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Augustinus - Spuren und Spiegelungen seines Denkens Band 1: Von den Anfängen bis zur Reformation
Augustinus - Spuren und Spiegelungen seines Denkens
Band 1: Von den Anfängen bis zur Reformation




Norbert Fischer (Hrsg.)

Meiner Hamburg
EAN: 9783787319220 (ISBN: 3-7873-1922-0)
283 Seiten, paperback, 15 x 23cm, 2009

EUR 48,00
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Seit Aurelius Augustinus (354 - 430), dem bedeutendsten Denker der Spätantike, ist die Rückbindung der Frage nach der Wahrheit an die Frage nach dem Ich, also an die Selbsterkenntnis, ein Grundthema der Philosophie.

In diesem Band wird die direkte Wirkung des Augustinischen Denkens auf seine unmittelbaren und späteren Nachfolger deutlich herausgearbeitet. Ausgehend von der Betrachtung der zeitgenössischen Rezeption seiner Schriften folgen Untersuchungen zu den Einflüssen seines Werks auf Anselm, Abaelard, Hugo von St. Viktor, Bonaventura, Thomas von Aquin, Duns Scotus, Meister Eckhart, Cusanus, Luther, Jansen und anderen.
Rezension
Rezeptions- und Wirkungsgeschichte haben z.Zt. forschungsgeschichtlich Konjunktur - und in der Tat: Die Wirkung großer Denker, wie hier des Abendländers Augustinus, ist wohl von wesentlicherer Bedeutung als etwa deren Biographie ... Gleich zwei Bände widmen sich der Wirkungsgeschichte des größten abendländischen Kirchenvaters aus dem 4. Jhdt., der vielleicht durch seine "Confessiones" (Bekenntnisse) am ehesten einem breiteren Publikum bekannt ist: ein Klassiker der (autobiographischen) Weltliteratur und eines Fundamentalbuch des christlichen Glaubens. Augustinus von Hippo, auch: Augustinus von Thagaste, Augustin oder Aurelius Augustinus (*13. November 354 in Tagaste (auch: Thagaste) in Numidien, heute Souk Ahras in Algerien; † 28. August 430 in Hippo Regius in Numidien, heute Annaba in Algerien), ist einer der bedeutendsten christlichen Kirchenlehrer überhaupt. - 1500 Jahre Wirkungsgeschichte werden hier in zwei Bänden umfanbgreich dargelegt: a) bis zur Reformation, b) vom Aufklärungsdenken bis in die Gegenwart (z.B. im Hinblick auf Paul Ricoeur, Jacques Derrida und Josph Ratzinger / Benedikt XVI.). Beide Bände zeigen, welche Breiten- und Tiefenwirkung der Bischof von Mailand gehabt hat.

Thomas Bernhard, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Seit Aurelius Augustinus (354-430), dem bedeutendsten Denker der Spätantike, ist die Rückbindung der Frage nach der Wahrheit an die Frage nach dem Ich, also an die Selbsterkenntnis, ein Grundthema der Philosophie; nach Platon, dem Begründer der abendländischen Philosophie, war Augustinus der zweite große Denker der Antike von bis heute prägender Kraft.

In den beiden hier vorgelegten Bänden wird die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte seines Werks von den Anfängen bis in die Gegenwart umfassend und kompetent erfaßt und zur Darstellung gebracht. Im ersten Band wird die direkte Wirkung des Augustinischen Denkens auf seine unmittelbaren und späteren Nachfolger deutlich herausgearbeitet. Der zweite Band gibt Aufschluß über die nachhaltige Spätwirkung des Augustinischen Werks seit Beginn der Neuzeit, die bis in die Gegenwart anhält.

Beide Bände empfehlen sich als explizite Kompendien zur Wirkungsgeschichte Augustins und als anregende Wegweiser für das Studium seines Werks nach der Maßgabe des Kenntnisstandes der neueren Forschung.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort zum ersten Band . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ix

Norbert Fischer
DIVERSI DIVERSA PATRES SED HIC OMNIA DIXIT
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Rainer Warland
Das älteste Bildnis des hl. Augustinus?
Zum Wand malereifragment eines spätantiken Autors im Lateran . . . . . . . . . . . . 13

Karla Pollmann
Von der Aporie zum Code
Aspekte der Rezeption von ›De Genesi ad Litteram‹ bis auf
Remigius von Auxerre († 908) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
1. Einführung (19) | 2. Chronologische Analyse im Über blick (20) | 3. Schlußfolgerungen
(35)

Christian Göbel
Fides und ratio bei Anselm (1033 – 1109) und Augustinus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
1. Anselms ›intellectus fi dei‹ (39) | 2. Augustinische Grund lagen (40) | 2.1 Augu stins
persönlicher Denkweg zwischen ›intellegere‹ und ›credere‹ (42) | 2.2 Syste matische
Hinweise (43) | 3. Ausgewählte Motive des Verhältnisses von Vernunft und Glaube bei
Anselm und Augustinus (48) | 3.1 Zum Vernunft - und Glaubens begriff (48) | 3.2 Zur
Begrenztheit der menschlichen Vernunft (53) | 3.3 Zur ›metaphysischen Naturanlage‹
des Menschen (55) | 3.4 Vom Verstehen des Glau bens zum Ein-Sehen seines Gegenstandes
(58) | 4. Zur Möglichkeit eines Gottesbe weises aus der Refl exion über ›fi des‹
und ›ratio‹ (62) | 4.1 Anselm (63) | 4.2 Augustinus (64) | 4.3 Kritische Zusammenschau
(66)

Lenka Karfíková
Zur Rezeption Augustins bei Peter Abaelard (ca. 1079 – 1142) . . . . . . . . . . . . . . . . 71
1. Die Autobiographie (71) | 2. Die Trinitätslehre (72) | 3. Th eologie der Liebe (75) |
4. Erbsünde und Gnade (78) | 5. Die Ethik der Absicht (80)

Andreas E.J. Grote
»In arca quaedam ad Christum, quaedam ad ecclesiam referuntur«
(c. Faust. 12,39)
Zur Rezeption von Augustins Arche-Exegese bei Hugo von St. Viktor
(1097 – 1141), Petrus Johannis Olivi (1247/48 – 1296/98) und
Aegidius Romanus (1245 – 1316) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
1. Einleitung (85) | 2. Augustinus (88) | 3. Hugo von St. Viktor (93) | 4. Petrus Johannis
Olivi (98) | 5. Aegidius Romanus (101) | 6. Zusammenfassung (103)

Dieter Hattrup
Augustinus im ekstatischen Denken Bonaventuras (1217/18 – 1274) . . . . . . . . . . . . 105
1. ›De Scientia Christi‹ [1254] (108) | 2. ›Itinerarium‹ [1259] (116) | 3. ›Hexaëme ron‹ [1273]
(119)

Thomas Fliethmann
Augustinische Akzente in der Gotteslehre des Th omas von Aquin (1224/25 – 1274) 127
1. Augustinus als Autorität in der ›sacra doctrina‹ (129) | 2. Augustinus in der Gotteslehre
der ›Summa Th eologiae‹ (131) | 2.1 Gott als Ursache des endlichen Guten (132) |
2.2 Gott verursacht das Gute durch seinen Willen (134) | 2.3 Die Person des Heiligen
Geistes als trinitarische Verankerung der Gabe des Guten (136) | 3. Augustinus – ein
Lehrer des Th omas von Aquin? (139)

Hannes Möhle
Der Augustinismus des 13. Jahrhunderts als Heraus forderung für die
Augustinusrezeption des Johannes Duns Sco tus (1265 – 1308) . . . . . . . . . . . . . . . . 141
1. Die Illuminationslehre (142) | 2. Die doppelte Wahrheit (145) | 3. Die Kritik des Johannes
Duns Scotus (147) | 4. Scotus’ Widerlegung Heinrichs (149) | 5. Erkennt nis ohne
besondere Erleuchtung (152)

Johannes Brachtendorf
Meister Eckhart (1260 – 1328) und die neuplatonische Transformation
Augustins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
1. Das Verhältnis von Gott und Welt (158) | 2. Inhaerere Deo (163) | 3. Die Th eorie des
Geistes (165) | 4. Das Bild Gottes (167) | 5. Der dreifaltige Gott und die Einheit der
Gottheit (171) | 6. Der mystische Aufstieg (173)

Rudolf Kilian Weigand
Wissen von Augustinus deutsch?
Die Rezeption der Schrift en des Kirchenlehrers in deutscher Literatur des
Spätmittelalters. Ein kurso rischer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
1. Rezeptionsspuren im frühen und hohen Mittelalter (177) | 2. Popularisierung im
13. und 14. Jahrhundert (180) | 2.1 Verdeutschung des ›Speculum historiale‹ (182) |
2.2 Verwertung im ›Renner‹ des Hugo von Trimberg (183) | 2.3 Augustinus in den Predigten
Taulers (189) | 2.4 Spruchsammlungen und Kompilationswerke (191) | 3. Späte
Vollübersetzungen und Ausblick (193)

Hermann Schnarr
›Docta ignorantia‹ als Augustinische Denkfigur bei
Nikolaus von Kues (1401 – 1464) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
1. Kurze Charakterisierung der Wertschätzung von Augustinus durch Nikolaus von
Kues (195) | 2. Die Paradoxie im Begriff ›docta ignorantia‹ (196) | 3. Die Quellen des
Begriff s ›docta ignorantia‹ für Nikolaus von Kues (197) | 4. ›Docta ignorantia‹ bei Augustinus
(199) | 5. ›Docta ignorantia‹ bei Bonaventura (199) | 6. Die erkennt nistheoretische
Entwicklung des Begriff s ›docta ignorantia‹ bei Nikolaus von Kues (201) |
7. Zusammenfassender Vergleich des Gedankens der ›docta ignorantia‹ bei Augustinus,
Bonaventura und Nikolaus von Kues (208)

Markus Wriedt
Produktives Mißverständnis?
Zur Rezeption der Th eologie des lateini schen Kirchenvaters Augustinus
im Werk Martin Luthers (1483 – 1546) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
1. Einleitung (211) | 2. Der spätmittelalterliche Augustinus (213) | 3. Luther und Augustinus
(215) | 4. Luthers Verständnis der Tradition (217) | 5. Zusammenfassung und
Ausblick (222)

Richard Augustin Sokolovski
Augustinus als matrix omnium conclusionum bei
Cornelius Jansenius (1585 – 1638) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
1. Vita Incognita des Cornelius Jansen (225) | 2. Der ›Augustinus‹: Janus des Janse nius
(228) | 3. Augustinus – matrix omnium conclusionum (228) | 4. Matrix sein (229) |
5. Die letzte Wahrheit (230) | 6. Fröhliche Wissenschaft (230) | 7. Kunst des Lebens (231)
| 8. Sola gratia (232) | 9. Eine verurteilte Th eologie (233) | 10. Textus Receptus (233) |
11. Unerträgliche Leichtigkeit des Seins (235)

Erich Naab
Katholische Verteidigungen
Beobachtungen zum Augustinismus nach Bajus (1513 – 1589)
und Jansenius (1585 – 1638) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
1. Die bajanische Vorlage (240) | 2. Potenz und Wille in der Augustinerschule (242) |
3. Ausblick: Der sittlich gute Akt (248)

Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279


DIVERSI DIVERSA PATRES SED HIC OMNIA DIXIT
Einleitung des Herausgebers
»[…] de divinis scribentem legentes profi ciunt.
sed ego arbitror plus ex eo profi cere potuisse,
qui eum et loquentem in ecclesia praesentem
audire et videre potuerunt« (Possidius: Vita
Augustini 31,9: ›Gewinn hat, wer liest, was er
zum Göttlichen schreibt. Mehr Gewinn aber
hatte, wer ihn, wenn er in der Gemeinde sprach,
unmittelbar hören und sehen konnte‹).
Augustins literarisches Werk wurde seit seiner Entstehung in der Kultur des Abendlandes
– von Anfang an und über die vielen Jahrhunderte bis in die Gegenwart – wie
wenige andere beachtet. Augustinus hat unterschiedlichste Leser zu eigenem Denken,
zur Refl exion des Lebens und zur Ausarbeitung eigener Werke angeregt, vor
allem auf den Gebieten der Philosophie und der Th eologie, die in den vorgelegten
Bänden zu seiner Wirkungsgeschichte exemplarisch zur Sprache kommen, aber
auch auf den Gebieten der schönen Künste, die hier unbeachtet bleiben.1 Ihn als
›divus Augustinus‹ gleichsam zu vergöttlichen, der Kritik zu entheben und die Signatur
seiner Werke mit Weihrauch zu vernebeln, besteht – wie bei Menschen
überhaupt – kein Anlaß. Blinde Verehrung, zu der Menschen neigen, um ihrer eigenen
Existenz samt deren Problemen zu entrinnen, fällt mit Recht dem Vergessen
anheim und hat besonnenen Lesern nichts zu sagen. Ebenso ephemer – und in ihrer
naseweisen Angestrengtheit lächerlich – sind Versuche, einen Autor wie Augustinus
zu diskreditieren und Leser vor ihm zu warnen, obwohl er bis zu seinem Ende um
die zu bedenkende Sache gerungen und seinen Lesern Stoff zum Denken gegeben
hat. Die vorgelegten Beiträge sollen hingegen zeigen, wie sich Leser, die an menschlichen
Grundfragen orientiert waren, auf Texte Augustins einließen und ihnen
Beachtung schenkten.
Beispiele für falsche Verehrung oder irreführende Angriff e sind in den beiden
Bänden, die Augustinus als richtungsweisenden Lehrer des Abendlandes vorstellen,
nur beiläufi g erwähnt. Ein anderer Lehrer des Abendlandes, den schon Augustinus
als maßgebend anerkannt hat, war Platon, der Interpreten schrift licher Texte aufge-
1 Hier sei – unter Nichtbeachtung anderer Arbeiten – nur auf zwei Texte verwiesen; zuerst
auf Johannes Schaber OSB: Spuren des Kirchenvaters Augustinus in der Musik des 20. Jahrhunderts
(zwei Teile). Knappe ausgewählte Hinweise zu den Erwähnungen der Confessiones in der
deutschsprachigen schöngeistigen Literatur sind angeführt und kurz kommentiert von Norbert
Fischer: Einleitung (Tusculum), 787 – 794. Vgl. dort auch die einleitenden hermeneutischen
Überlegungen, bes. 781 – 787.
2 | norbert fischer
fordert hat, sie sollten aus ›eigener Kenntnis der Wahrheit‹ imstande sein, ›das
Geschriebene als minderwertig zu erweisen‹. Platon fordert von den
Interpreten positiv, vorgegebene Texte möglichst stark (von ihrer Intention her)
auszulegen, nicht wie Einbrecher in Werke einzudringen, um diese zu destruieren
und triumphierend auszuschlachten, was bei inzwischen verstorbenen Autoren
umso leichter zu bewerkstelligen ist, als diese nicht mehr selbst in der Lage sind,
solche Angriff e abzuwehren.
Obwohl Hans-Georg Gadamer mit der folgenden Passage nicht auf Augustinus
zielt, gilt die in ihr ausgesprochene Annahme auch für ihn (WuM 2): »Daß im Verstehen
dieser großen Denker Wahrheit erkannt wird, die auf anderem Wege nicht erreichbar
wäre, muß man sich eingestehen«. Dieser Annahme hätten die meisten Autoren
zugestimmt, auf die Augustinus Einfl uß hatte und die hier als Beispiele für die
philosophisch-theologische Wirkungsgeschichte Augustins ins Auge gefaßt werden.
Der vorliegende erste Band bietet Untersuchungen zur Wirkungsgeschichte Augustins
vom Beginn seiner literarisch faßbaren Rezeption bis in die Reforma tionszeit.
Der zweite Band beginnt mit der Neuzeit und führt bis in die Gegenwart.
Welcher Schatz, welche Herausforderung und welche Bürde den Nachkommen
mit dem Corpus Augustinianum überliefert war, ist nicht sofort nach Augustins Tod
deutlich gewesen, obwohl der Autor mit den Retractationes eine anspruchsvolle, ja
heikle Literaturgattung eröff net hatte (wie schon mit seinen Confessiones, deren literarische
Gattung ohne wirkliches Vorbild war) und obwohl sein Schüler Possidius
trotz des Einbruchs der Vandalen dafür gesorgt hat, daß wir heute im Besitz seiner
Schrift en sind, vermutlich, weil er ahnte, welche Bedeutung diesem Nachlaß einst
zukommen könnte. Als Schatz darf die literarische Hinterlassenschaft Augustins
zum Beispiel gelten, weil bei ihm Gott und Seele vor dem Hintergrund des faktischen
Lebens in das Zentrum des Denkens treten, wodurch Endlichkeit, Innerlichkeit
und Transzendenz in neuer Weise zum Th ema werden. Als Herausforderung
mochte sie gelten, weil sein Denken systematisch nicht kohärent darstellbar ist, was
zum Beispiel in der notwendigen, theoretisch unaufl ösbaren Spannung von Freiheit
und Gnade zum Ausdruck kommt, in der sich die Ruhelosigkeit des menschlichen
Herzens erweist.2 Eine Bürde ist sie, weil Augustinus zuweilen in der Attitüde des
2 Vgl. civ. 5,10: »quocirca nullo modo cogimur aut retenta praescientia dei tollere voluntatis
arbitrium aut retento voluntatis arbitrio deum (quod nefas est) negare praescium futurorum;
sed utrumque amplectimur, utrumque fi deliter et veraciter confi temur; illud, ut bene credamus;
hoc, ut bene vivamus.« Also ist die Annahme der beiden konträren Positionen erforderlich.
Anderslautende Stellen sind von hier aus zu interpretieren; z. B. nat. et gr. 47: »sed putat fortasse
ideo necessarium esse Christi nomen, ut per eius evangelium discamus quemadmodum vivere
debeamus, non etiam ut eius adiuvemur gratia, quo bene vivamus.« Vgl. Norbert Fischer: Zum
heutigen Streit um Augustinus. Sein literarisches Werk als Schatz, als Bürde und als Herausforderung
des Denkens.
einleitung | 3
rechthaberischen Rhetors Th esen vertritt (angeregt von biblischen Texten, z. B. im
Blick auf die Erbsündenlehre und deren Folgen für die ungetauft en Kinder), die mit
Gerechtigkeit und Liebe unvereinbar sind. Weil Augustins Werk bis heute als zu
bewahrender Schatz, als denkerisch anspruchsvolle Herausforderung und als lästige
Bürde begegnet, ist es angebracht, einen Blick auf die Wirkungsgeschichte dieses
Lehrers des Abendlandes zu werfen.
Sofern Augustinus sich weigerte, Autoritäten blind zu folgen, widerspricht es dem
Geist seiner Werke, deren Th esen, die Wandel und Widerspruch in sich bergen, zu
fraglosen Vorgaben zu stilisieren.3 So genügt ihm bei der Beantwortung der Frage,
was schlecht zu handeln heiße, nicht die Auskunft , Handlungen seien schlecht, weil
sie vom Gesetz verboten seien; vielmehr vertritt er die konträre Th ese, das Gesetz
verbiete Handlungen, weil sie schlecht seien (lib. arb. 1,6): »non sane ideo malum est
quia vetatur lege, sed ideo vetatur lege, quia malum est.« Gegen bloße Autoritätsgläubigkeit
arbeitet er unermüdlich an der Suche nach vernünft iger Argumentation.
4 Zwar zeigt er sich überzeugt, erst durch das Hören der Botschaft der Heiligen
Schrift en auf den Weg zum ›wahren Leben‹ gelangt zu sein, den er zuvor auf seinen
Irrwegen mit eigener Kraft gesucht hatte;5 doch beharrt er bei seiner Absicht, auch
verstehen zu wollen, was er gehört und gläubig angenommen hat. Sein Leitspruch
lautet folglich (conf. 11,3): »audiam et intelligam«. Zudem betont er, daß ihm der
Glaube nicht ohne kritische Vorüberlegungen zugefl ogen war. Seinen Weg, den er
in den Confessiones beschreibt, konnte er nämlich nur gehen, nachdem ihn das
Beispiel Christi als eines sterblichen, aber heiligen Menschen überzeugt hatte. Gottes
Wort (die Weisung der Gerechtigkeit und Liebe) hatte er zwar gehört, es habe
ihn aber wenig beeindruckt, solange er es nicht als gelebte Botschaft glauben konnte
(conf. 10,6): »et hoc mihi verbum tuum parum erat si loquendo praeciperet, nisi et
faciendo praeiret.« Die Botschaft der reinen Liebe konnte ihn erst im Vertrauen
darauf überzeugen, daß sie zu leben und kein Wortgeklingel war.
3 An sich mag es kein Fehler sein, Th esen gelegentlich hartnäckig zu verteidigen; Augustins
Wille zum Sieg (z. B. vera rel. 85: »invicti esse volumus et recte«) zeichnet sich aber auch durch
sehr befremdliche Seiten aus (z. B. in den Auseinandersetzung mit Julian). Zum Siegeswillen
Augustins vgl. Norbert Fischer: Einleitung (SwL), XV.
4 Bloß hypothetische Imperative wie die Goldene Regel (vgl. lib. arb. 1,6) weist er als unzulänglich
zurück und sucht weiter nach einem unbedingt gebietenden Imperativ (vgl. lib. arb.
1,15): »ut omnia sint ordinatissima.«
5 Vgl. die Skizzierung seines Wegs der Suche im zehnten Buch der Confessiones, der ihn auf
den Weg nach innen führte, dann aber zu einer ›Inversion der Aktivität‹, die im Wendepunkt
des zehnten Buches zur Sprache kommt (10,38): »vocasti et clamasti et rupisti surditatem meam,
coruscasti, splenduisti et fugasti caecitatem meam, fragrasti, et duxi spiritum et anhelo tibi,
gustavi et esurio et sitio, tetigisti me, et exarsi in pacem tuam.« Zum Aufstieg nach innen und
zur Inversion der Aktivität vgl. Norbert Fischer: Einleitung (SwL), bes. XL – LXIV. Vgl. zum
Hintergrund auch Norbert Fischer; Dieter Hattrup (Hg.): Irrwege des Lebens. Augustinus: ›Confessiones‹
1 – 6.
4 | norbert fischer
Daß Augustinus später von manchen Lesern nur noch als ›Lehrer der Gnade‹
betrachtet wurde, ist als eine schädliche Verengung des Blicks auf Teile seines späten
Werkes zurückzuweisen.6 Obwohl die großen mittelalterlichen Denker, wie auch der
vorliegende Band zeigt, nicht dazu neigten, den Kirchenvater explizit der Kritik
auszusetzen, entsprachen sie, indem sie sich nicht auf Pfade führen ließen, die sie
für verfehlt hielten, auf höhere Weise seinen Intentionen.
Der erste Band zur Wirkungsgeschichte Augustins enthält Untersuchungen ab
deren Beginn und reicht bis zum Übergang zur Neuzeit (nämlich den Augustinus-
Deutungen, wie Martin Luther und Cornelius Jansen sie entfaltet haben) und endet
mit deren Nachklang auf katholischer Seite. Im ersten Abschnitt der Wirkungsgeschichte
fungierte das Corpus Augustinianum auch als ein bedeutsames Vehikel
eines Grundbestands antik-christlicher Bildung, besonders vermittelst der von
Augustinischem Gedankengut geprägten Sentenzen des Petrus Lombardus (1095/
1100 – 1160), die den Eindruck erwecken konnten, Augustinus ›habe alles gesagt‹,
und deren Kommentierung bis zum Ende des Mittelalters zum Standard theologischer
Universitäts-Laufb ahnen gehörte (als eine Art Habilitationsschrift ) und schon
dadurch das geistige Milieu stark einfärbte.7
Ablehnende Bemerkungen zu Augustinus, der im Bereich der westlichen Kirche
als überragende Autorität und als Garant für ein einvernehmliches Verhältnis zur
Philosophie galt, waren in einer Zeit, in der die arabische Aristoteles-Kommentierung
eine für die Kirche äußerst schwierige Situation heraufb eschworen hatte, wenigstens
nicht opportun.8 Gleichwohl folgten die Leser Augustins nicht blind den
Vorgaben, sondern gingen – besonders deutlich sichtbar z. B. bei Petrus Abaelardus
6 Zur Integration der späten Exzesse in ein Gesamtbild vgl. Norbert Fischer: Augustins
Philosophie der Endlichkeit. Zur systematischen Entfaltung seines Denkens aus der Geschichte der
Chorismos-Problematik, bes. 268 – 295: Der praktische Weg zum höchsten Gut und die Dialektik
von Freiheit und Gnade; weiterhin: Freiheit und Gnade. Augustins Weg zur Annahme der Freiheit
des Willens als Vorspiel und bleibende Voraussetzung seiner Gnadenlehre; und: Zur Gnadenlehre
in Augustins Confessiones. Philosophische Überlegungen zu ihrer Problematik.
7 Vgl. Sententiae in IV libris distinctae; dieses Werk ist in zwei Redaktionen von 1150 bis 1158
entstanden; vgl. dazu Otto Baltzer: Die Sentenzen des Petrus Lombardus. Ihre Quellen und ihre
dogmengeschichtliche Bedeutung; Friedrich Stegmüller: Repertorium commentariorum in Sententias
Petri Lombardi (2 Bände); außerdem Marcia Colish: Peter Lombard (2 Bände). Zur Bedeutung
Augustins im späteren Mittelalter vgl. auch Meredith J. Gill: Augustine in the Italian
Renaissance. Art and Philosophy from Petrarch to Michelangelo.
8 Papst Gregor IX. beklagte im Brief vom 19. 3. 1227 an die Pariser Th eologen das Eindringen
des Aristotelismus; er fürchtete, daß dessen Verfechter die von den Vätern gesetzten Grenzsteine
(»positos a Patribus terminos«) mißachteten und zur ›philosophischen Lehre von den natürlichen
Dingen‹ übergingen (»ad doctrinam philosophicam naturalium«; er meint die Philosophie
des Aristoteles, deren Auslegung in der Art der arabischen Aristoteles-Interpreten der kirchlichen
Th eologie gefährlich zu werden drohte), die er nicht nur für ›leichtfertig, sondern für
gottlos‹ hielt (der Brief findet sich in DH 824); vgl. dazu Norbert Fischer: Einleitung des Herauseinleitung
| 5
und Th omas von Aquin – mit eigenem, zum Teil mit ausgesprochen selbständigem
Urteil an die überlieferten Th esen Augustins heran, allerdings ohne den Versuch zu
machen, die Spannungen und Widersprüche im Werk Augustins zu thematisieren
oder gar Lösungsmodelle für sie zu entwickeln. In voller Schärfe traten die Probleme
zutage, nachdem zu Beginn der Neuzeit – auch unter Berufung auf Augustinus –
eine Gnadenlehre entfaltet worden war, die für die Freiheit der Willensentscheidung
keinen Platz mehr ließ und so in einen klaren Widerspruch zu der im Werk Augustins
(äußerlich betrachtet) unklaren Th esenlage trat.9 Die Darstellungen zur Augustinus-
Rezeption in den über tausend Jahren nach seinem Tod enden mit einem
Beitrag, in dem sich die katholische Seite wieder an diesen Autor herantastete.
Karla Pollmann nennt ›eruditio‹ als Maßgabe, unter der Augustinus zunächst
rezipiert wurde. Eine Grundlage der frühen Augustinus-Rezeption war – neben den
Retractationes – die Biographie des Possidius († nach 437), der fast vierzig Jahre mit
Augustinus zusammengelebt hatte.10 Der Beitrag verfolgt Stationen der frühen Augustinus-
Rezeption exemplarisch an De Genesi ad litteram. Erwähnt werden Salvian
von Marseille (etwa 400 bis 480) und die Rezeption von De Genesi in Dichtungen
(Claudius Marius Victorius, Dracontius, Avit). Ausführlicher wird Eugippius
(† nach 530) dargestellt, der in Augustins Werken die orthodoxen Positionen des
christlichen Glaubens sehe. Obwohl für Cassiodor (etwa 485 – 580) die erstmals bei
ihm greifb are Apostrophierung Augustins als ›pater‹ signifi kant sei, gebrauche er De
Genesi ad litteram als ›Steinbruch‹, um sein eigenes systematisches Anliegen zu
stützen. Gregor der Große (540 – 604) habe Augustinus bewundert und ihn für die
Herausforderungen seiner Zeit fruchtbar gemacht. Isidor von Sevilla (570 – 636)
habe De Genesi für seine kompilierenden Interessen benutzt. Obgleich Beda Venerabilis
(672/3 – 735) Augustins Autorität anerkannt habe, habe er es vermieden, ihm
in allem zu folgen. Für Wigbod, der um 775 – 800 für Karl den Großen einen Katenen-
Kommentar zum Oktateuch verfaßt habe, sei Augustinus in der Genesis-Katene
die Hauptquelle gewesen. Nach Alkuin († 804) werden Claudius von Turin († 827)
und Hrabanus Maurus (784 – 856) als gute Augustinuskenner genannt. Johannes
Scotus Eriugena (810 – 877) habe die Th eorie der Simultanschöpfung und der ›prigebers;
in ders. (Hg): Kant und der Katholizismus. Stationen einer wechselhaft en Geschichte, 1.
Mit der Tradition der Väter ist die überragende Bedeutung Augustins gemeint, wie sie in den
Sentenzen des Petrus Lombardus hervortritt.
9 Luther war ja kein Augustinus-Forscher und schrieb De servo arbitrio, ohne Augustins
De libero arbitrio zu nennen (wohl auf Grund seiner Fixierung auf das gleichnamige Werk des
Erasmus von Rotterdam); Luther denkt wohl im Rahmen der Polemik, in der Augustinus Julian
von Aeclanum zu diskreditieren trachtet, indem er diesem die Th ese des ›servum arbitrium‹
unterstellt, weil wahre Freiheit nur durch Gnade möglich sei (c. Iul. 2,23): »hic enim vultis
hominem perfi ci, atque utinam dei dono, et non libero, vel potius servo propriae voluntatis
arbitrio«.
10 Wilhelm Geerlings (Hg.): Possidius. Vita Augustini, 14.
6 | norbert fischer
mordiales causae‹ von Augustinus übernommen, gehe aber über Augustinus hinaus.
Den Schluß bildet Remigius von Auxerre († 908), der häufi g aus De Genesi ad litteram
zitiert habe. Karla Pollmann belegt die bald hervortretende Autorität Augustins,
die aber nicht zu sklavischer Gefolgschaft geführt habe.
Christian Göbel untersucht in seinem Beitrag zur Augustinus-Rezeption des
Anselm von Canterbury das Verhältnis von Glaube und Vernunft , von Th eologie
und Philosophie. Dieses Verhältnis wird nicht auf einer formalen Meta-Ebene oder
in propädeutisch-vorthematischen Voraussetzungen diskutiert, sondern als das
theologisch-philosophische Denken selbst charakterisiert. Der Beitrag durchmißt
das vielschichtige Beziehungsfeld von Glaube und Vernunft mit Bezug auf zwei seiner
bedeutendsten Anreger, auf Augustinus und seine Wirkung auf seinen großen
›Schüler‹ in der Scholastik, Anselm von Canterbury. Im Ausgang von Augustinischen
und Anselmischen Motiven der Enzyklika Fides et Ratio von Papst Johannes
Paul II. (1998) wird das Verhältnis von Glaube und Vernunft bei Anselm mit Blick
auf die Hauptwerke Monologion, Proslogion und Cur Deus Homo beleuchtet. Im letzten
Kapitel fragt der Autor, wie die zentralen Überlegungen zur Rolle der Vernunft
in Glaubensfragen zu einem eigenen Entwurf im Kernbereich der philosophischen
Gotteslehre führen, nämlich als Vernunft weg zu Gott oder ›Gottesbeweis‹, der in
einer ›kosmologischen‹ Rekonstruktion vorgetragen wird, da auch das »alethologische
Argument« prinzipiell auf dem kosmologischen Grundgedanken gründe.
Lenka Karfíková versteht Abaelard als originalen und kühnen Autor, der zwar
nicht alle Lösungen, aber doch die Fragen Augustins akzeptiert habe, auf die Abaelard
eigene Antworten sucht. Konkret geht es um die trinitarische Th eologie, die
Soteriologie, die Gnadenlehre und die Ethik. Die christliche Existenz wird im Sinne
Augustins als Freiheit ausgelegt, in der Gebote nicht aus Furcht, sondern aus Liebe
erfüllt werden. Letztlich werde sie aber nicht als sittliche Möglichkeit des Menschen
verstanden, sondern als Gnade Gottes, der allein dem Menschen Gefallen am sittlich
Richtigen schenken könne. So komme es in der späten Gnadenlehre Augustins
zu einer (höchst problematischen) Relativierung jeder menschlichen Moral überhaupt.
Ohne Hilfe der göttlichen Gnade sei eine gute Tat nach dem späten Augustinus
in Gottes Augen wertlos, sofern sie eben nicht durch die Liebe motiviert ist, die
nur Gott selbst schenken könne. Wo Augustinus eine solche extreme Gnadentheologie
ausführe, beschränke sich Abaelard auf ihre rein ethische Anwendung, in der
die Gnadenlehre als der ursprüngliche Kontext beiseite gelassen wird.
Andreas E.J. Grote beginnt mit der Geschichte der Exegese zur Arche Noah, stellt
Augustins Exegese in diesen Kontext und betrachtet dazu die mittelalterliche Rezeption
dieser Exegese im Spannungsfeld von literalem und allegorischem Schrift sinn.
Damit werden sowohl wesentliche Züge der Schrift deutung Augustins faßbar als
auch die Art von deren Aufnahme im Mittelalter. Die Untersuchung der Rezeption
von Augustins Deutung der Arche-Noah-Episode beginnt bei Hugo von St. Viktor,
einleitung | 7
den schon Zeitgenossen als ›alter Augustinus‹ bezeichneten, geht dann weiter zum
Franziskaner-Spiritualen Petrus Johannis Olivi und führt zu Aegidius Romanus,
dem Haupt der sogenannten ›Augustiner-Schule‹.
Dieter Hattrup stellt das Denken des Johannes Bonaventura als ekstatisch gesteigerten
Augustinismus dar und sieht Bonaventura positiv durch Franziskus von
Assisi zu diesem Denken stimuliert, negativ durch Aristoteles. Das Begreifen von
Philosophie und Wissenschaft kehre Bonaventura um in das Ergriff ensein der Ekstase:
»In comprehensivo cognoscens capit cognitum, in excessivo vero cognitum
capit cognoscentem.« In De Scientia Christi von 1254 fi ndet Dieter Hattrup die Grundlage
von Bonaventuras Denken, das dieser bis zuletzt in den Ansprachen des Hexaëmeron
(1273) mit polemischer Heft igkeit verteidigt habe.
Th omas Fliethmann schränkt das übergroße Feld der Augustinus-Rezeption
bei Th omas von Aquin auf die Betrachtung der ›Gotteslehre‹ ein. Er geht von der
Annahme aus, daß Th omas die Augustinischen Vorgaben aufgenommen, weitergeführt,
oder auch, wie zum Beispiel beim Erbsündenthema, still und nachdrücklich
uminterpretiert hat. Ausgangspunkt ist die trotz der Bedeutung des Aristoteles bleibende
Rolle des Neuplatonismus im Denken des Th omas, der nicht nur Sachthemen
Augustins aufnehme, sondern sie präzisiere, korrigiere und neu forme, wobei die
Intentionen unter gewandelten wissenschaft stheoretischen Vorgaben weitergeführt
werden. Augustinus werde bis in die Trinitätslehre hinein zur Absicherung des neuplatonischen
Stranges der Gotteslehre herangezogen, gemäß dem die Schöpfung auf
Gott als das höchste Gut (summum bonum) bezogen ist und von ihm seine eigene,
geschaff ene bonitas empfängt.
Hannes Möhle sieht die Augustinus-Rezeption des Johannes Duns Scotus vom
geistesgeschichtlichen Hintergrund der Auseinandersetzung mit den Lehren des
vorchristlichen Philosophen Aristoteles geprägt. Scotus stehe vor der Herausforderung,
Augustins Gedankengut, das ihm vor allem in der Vermittlung durch
Heinrich von Gent gegenwärtig sei, in eine tragfähige Synthese mit den Ansprüchen
der Aristotelischen Erkenntnis- und Wissenschaft stheorie zu bringen. Wie der Vergleich
mit Heinrich zeigt, folge Scotus in erster Linie den Vorgaben des Aristoteles,
wenn er etwa die Reichweite und die Grenzen menschlicher Erkenntnis bestimmt.
Einschlägige Lehrstücke Augustins, besonders dessen Betonung einer göttlichen
Illumination, lehne Scotus der Sache nach ab, wie der Vergleich mit Heinrich lehre.
Die Autorität, die Scotus Augustinus zuschreibt, führe aber dazu, die sachliche Ablehnung
eher in Gestalt einer Akzentverschiebung und Umdeutung Augustinischer
Gedanken zu kleiden, die Scotus gegenüber Heinrich als wahre Augustinus-Deutung
begreife. Der sachliche Vergleich mit der Augustinus-Rezeption Heinrichs lasse
das Maß erkennen, in dem sich Scotus von den Lehren des Kirchenvaters entferne,
wenn anders die einschlägigen Vorgaben des Aristotelischen Denkens nicht zu
erfüllen sind.
8 | norbert fischer
Johannes Brachtendorf behandelt die nicht leicht zu bestimmende Beziehung
Meister Eckharts zu Augustinus, der in Eckharts Texten häufi ger zitiert wird als
jeder andere Autor. Einerseits versuche Eckhart auf vielen Gebieten, seine Grundpositionen
durch die Autorität des Kirchenvaters abzusichern. Dieser Versuch betreff
e vor allem den Seinsbegriff , die Deutung des ›inhaerere Deo‹ als Lebensziel des
Menschen, die Th eorie des menschlichen Geistes, die Lehre vom Bild Gottes, die
Trinitätslehre und schließlich die Konzeption des mystischen Aufstiegs. Andererseits
zeige ein genauer Vergleich, daß Eckhart Augustinus auf neuplatonische Positionen
hin zurückbiege, von denen der Kirchenvater selbst sich gelöst hatte. Eckhart
denke wieder stärker in den Bahnen des Neuplatonismus als Augustinus. Insofern
sei Eckharts Augustinus-Rezeption durch eine neuplatonische Transformation des
Kirchenvaters gekennzeichnet.
Rudolf Kilian Weigand untersucht die frühe Aufnahme Augustinischer Gedanken
in deutschsprachigen Werken. Auch wenn bereits unter sehr frühen Zeugnissen
des Deutschen eine Augustinus-Predigt übersetzt sei (Sermo 76 in den Monsee-
Wiener Fragmenten), bleibe die Kenntnis des Kirchenvaters in der deutschen Sprache
im frühen und hohen Mittelalter marginal. Erst ab dem 13. Jahrhundert seien
deutsche Texte zu fassen, deren Augustinus-Verwertungen die Popularisierung von
Gedanken des Bischofs von Hippo vorantreiben. Als Beispiel wird das gereimte
didaktische Großwerk Renner des Hugo von Trimberg angeführt. Über das Schrift -
tum der deutschen Mystik (Eckhart, Tauler) seien dann im 14. Jahrhundert breite
Kreise mit Augustinischem Gedankengut versorgt worden. Allerdings fehlten in
dieser Zeit noch immer umfassende Übersetzungsunternehmungen, die sich erst
für das 15. Jahrhundert nachweisen ließen.
Hermann Schnarr widmet sich der Vorgeschichte der Cusanischen Wortverbindung
›docta ignorantia‹ (gelehrtes oder belehrtes Nichtwissen). Er zeigt, wie
Augustinus und der von diesem geprägte Bonaventura den Begriff ›docta ignorantia‹
jeweils in einer auf bestimmte Bereiche der Gotteserkenntnis beschränkten
Weise gebrauchen. Nikolaus von Kues dehne den Begriff auf den gesamten Bereich
menschlichen Erkennens aus. Als er wegen dieser scheinbar dem Aristotelischen
Wissenschaft sverständnis widersprechenden Erkenntnistheorie von dem Heidelberger
Th eologie-Professor Johannes Wenck von Herrenberg angegriff en wurde, habe
Nikolaus seine Th eorie des Nichtwissens zu verteidigen versucht – und zwar unter
ausdrücklicher Berufung auf den Kirchenvater Augustinus und dessen Verwendung
des Begriff s ›docta ignorantia‹.
Markus Wriedt zeigt, wie Luther den Augustinismus des Spätmittelalters – wenn
auch nicht ausschließlich, so doch ganz wesentlich – durch seinen Orden kennengelernt
und übernommen hat. Die Th eologie der Augustiner spiegele die ganze
Bandbreite der Augustinus-Rezeption des Spätmittelalters wider. Angesichts dieses
diff usen Befundes könne man jene Form der Augustinus-Rezeption kaum so belaeinleitung
| 9
sten, um in ihr jene entscheidende Initiation zu erblicken, die Luther auf seinen
weiteren Weg zur Reformation leitete. Nach eigenem Bekunden hat die seelsorgerliche
Zuwendung des Johann von Staupitz (1465 – 1524) Luther für die Wahrnehmung
von dessen antipelagianischer Gnaden- und Rechtfertigungslehre sensibilisiert.
Daneben seien aber auch andere theologische Zeitströmungen für die Entwicklung
des theologischen Profi ls des jungen Luther von gleichberechtigter
Bedeutung gewesen. Augustinus sei gleichwohl für Luther eine, wenn nicht phasenweise
die unbezweifelbar auch von den Gegnern anerkannte Autorität, die ihn in
seiner Auslegung des Evangeliums bestärkt und die damit entscheidende reformatorische
Einsichten ermöglicht habe. Luther habe Augustinus als Inbegriff katholischer
Orthodoxie gesehen, die sich freilich je neu im Licht der Heiligen Schrift zu
bewähren hatte.
Richard Sokolovski beginnt mit dem Hinweis, daß Cornelius Jansenius weder als
Professor noch als Th eologe noch als Bischof in die Geschichte eingegangen ist,
obgleich er doch Professor der Heiligen Schrift , Th eologe zu Löwen und Bischof von
Ypern war. Sogar sein persönlicher Name sei diesem Augustinuskenner des 17. Jahrhunderts
weggenommen und durch einen Allgemeinbegriff ersetzt worden: Jansenismus.
Sein Meisterwerk Augustinus, in dem Jansenius den grandiosen Versuch
unternommen habe, die Gnadenlehre des Augustinus als die einzig plausible und
kirchlich rezipierte Th eologie für das 17. Jahrhundert auszulegen, sei ein nie gelesenes
Buch geblieben. ›Augustinus – matrix omnium conclusionum‹, so laute das
Motto des Cornelius Jansenius. Die Methode, derer die Lektüre Augustins bedürfe,
wende Jansenius auf die gesamte Gnadentheologie des Doctor gratiae an: Innerlich
müsse das Werk des Lehrers des Abendlandes gemäß seiner eigenen theologischen
Entwicklung gelesen werden; äußerlich verstehe er Augustinus als Rettungsanker
gegen die Ambivalenz der kirchlichen Tradition. Die Widersprüchlichkeit der Augustinus-
Rezeption wie der kirchlichen Überlieferung überhaupt deute er als ›labyrinthus
quaestionum‹. Den Augustinus des Jansenius legt Richard Sokolovski als den
ersten katholischen Versuch der Neuzeit aus, mit Hilfe des Kirchenlehrers Augustinus
aus der Finsternis und Gefangenschaft des Labyrinths in das Licht und in die
Freiheit der göttlichen Gnade zu gelangen.
Erich Naab behandelt Enrico Noris (1631 – 1704), Fulgencio Bellelli (1675 – 1742)
und Gianlorenzo Berti (1696 – 1766) als die Hauptverteter der sogenannten jüngeren
Augustinerschule, die modifi zierend Ansätze des Michael Bajus und Cornelius
Jansenius aufnehmen, um gegen die neuzeitliche Konstruktion einer reinen, sich
selbst genügenden und gottlosen Natur die stete Beziehung des geschaff enen Geistes
zu seinem transzendenten Ziel zu wahren. Die Diskussion fokussiere sich auf die
Fragen des Urstandes, bestimme die Bedeutung der Gnadentheorie und wurzele im
Gottesverständnis. In der Auseinandersetzung mit den innerkatholischen Gegnern
werde die Unterscheidung zwischen einer potentia absoluta und ihrer Ausgestaltung
10 | norbert fischer
als potentia ordinata gebraucht (und so die Möglichkeit einer reinen Natur nicht
einfach bestritten). Der Verfasser achtet darauf, welche Bedeutung dieser Diff erenz
gegenüber den Vorgängern im Denken der Augustiner zukommt, und zeigt auf,
wie sie versuchen, die Transzendenz Gottes nicht durch die Scheidung zwischen
Natur und Gott, sondern durch die Gnade und Einung mit ihm auszudrücken. Im
Entwurf von Juan Martínez de Ripalda SJ (1594 – 1648) werde zwar die natura pura
erschreckend deutlich entwickelt, aber in der Situation des Menschen nach dem
Sündenfall in der Intention Augustinischer Th eologie, doch unter scholastischem
Gewand, mit der Annahme einer universalen initialen Gnade wiederum weitgehend
neutralisiert.11
Rückblickend läßt sich die ›eruditio‹, die durch die Sentenzen des Petrus Lombardus
institutionalisiert war, als wichtiges Merkmal der mittelalterlichen Augustinus-
Rezeption festhalten. Wo Augustinus über diesen Gesichtspunkt hinaus aufgenommen
wurde, sind die von ihm ausgehenden Impulse keineswegs unterwürfi g oder
autoritätsgläubig übernommen worden. Bemerkenswert ist vielmehr, wie eigenständig
die großen Leser Augustins im Mittelalter mit dessen Texten umgegangen
sind. Noch bemerkenswerter scheint allerdings, daß Augustinus, nachdem sich der
Traditionsbruch der Neuzeit ereignet hatte und die Berufung auf tradierte Autoritäten
vollends obsolet geworden war, zunehmend als ernstzunehmender Denker
anerkannt worden ist, auch in Kontexten, in der seine Bedeutung als ›Kirchenvater‹
von geringerer Bedeutung war, beispielsweise bei den Begründern der ›Phänomenologischen
Philosophie‹.12 Die fortbestehende Beachtung Augustins wird im zweiten
Band dargetan, in dem Augustinus als Lehrer des Abendlandes vom Beginn der
Neuzeit bis in die Gegenwart ins Auge gefaßt wird. Wie immer man die Augustinus-
Darstellung von Karl Jaspers in ihrer spröden, oft uneinheitlichen Art beurteilen
mag: Es ist ein deutliches Zeichen für das geistige Klima des 20. Jahrhunderts, daß
Jaspers Augustinus als einen der »fortzeugenden Gründern des Philosophierens«
hervorhebt, zu denen er ansonsten nur Platon und Kant rechnet.13
11 Vgl. Hermann-Josef Sieben SJ: Der Beitrag der Jesuiten zur Überwindung des extremen
Augustinismus im 17. Jahrhundert, der mit dem Augustinismus des Cornelius Jansenius beginnt
(186 – 196), dann die kontroversen Diskussionen der Jesuitentheologen vor 1640 behandelt
(196 – 204) und mit Diskussionen zur Autorität Augustins von Jesuitentheologen nach 1640
schließt, die an Heft igkeit heutigen Diskussionen nicht nachstehen (204 – 216).
12 Vgl. dazu den Beitrag von Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Begegnungen mit Augustinus
in den Phänomenologien von Edmund Husserl (1859 – 1938), Max Scheler (1874 – 1928) und Martin
Heidegger (1889 – 1976); in Band II: Von Descartes bis in die Gegenwart.
13 Vgl. Die großen Philosophen, 229; bes. 231: »Wer Platos, Augustins, Kants Werke liest,
macht die Erfahrung der Produktivität des Denkens selber, die Erfahrung dessen, was Kant sagt:
man könne nicht Philosophie, sondern nur Philosophieren lernen.« Zu Augustinus: 319 – 396.
Mit Recht betont Jaspers (333): »Augustinus denkt fragend.« Seine Resümees sind oft ein wenig
nebulös (334 f.): »Die Zeit wird erst durch das fragende Erdenken, was sie sei, als Geheimnis
einleitung | 11
Ein Grund, aus dem Augustinus sich ganz unterschiedlichen Lesern zur Lektüre
aufdrängen konnte, sind auch die sehr unterschiedlichen Aufgaben, denen er sich
in seinen Schrift en stellt.14 Augustinus hat zunächst hartnäckig den Weg zur Wahrheit
und zum seligen Leben gesucht und auch Irrwege nicht gescheut. Nach der
›Bekehrung‹ wollte er seine Leser zum Mitgehen auf dem von ihm gefundenen Weg
der Wahrheit antreiben, der ihn selbst zum Lob Gottes geführt hatte.15 Eine wichtige
Frucht des Antriebs, Gott zu loben, den er selbst von Gott empfangen zu haben
glaubte (conf. 1,1: »tu excitas, ut laudare te delectet«), sind die Confessiones, die Augustinus
in den Retractationes besonders hervorgehoben und ausdrücklich als ›excitationes‹
verstanden hat. Dort sagt er, daß die dreizehn Bücher seiner Bekenntnisse
zunächst den Blick auf das Schlechte und auf das Gute an ihm richten und
dabei Gott als gerecht und gut loben, sodann Geist und Sinn des Menschen auf Gott
hin antreiben – was sie bei ihm schon bewirkt hätten, als er diese Bücher schrieb
und es jetzt noch täten, wenn er sie wieder liest.16 Es mag sein, daß Augustins eigener
Denkweg, sofern er von den Fragen nach Gott und der Seele bestimmt war, in
den Confessiones seinen gültigen Ausdruck gefunden hat, der in den späteren Werken
keine wirkliche Wandlung, sondern nur noch seine Ausgestaltung hinsichtlich
neuer Kontexte erfahren hat.
Insbesondere durch das Amt des Bischofs sah Augustinus sich gedrängt, sich
anderen Aufgaben zu widmen, nämlich der Auslegung der Heiligen Schrift en17 und
ganz fühlbar. Aber ich denke es, um durch dies Geheimnis selbst mich des Sinns der Ewigkeit,
Gottes Ewigkeit und der eigenen, in der die Zeit getilgt ist, zu vergewissern.« Er trägt eine antithetische
Charakterisierung Augustins vor (387): »Er ist ein chaotischer Mensch, darum begehrt
er die absolute Autorität, – er neigt zum Nihilismus, darum bedarf er absoluter Garantie,
– er bleibt in der Welt ohne wirkliche Bindung, weder an eine Frau, noch an Freunde, darum
sucht er Gott ohne Welt.« Andererseits sagt er (ebd.): »Solche Gegensatzpsychologie ist vielleicht
auf einer Ebene klärend, aber auf ihr wird der Ernst Augustinischen Denkens nicht erreicht.
«
14 Hinweise zu Augustins Wirkung in der Neuzeit gibt Band II (vgl. dort auch die Einleitung
des Herausgebers).
15 Vgl. z. B. conf. 1,1; 10,4; dazu Norbert Fischer: Einleitung (SwL), XXXI – XXXIII; XXXV;
XXXVII; XCI.
16 Vgl. retr. 2,6,1: »confessionum mearum libri tredecim et de malis et de bonis meis deum
laudant iustum et bonum, atque in eum excitant humanum intellectum et aff ectum interim quod
ad me attinet, hoc in me egerunt cum scriberentur et agunt cum leguntur.« Bemerkenswert ist,
daß die Confessiones im systematisch orientierten Denken des Hochmittelalters im Hintergrund
blieben, daß sie mit dem Aufk ommen der spirituell ausgerichteten ›devotio moderna‹ in den
Blickpunkt der Aufmerksamkeit traten und in der neueren Philosophie, besonders seit dem
Beginn ihrer phänomenologischen Ausrichtung, auch denkerisch als zentraler Text beachtet
wurden.
17 Diese Auslegung war – im Gegensatz zur heute vorherrschenden Exegese – stark von
philosophischen und spirituellen Motiven und einer allegorischen Methode bestimmt. Als
Beispiel, daß diese Exegese auch heute noch positive Resonanz fi ndet, vgl. Ludger Schwienhorst12
| norbert fischer
der systematischen Refl exion der Inhalte der Glaubensbotschaft (z. B. De trinitate).18
Dabei begab er sich in zuweilen unerbittliche Debatten mit abweichenden Lehren
(z. B. Contra Iulianum)19 oder betrieb als beredter Advokat die Abwehr feindlicher
Angriff e gegen die christliche Kirche (z. B. De civitate dei).20 Die Unterschiedlichkeit
der Gesichtspunkte, die Augustinus zum Denken, Lehren und Schreiben bewegt
haben, spiegelt sich in einer facettenreichen, teils auch widersprüchlich scheinenden
Wirkungsgeschichte, deren Untersuchung nicht nur historischen Interessen dient,
sondern auch Anregungen zur sachgemäß refl ektierten Lektüre seiner Werke gibt,
sofern sie von Blickverengungen zu befreien vermag, die endlichen geschichtlichen
Situationen immer anhaft en.
Schönberger: Augustins Auslegung von Genesis 1 in Confessiones 11 – 13 und die moderne Bibelwissenschaft.

18 Vgl. dazu z. B. Johannes Brachtendorf: Gott und sein Bild. Augustins De Trinitate im Spiegel
gegenwärtiger Forschung. Basil Studer: Augustinus. De Trinitate. Eine Einführung.
19 Vgl. Mathjis Lamberigts: Julian von Aeclanum und seine Sicht der Gnade: Eine Alternative?
(mit weiteren Literaturangaben).
20 Vgl. z. B. Christoph Horn: Augustinus. De civitate dei; zur Bedeutung der ihn prägenden
Last des Bischofamtes vgl. Gerhard May: Augustin als Prediger, Seelsorger und Bischof.