Biologie« seien nicht aufrechtzuerhalten
(Ranisch/Savulescu 2009: 49). Sie gehen indes noch einen wesentlichen
Schritt weiter und sprechen von einer ethischen Verpflichtung von Eltern,
ihre Kinder biologisch zu »verbessern«: »In der Form, in der wir
die Pflicht haben, Krankheiten unserer Kinder zu behandeln, haben wir
die Verpflichtung, ihre Biologie zu verbessern.« (ebd.: 36)
PETER WEHLING/WILLY VIEHÖVER
8
Im Frühjahr 2010 berichtete der ARD-Weltspiegel über aktuelle
Praktiken der medizinisch-chirurgischen Körpergestaltung in Südkorea.
Gezeigt wurden zum einen Versuche, die individuelle Körpergröße »positiv
« zu beeinflussen, zum anderen spezielle Angebote der ästhetischen
Chirurgie. Im ersten Beispiel wird von Jungen und Mädchen berichtet,
deren Größenwachstum im vorpubertären Alter gesteigert werden soll,
mittels »Streckmaschine« oder durch spezielle Tränke aus der chinesischen
Heilkunde, die angeblich die Wachstumsphase des Körpers verlängern.
Für die Behandlung ihres siebenjährigen Sohnes in einer so genannten
»Wachstumsklinik« bezahlt eine Familie der Sendung zufolge
gut 450 Euro monatlich, und dies auf unbestimmte Zeit und mit ungewissem
Ausgang. Weiter heißt es: »Jedes dritte Kind in dieser Wachstumsklinik
ist völlig normal entwickelt. Aber auch deren Eltern glauben,
dass ein paar Zentimeter mehr entscheidend sein können für den Erfolg
im Leben.« (Schmidt 2010: 1) Im zweiten Beispiel steht die chirurgische
Veränderung der Gesichtszüge im Mittelpunkt. Erwünscht sind in Südkorea
schmale, feine Gesichter mit weichen Zügen. Doch bei den entsprechenden
Eingriffen, die vor allem junge Frauen vornehmen lassen,
geht es nicht einfach darum, »schön« oder »normal« auszusehen; auch
hier spielen vielmehr Ziele wie beruflicher Erfolg und bessere Chancen
auf dem Arbeitsmarkt eine wichtige Rolle. In dem Fernsehbericht wird
der Chef einer Schönheitsklinik mit den Worten zitiert: »Koreaner tun
alles, um einen guten Job zu bekommen und im harten Konkurrenzkampf
der südkoreanischen Gesellschaft zu überleben. Viele wollen eine
Schönheitsoperation, wenn sie ihnen hilft, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu
steigern.« (Schmidt 2010: 2)
In seinem Buch Ending Aging, das im Jahr 2010 unter dem Titel
Niemals alt! auch in einer deutschen Ausgabe erschienen ist (de Grey/
Rae 2010), geht der britische Alterungsforscher Aubrey de Grey davon
aus, dass sich das Altern des menschlichen Körpers durch eine Reihe
gezielter medizinischer Interventionen in absehbarer Zeit nicht nur verlangsamen,
sondern sogar umkehren lässt. De Greys Thesen waren lange
Zeit höchst umstritten, finden inzwischen aber auch in der etablierten
Medizin offenbar zunehmend Anerkennung. Er ist überzeugt davon,
dass heute bereits lebende Menschen eine deutliche Verlängerung ihres
Lebens erreichen können und dass in absehbarer Zeit sogar eine Ausdehnung
der menschlichen Lebensspanne auf bis zu 1000 Jahre möglich
sein werde. Notwendig seien hierfür aber die Abkehr von der fatalistischen
Annahme, Altern sei ein unabwendbares Schicksal, sowie die
Ausrufung eines regelrechten »Krieges gegen das Altern« (de Grey/
Rae 2010).