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Benedikt XVI.  Der deutsche Papst
Benedikt XVI.
Der deutsche Papst




Andreas Englisch

Random House , C. Bertelsmann
EAN: 9783570100196 (ISBN: 3-570-10019-7)
720 Seiten, Festeinband mit Schutzumschlag, 14 x 22cm, 2011, 16 Seiten Farbbildteil

EUR 26,00
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Benedikt XVI. ist der achte deutsche Papst und der erste nach einer Unterbrechung von fast 500 Jahren. Auf Leben und Pontifikat Benedikt XVI. hat kaum jemand einen so intimen Blick wie der Vatikan-Korrespondent Andreas Englisch. Er kennt den deutschen Papst seit langen Jahren und hat ihn auf vielen Reisen rund um den Globus begleitet. Hier schildert er aus nächster Nähe den bemerkenswerten Wandel des Joseph Ratzinger vom konservativen Präfekten der römischen Glaubenskongregation zum weltoffenen und dialogorientierten Papst.

Andreas Englisch beschreibt, wie er selbst von einem eher distanzierten Wegbegleiter des mächtigen Kurienkardinals zu einem Bewunderer des – gegenüber dem weithin ausstrahlenden Charisma seines großen Vorgängers – eher stillen und diskreten, aber ähnlich wirkungsvoll der »Liebe in der Wahrheit« (so der Titel seiner jüngsten Enzyklika) hingegebenen deutschen Papstes wurde.

Andreas Englisch lebt seit 1987 in Rom als Vatikan-Korrespondent. Er stand in engem Kontakt zu Papst Johannes Paul II. und hat Benedikt XVI. auf vielen Reisen begleitet. Er ist Autor der Bestseller »Johannes Paul II.«, »Habemus Papam« und »Die Wunder der katholischen Kirche«.
Rezension
Dieser Tage im September 2011 weilt der erste deutsche Papst seit mehr als 500 Jahren zu Besuch in Deutschland: Eure Heiligkeit, willkommen in der Heimat, - so hatte der Bundespräsident ihn begrüßt. Dann die Papst-Rede im Bundestag, am zweiten Tag die erwartete Absage an die Ökumene, die demonstrative Nicht-Erwähnung des bevorstehenden 500. Reformationsjubiläum im Jahre 2017 im protestantischen Kernland Thüringen: Ein Affront gegen den Protestantismus! Wohin führt der deutsche Papst Benedikt der XVI. (Kardinal Ratzinger) die katholische Kirche? Die Antwort scheint klar: Schon als Wächter über den Glauben war Kardinal Ratzinger erzkonservativ verantwortlich für die weitgehende Zerschlagung der Befreiungstheologie in Lateinamerika, und schon die Bemühungen des Papstes um die Pius-Brüder und Lefevre-Anhänger zeigten eine deutlich konservative, wenn nicht reaktionäre, Tendenz auf, schon zuvor hatte etwa das Verbot der kirchlichen Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen in Deutschland einen deutlichen Weg gewiesen: Rom rückt (noch weiter) nach rechts. - In dieser ersten umfassenden Biografie über Benedikt XVI. zeigt der Vatikan-Korrespondent Andreas Englisch die biographischen und entwicklungsgeschichtlichen Hintergründe Benedikt XVI. auf, der in gewisser Weise wider Willen Papst wurde ...

Thomas Bernhard, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
"Andreas Englisch vermag außerordentlich spannend zu erzählen."

Hamburger Abendblatt

Andreas Englisch ist der bekannteste deutsche Vatikan-Korrespondent. Er wurde am 6. Juni 1963 in Werl in Westfalen geboren. Nach dem Abschluss des Studiums der Journalistik, Germanistik und Sprachwissenschaften an der Universität Hamburg arbeitete er als Redakteur für die Bergedorfer Zeitung und das Hamburger Abendblatt. Im Jahr 1987 wechselte er in das Büro des Springer-Auslandsdienstes nach Rom, dessen Leiter er 1992 wurde. Neben seiner Arbeit als Italien- und Vatikankorrespondent schrieb er Romane und Sachbücher: 1995 erschien der Vatikan-Thriller "Der stille Gott der Wölfe", 1998 der zweite Vatikan-Krimi "Die Petrusakte". Auf den Kunstreiseführer "Toskana" folgte 2002 der Bestseller "Johannes Paul II. Das Geheimnis des Karol Wojtyla". Im Jahr 2005 erschien "Habemus Papam", im Jahr 2006 "Gottes Spuren", das vom ZDF unter dem Titel "Macht der Wunder" als dreiteilige Dokumentation verfilmt wurde. 2009 veröffentlichte er "Prophezeiungen - Wenn Gott spricht" und 2011 "Der Wunderpapst". Seine Bücher wurden in neun Sprachen übersetzt. Andreas Englisch lebt mit seiner Frau und seinem Sohn im römischen Stadtviertel Monteverde hinter dem Vatikan.
Inhaltsverzeichnis
2005 Papst wider Willen
9

2006 Das Regensburg-Jahr
173

2007 Wer regiert im Vatikan?
295

2008 Erfolg am Ende der Welt, Ärger zu Hause
363

2009 Konflikte spitzen sich zu
477

2010 Ein Papst mitten im Sturm
591

2011 Das Jahr, als Benedikt XVI. bei sich ankam
659

Register
695



2005
Papst wider Willen
Wer soll es machen?
Nach allem, was mir meine Freunde und Informanten im Vatikan
erzählten, die Schweigsamen und die weniger Schweigsamen, begann
alles so:
Vatikanstadt, Sixtinische Kapelle, April 2005. Die Stille in der
großen Kapelle, erbaut nach dem Willen Papst Sixtus IV., lastete
schwer auf den einhundertfünfzehn Kardinälen, die einen neuen
Papst wählen sollten. Sie alle wussten, dass dort draußen vor dem
Vatikan, nur ein paar Schritte entfernt, die Millionen, die Karol
Wojtylas Tod betrauert hatten, warteten. Dass sie, die Kardinäle
der heiligen katholischen Kirche, das Rätsel lösen würden, wer
um Gottes willen so vermessen sein sollte, die Nachfolge des Jahrtausendpapstes
anzutreten, wer auf den Balkon treten würde als
264. Nachfolger des heiligen Petrus. Die Zeiten, als die Wahl des
Papstes eigentlich nur die italienische Kirche interessierte, weil einer
ihrer Kardinäle zum Papst befördert werden würde, waren
seit Karol Wojtyla endgültig vorbei. Der Papst aus Polen hatte
eine globalisierte Kirche geschaffen, und deswegen sah diesmal
die ganze Welt nach Rom.
Jahrhundertelang hatten die Kardinäle der Wahlversammlung
bei Kerzenschein in der düsteren Kapelle gesessen, die nur wegen
der hoch oben liegenden Fenster so dunkel ist; man hatte geglaubt,
die Kapelle im Falle eines Krieges so leichter verteidigen
zu können. Der schwarze Ruß der Kerzen war von den schillernd
bunten Fresken Michelangelo Buonarrotis unter der Decke und
an der Stirnwand der Kapelle abgewaschen worden. Noch immer
drohte das Weltgericht Michelangelos den Kardinälen, noch immer
schlug der Satan auf dem Fresko auf die Sünder ein. Schon
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kurz nachdem der Zeremonienchef Bischof Piero Marini sie hier
eingeschlossen hatte, kurz nach seinem »extra omnes« (was bedeutet,
dass alle Unbeteiligten das Konklave zu verlassen hatten
bis auf die Kardinäle und die Ärzte mit ihren Helfern, die im
Konklave bleiben durften) hatten sich die Blicke auf einen Mann
gerichtet. Auf einen Italiener, auf Carlo Maria Kardinal Martini.
Er war der ewige Zweite gewesen, mehr als ein Jahrzehnt lang war
sein Name gefallen, immer wenn es darum ging, wer der nächste
Papst sein könnte. Selbst den Kardinälen aus den entferntesten
Teilen der Welt musste man nicht erst erklären, wer Martini war,
in welcher Bank er saß. Der schlanke Mann, der so gar nicht wie
ein Italiener aussah, der mit seiner hellen Haut und seiner beachtlichen,
fast alle überragenden Größe eher an einen Dänen oder
Schweden erinnerte, war ein Kirchenstar, seine Bücher weltweit
bekannt. Alle Kardinäle kannten die Eigenart Martinis, seinen
Blick über die Menschen schweifen zu lassen; diese Gewohnheit
gab ihm das Aussehen eines seltsamen Adlers, der die Umgebung
im Auge behält, über die Köpfe der Menschen hinweg in die
Ferne schaut, das Große im Blick hat, statt sich von den Kleinigkeiten
irritieren zu lassen. Der brillante Kopf, der Mann, der eine
Vision hatte, Erfahrungen in der größten Diözese Italiens, in Mailand,
mitbrachte, galt als ein perfekter Kandidat. Voller Neid hatte
so mancher Kardinal auf Martini geschaut. Tage, manchmal Wochen
warteten Kardinäle bei einer Konferenz oder einer Synode
darauf, dass ein Journalist sie um ein Interview bat, sie um ihre
Meinung fragte, allzuoft vergeblich.
Sobald Martini erschien, schoss eine Armada Presseleute auf
ihn zu. Er hatte extra einen Stab von Mitarbeitern einrichten müssen,
der die Pressemeute abfing und ihnen sorgfältig einen Termin
nach dem anderen bei dem großen Kardinal einräumte. Nachdem
Papstsprecher Joaquin Navarro-Valls der Welt verraten hatte, dass
Papst Johannes Paul II. an der Parkinson-Krankheit leide, dass
es möglicherweise sogar zu einem Rücktritt des Papstes kommen
könnte, hatte die katholische Kirche über Carlo Maria Martini
spekuliert. Theologische Fachleute hatte das spitzfindige Thema
diskutiert, ob Martini sich selber Gehorsam schwören könnte,
denn als Jesuit war er zum besonderen Gehorsam gegenüber dem
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Papst verpflichtet. Diese Fragestellung war ohne Beispiele, weil
noch nie ein Jesuit den Sprung auf den Thron des Papstes geschafft
hatte. Viele einflussreiche Politiker, darunter auch George
Bush sen. und Helmut Kohl, hatten Martinis Nähe gesucht, weil
sie vermuteten, dass er der nächste Papst sein könnte.
Jahr um Jahr war verstrichen, Carlo Maria Kardinal Martini
hatte Buch um Buch geschrieben, immer wieder mit Bravour Interviews
gegeben. Eine halbe Bibliothek war entstanden, in deren
Büchern nur darüber spekuliert wurde, wie die katholische Kirche
unter Papst Carlo Maria Martini aussehen werde. Und Karol
Wojtyla hatte regiert und regiert, gelitten und gekämpft, aber er
war nicht vorzeitig gegangen. So war Martinis Zeit verstrichen,
und die Zeit hatte dem perfekten Nachfolger auf dem Thron Petri
stark zugesetzt, das Zittern seiner Hand konnte der ebenfalls
an Morbus Parkinson erkrankte Martini schon lange nicht mehr
verbergen. Er war alt geworden und schwach. Den Blicken, die
sich fragend in der Kapelle auf ihn richteten, entzog er sich mit
gesenktem Kopf; noch immer vereinigte er viele Stimmen auf seinen
Namen im ersten Wahlgang, aber seine hängenden Schultern
sprachen eine eindeutige Sprache: Ich kann es nicht machen, nicht
mehr. Ich bin zu alt und zu krank.
Aber wenn Carlo Maria Kardinal Martini ausfiel, war es dann
Zeit für die große Revolution, den ersten Papst vom amerikanischen
Kontinent? Der kühne Plan, einen Mann aus der Neuen
Welt zu wählen, war in den vergangenen Jahrzehnten gereift. Karol
Wojtyla war es nicht müde geworden zu betonen, dass Lateinamerika
die Hoffnung sei; die Mehrheit der Katholiken in der
Welt lebt auf dem amerikanischen Kontinent, mehr als 550 Millionen
Menschen; während in Europa die Zahl der gläubigen Katholiken
und der Anwärter für das Priesteramt dramatisch abnahm,
zog sie in Amerika an. Ein Mann stand bereit, dieses Wagnis auf
sich zu nehmen: der Argentinier Jorge Mario Bergoglio. Er galt
als brillant, mutig, erfahren, er kannte die katholische Kirche
weltweit, und außerdem galt er als ausgezeichneter Theologe –
so schien es nur wenige zu überraschen, dass Bergoglio immer
mehr Stimmen auf sich vereinigen konnte. Doch sein Blick, den
die Kardinäle von ihren Pulten aus suchten, hob sich nicht; fins-
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ter blickte Bergoglio, der mit seinen grauen Augenbrauen und den
dunklen Tränensäcken aussah wie ein alter Rabe, auf die Wahlurne,
mürrisch nahm er den Ausgang der ersten Wahlgänge zur
Kenntnis, unwirsch nahm er wahr, dass er immer mehr Stimmen
sammelte. Der bittere Zug um seinen Mund machte den Kardinälen
klar, dass er Bescheid wusste, er kannte die Stimmen, die
auf den einsamen Fluren des Kardinal-Hotels Domus Sanctae
Marthae hinter ihm tuschelten. Er sollte gemeinsame Sache gemacht
haben mit den Killern der Militärjunta Argentiniens, behaupteten
seine Feinde. Bergoglios niedergeschlagene Mine hellte
sich nicht auf, er wusste, dass sie ihn sogar verdächtigten, im Jahr
1976 Priester an die Junta verpfiffen zu haben. Aber stimmte das?
Wer konnte es wissen, wer konnte es beweisen? Aber wer konnte
sichergehen, dass es nicht so war? Was würde passieren, wenn sie
ihn erst einmal zum Papst gewählt hätten und dann Indizien auftauchen
würden, die hieb- und stichfest zeigten, dass er ein Spitzel
des Militärs gewesen war? War es nicht verdächtig, dass Bergoglio
nicht eingesperrt worden war von den gottlosen Schächtern des
Militärs? Ein Held war er also nicht gewesen. Was, wenn er ein
Mittäter gewesen war? Wie sollten die Kardinäle einem solchen
Papst huldigen? Loswerden nach der Wahl konnten sie ihn nicht
mehr, wenn es zum Skandal kommen sollte. Sie konnten höchstens
auf seinen freiwilligen Rücktritt hoffen, auf den er sie, im
schlimmsten Fall bis zu seinem Tod warten lassen konnte. Viel zu
riskant. Bergoglio war keine sichere Wahl.
Aber wenn nicht Martini und auch nicht Bergoglio, wer dann?
Der Mann mit den schlohweißen Haaren spürte die Blicke der
Kardinäle. Warum eigentlich nicht, dachten viele, warum nicht
der Theologe aus Bayern? Hatte nicht Karol Wojtyla ihn besonders
hervorgehoben, ihn nicht nur einen guten Mitarbeiter,
sondern »meinen bewährten Freund« genannt in seinem letzten
Buch? Warum also nicht der Präfekt der Glaubenskongregation,
der ewige Weggefährte Wojtylas? Sollte der doch das scheinbar
unlösbare Problem angehen, das der Tod des polnischen Papstes
ihnen allen beschert hatte: Woher jemanden nehmen, der, gemessen
an der Leistung des Jahrtausendpapstes Wojtyla, nicht verblassen
würde? Ihnen allen war klar: Joseph Ratzinger zum Papst
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zu wählen, war eine regelrechte Grausamkeit, denn er hatte einen
Fehler gemacht. Er hatte in seinen Schriften den Massen, denselben
Massen, die draußen darauf warteten, den nächsten Papst
bejubeln zu können, ihr Klatschen, ihre Gesänge während einer
heiligen Messe verbieten wollen, hatte ihnen klargemacht, dass er
ihr Verhalten eines Gottesdienstes für unwürdig erachte. Joseph
Ratzinger zum Papst zu wählen, bedeutete, ausgerechnet den, der
den frommen Katholiken die Party während der Messfeier verboten
hatte, zu zwingen, selber eine zu veranstalten und die Massen
mitzureißen, mit seinem Charisma zu bezaubern und zwar
auf allen Kontinenten. Joseph Ratzinger hatte natürlich niemals
in Erwägung gezogen, dass er selber in die Lage versetzt werden
könnte, sich vor genau diese Massen stellen zu müssen. Joseph
Ratzinger zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass er sein Leben
dort beschließen würde, wo er es bisher verbracht hatte, in der
Stille der Studierstube. Wie konnte man diesen Mann, der klipp
und klar gesagt hatte, dass er mit der lauten Art, einen Gottesdienst
zu feiern, nichts zu tun haben wollte, vor die johlenden
Massen schicken? Würden die Massen des Kirchenvolkes ihn das
nicht büßen lassen, es ihm heimzahlen wollen, ihn mit ihrem Applaus
regelrecht herausfordern? Als wollten sie sagen: Nun komm
schon, Papst Ratzinger, wage es doch, uns den Applaus und unsere
Fahnen zu verbieten, sie gelten nämlich jetzt dir. Also dachten
viele Kardinäle damals: Das können wir ihm nicht antun, das
hat er nicht verdient, dieser Joseph Kardinal Ratzinger. Er hatte
sich selber ausgeschlossen von der Wahl zum nächsten Papst, er
hatte immer wieder erklärt, dass er völlig ungeeignet sei für dieses
neue Bild des Papstes, wie Karol Wojtyla es geschaffen hatte:
ein Papst zum Anfassen und ein Papst der Massen, der die Massen
regelrecht liebte.
Wie war das noch gewesen im Sommer des Jahres 2000 während
des Weltjugendtages in Rom, als Karol Wojtyla die Millionen
aufforderte, noch viel lauter zu singen und zu klatschen, damit
ganz »Rom es hören könne«. Welch abgrundtiefer Unterschied
zum Stil des Präfekten der Glaubenskongregation, der es liebte,
kaum hörbare Gebete in kleinen Kirchen mit wenigen Teilnehmern
sprechen zu lassen. Ausgerechnet diesen Joseph Ratzinger
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hinauszuschicken vor die Leute, damit sie ihn bejubelten und in
einer religiösen Massenparty als würdigen Nachfolger Karol Wojtylas
feierten, das war regelrecht unmenschlich. Joseph Ratzinger
hatte stets nur seine Meinung gesagt und erklärt, wie er sich würdevolle
Gottesdienste vorstelle, ohne Applaus und ohne Tänzer
am Altar, aber er hatte nie behauptet, vormachen zu wollen, wie
das geht, die Massen unter Kontrolle zu halten; aber jetzt erwogen
die Kardinäle, ihm genau das aufzubürden – als wollten sie sagen:
Du hast es doch besser gewusst; nun gut, so zeig uns, wie es besser
geht. Es gab einen weiteren Grund, der die Wahl Joseph Ratzingers
zum nächsten Papst fast unmöglich erscheinen ließ: sein
Charakter. Ratzingers Sekretär Georg Gänswein würde mir später
in aller Deutlichkeit sagen: » Joseph Ratzinger steht nicht gern
im Mittelpunkt.« Aber wie sollte ein Mann der nächste Papst sein,
der es nicht aushalten konnte, angegafft zu werden, eine Show abzuliefern,
mit dem Jeep winkend über den Petersplatz zu fahren
und die Aufmerksamkeit der Fernsehkameras auf sich zu ziehen?
Das von diesem alten Mann zu verlangen, schien unfair.
Der dritte Grund, ihn nicht zu wählen, war, dass Joseph Kardinal
Ratzinger keine Ahnung von der Politik der Kirche hatte; er
hatte sich nie um das Staatssekretariat bemüht, im Gegenteil: Er
war während der Debatte um die Aufnahme der Türkei in die EU
von Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano bitter gerügt worden.
Als Ratzinger sich in einem Interview gegen die Aufnahme der
Türkei aussprach, war ihm Sodano über den Mund gefahren und
hatte öffentlich erklärt, das sei lediglich Joseph Ratzingers private
Meinung gewesen, aber nicht die der Kirche. Genau diese Tatsache,
dass Ratzinger keine Freunde und Vertrauten im Staatssekretariat
besaß und bisher kein Interesse für dieses Außenministerium
der Kirche aufgebracht hatte, das, genau das machte ihn in
den Augen der Kardinäle, die in der Kirchenregierung arbeiteten,
aber auch zum idealen nächsten Papst. Eine ganze Reihe von Kardinälen
im Vatikan wünschte sich nämlich, dass das Staatssekretariat
endlich wieder aufatmen konnte. Alles hatte Karol Wojtyla,
Karol der Große, an sich gerissen. Die Verhandlungen des Kardinalstaatssekretariats
mit den Staatsoberhäuptern der Welt waren
ein Witz. Karol entschied sowieso alles, ohne Karol passierte gar
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nichts. Er war der Boss und der Held, dem selbst seine Feinde ein
unfassbares politisches Geschick attestierten. War es nicht so gewesen,
dass sogar Michail Gorbatschow über Karol Wojtyla gesagt
hatte, ohne ihn wäre das Sowjetreich nicht friedlich zusammengebrochen?
Die Kurienkardinäle wussten, dass das Gerücht
stimmte, er habe den Kardinalstaatssekretär Agostino Casaroli
angebrüllt am Telefon. Okay, er hatte sich danach entschuldigt,
aber angebrüllt hatte er ihn. So waren die Machtverhältnisse zwischen
dem Papst und dem Kardinalstaatssekretär gewesen. Wenn
jetzt ein Papst kommen würde, der das Staatssekretariat wenigstens
wieder zu Atem kommen lassen würde, ihm die politische
Bedeutung zurückgäbe, das war für viele ein innig gehegter
Traum. Das hieß aber auch, einen Papst zu wählen, der genau
wusste, dass er sofort teilweise entmachtet wäre. Geheim halten
ließ sich das nicht lange. Der Papst würde damit leben müssen,
in der Öffentlichkeit als ein weit schwächerer Papst zu gelten als
sein Vorgänger. Dem höflichen, leisen Joseph Ratzinger dies alles
aufzubürden, schien ungerecht: Als offensichtlich teilweise entmachteter
Papst regieren zu müssen, auf das Wohl und Wehe vom
Staatssekretariat angewiesen, das sich endlich von der Kontrolle
des übermächtigen Papstamtes befreit hatte. Konnte man dem
friedliebenden Joseph Ratzinger den sich abzeichnenden internen
Krieg aufbürden? Bei jedem außenpolitischen Erfolg würde
das Staatssekretariat sich auf die Schulter klopfen, im Falle einer
Niederlage hatte es hingegen die Möglichkeit, sie dem Papst in
die Schuhe zu schieben, weil er nicht das nötige Charisma aufgebracht
hatte, um die Ideen des Staatssekretariats durchzusetzen.
Sollte man zusehen, wie er gedemütigt würde, sich immer wieder
aus der Politik des Vatikans zurückzog? Ein Papst, der sich beugen
musste, handeln musste, wie man es im Staatssekretariat von
ihm verlangte?