lehrerbibliothek.deDatenschutzerklärung
Apokalypse ist jetzt Vom Schweigen der Theologie im Angesicht der Endzeit
Apokalypse ist jetzt
Vom Schweigen der Theologie im Angesicht der Endzeit




Gregor Taxacher

Random House , Gütersloher Verlagshaus
EAN: 9783579081403 (ISBN: 3-579-08140-3)
224 Seiten, Festeinband mit Schutzumschlag, 15 x 22cm, 2012

EUR 19,99
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Die Menschheit der Gegenwart ist in einer nicht mehr abwendbaren und nicht mehr endenden Endzeit angelangt. Der apokalyptische Charakter der Gegenwart besteht grundsätzlich und gegenwärtig, nicht nur prognostisch.

Umfassend und klar beschreibt Gregor Taxacher hier, welche Phänomene in der Umwelt, der Ökonomie und im globalen Zusammenleben die Situation der Gegenwart als eine apokalyptische qualifizieren. Haben die Kirche, die Glaubenden darauf eine Antwort? Taxacher findet sie in den apokalyptischen Kategorien der Bibel. Diese neu wahrzunehmen, erschließt radikale Handlungsmöglichkeiten, die über ein bloßes Krisenmanagement weit hinausreichen.

Gregor Taxacher, geboren 1963 in Köln, Dr. theol., studierte Kath. Theologie, zeitweise auch Philosophie und Germanistik, in Würzburg, Tübingen und Bonn. 1993 Promotion in Theologie mit einer Arbeit über den evangelischen Theologen Karl Barth. Seither zehn Jahre Tätigkeit in der Erwachsenenbildung, später als freier Journalist und Autor und als Redakteur beim Westdeutschen Rundfunk. - 1998 erschien von ihm im Gütersloher Verlagshaus: „Nicht endende Endzeit. Nach Auschwitz Gott in der Geschichte denken.“ Seither Veröffentlichungen zur Theologie nach Auschwitz und zur Theologie der Geschichte. 2010 erschien sein Buch „Apokalyptische Vernunft. Das biblische Geschichtsdenken und seine Konsequenzen“ (WBG Darmstadt).
Rezension
Dieses Buch macht wenig Hoffnung angesichts der umfassenden globalen ökologischen (Kapitel 1) und der umfassenden globalen sozialen Katastrophe (Kapitel 2), auf die die Menschheit nach Diagnose des Verfassers unweigerlich zuläuft. Aber gerade weil dieses Buch wenig Hoffnung macht, - deshalb macht es vielleicht doch bründete Hoffnung; denn der Zusammenbruch der globalen Zivilisation ist in Wahrscheinlichkeiten ausrechenbar. Wenn wir bleiben wollen, müssen wir uns ändern! Das ist das Credo des Verfassers. Und es ist ausgerechnet das Christentum mit seiner apokalyptischen Tradition, das einen rettenden Paradigmenwechsel ermöglichen könnte (Kapitel 4 und 5). Der Autor deutet die Moderne dabei als permanente Endzeit (Kapitel 3), die dringend der biblischen Ressourcen für eine nach-moderne Zeit bedarf (Kapitel 5).

Dieter Bach, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Wenn wir bleiben wollen, müssen wir uns ändern!
Der Zusammenbruch der globalen Zivilisation ist in Wahrscheinlichkeiten ausrechenbar. Wenn wir bleiben wollen, müssen wir uns ändern. Wahrhaben wollen wir das aber lieber nicht. Und auch die Kirchen schweigen.
Dabei verfügt gerade das Christentum in seiner Tradition der Apokalypse über Quellen der Weltdeutung, die einen rettenden Paradigmenwechsel mit herbeiführen könnten.
Gregor Taxacher macht deutlich, was es bedeutet, diese heute zu aktivieren: Theologie und Kirche müssen ihre faktische Koalition mit einer Religion bürgerlicher Stabilität aufgeben. Es gilt, gegen ein bloß technokratisches Krisenmanagement einen Habitus des Überlebens zu entwickeln, die biblische Gesellschaftskritik für eine Vision der Welt von morgen neu zu entdecken und auszulegen. Ein Buch, das der Gesellschaft die Wahrheit zumutet, die sie aus der Erstarrung befreien kann.
Gegen eine Religion bürgerlicher Stabilität
Theologie für einen Habitus des Überlebens
Inhaltsverzeichnis
Vorspiel, literarisch: Von der Utopie zum Albtraum 7

KAPITEL 1
Naturgesetze als Gegner:
Die globale ökologische Katastrophe 16

1. Ein Szenario, das es noch nicht gab 19
2. Wenn Nachhaltigkeit zum Fluch wird 35
3. Politik am Ende 42
4. Reaktionen in der Sackgasse (1) 56

KAPITEL 2
Ausbeutende Zivilisation:
Die globale soziale Katastrophe 64

1. Erste Täter und erste Opfer 64
2. Kolonialismus und Kannibalismus 69
3. Zugerichtete Welt 87
4. Reaktionen in der Sackgasse (2) 102

KAPITEL 3
Das Anthropozän:
Die Moderne als permanente Endzeit 110

1. Unausweichliche Anthropozentrik 110
2. Unausweichliche Apokalypse 117
3. Wider das Pessimismus-Tabu 126

KAPITEL 4
Gegenwart braucht Prophetie:
Theologische Qualifikation der Zeit 133

1. Die unbequeme Rede vom Gericht 137
2. Jenseits von Tragik und Ohnmacht 156

KAPITEL 5
Glauben und Leben im Anthropozän:
Biblische Ressourcen für die Nach-Moderne 176

1. Kirchen ohne Prophetie 176
2. Die neuen Deuteronomisten 186
3. Die neuen Apokalyptiker 190
4. Die neuen Weisen 197
5. Hoffnung für Frau Lot 203

Anmerkungen 207
Literatur 221


Leseprobe:

Vorspiel, literarisch:
Von der Utopie zum Albtraum
Der utopische Traum von einer idealen Gesellschaft entsteht in der
Neuzeit. 1516, in der Kinderstube der Epoche, gibt ein Buch von Thomas
Morus einem ganzen literarischen Genre den Namen: Utopia.1
Die Bewohner dieser abgelegenen Insel halten dem kriegerischen und
frühkapitalistischen England einen Spiegel vor, weil sie ihr Leben tatsächlich
nach der Vernunft gestalten, möglichst friedlich sind und
untereinander gleich. Mit der Aufklärung tauchen – während der reale
Ozean immer flächendeckender erkundet wird – mehr und mehr
solche Inseln der Vernunft in der Literatur auf. Im 19. Jahrhundert
siedeln die Bürger der Nicht-Orte dann nicht mehr im imaginären
Raum, sondern in der Zeit. Utopie wird zur erhofften oder gar berechneten
Zukunft: sei es die einer klassenlosen Gesellschaft, in der die
Herrschaft des Menschen über den Menschen abgeschafft ist; sei es
die einer Befriedigung der Menschheitsbedürfnisse durch technische
Errungenschaften. Fortschritt scheint das geeignete Verkehrsmittel
zur Erreichung der Insel Utopia. Ihr Weltmeer heißt Zukunft.
Doch dann kippt dieses Weltmeer um, wie Ökologen sagen würden.
Aus dem utopischen Traum wird in der Moderne ein Albtraum. Die
Weltkriege und die totalitären Imperien sich bekämpfender Ideologien
bringen den Glauben an die Geschichte als einer unfehlbaren Besserungsanstalt
ebenso ins Wanken wie die inhumanen Folgen von Industrialisierung
und Technik. Im 20. Jahrhundert reagiert eine Gegen-
Literatur auf die Fiktion von Thomas Morus, sprachlich einigermaßen
unglücklich »Dystopie« genannt.2 Nun geht es darum, sich das
schlimmst-mögliche Ende des Fortschritts vorzustellen. Gerade seine
Verwirklichung erscheint den literarischen Unheilspropheten als das,
was keinesfalls geschehen darf. Denn der Traum der Menschheit,
würde sie ihn leben können, wäre eine permanente Apokalypse.
Zum Einstieg in die Analyse der apokalyptischen Situation der Gegenwart,
die dieses Buch geben möchte, dienen drei Romane des 20.
Jahrhunderts, zwei weltberühmte und einer, der es auch sein sollte:
8 Vorspiel, literarisch: Von der Utopie zum Albtraum
»1984« von George Orwell, »Brave New World« von Aldous Huxley
und »Kein Land wie dieses« von Ignácio de Loyola Brandao. Den ersten
beiden düsteren Fiktionen ist gemeinsam, dass sie die Apokalypse
nicht mehr wie die alten religiösen Texte als ein Ende mit Schrecken
schildern, auf das Gottes Rettung folgt, sondern als einen Schrecken
ohne Ende. Die moderne Apokalypse ist keine katastrophische Wende
zum Guten, sondern eine bleierne Endzeit ohne Ende. Aber zum Ende
des 20. Jahrhunderts ändert sich das, wie der dritte Roman illustriert:
Nun kommt wieder ein Kollaps in Sicht, jedoch ohne dass Gott die
Hand im Spiel hätte. Die drei gewählten Beispiele stehen paradigmatisch
für drei Albtraum-Aspekte der Moderne. Sie überbieten sich
gegenseitig. Sie setzen gewissermaßen drei apokalyptische Reiter der
Gegenwart ins Bild. Auch diese Reiter bringen, wie ihre biblischen
Vorbilder, jeweils einen anderen Tod: den Tod der Freiheit, den Tod
der Menschlichkeit und den Tod der Natur.
»1984«: Die Welt, ein Konzentrationslager
George Orwells Roman von 1949 hat einen vergessenen Vorgänger:
Unter dem Eindruck der russischen Revolution beschrieb Jewgenij
Samjatin in seinem Roman »Wir« schon 1920 ein Imperium, das sich
selbst »Einziger Staat« nennt und von einem »Wohltäter« regiert wird,
der dem »Großen Bruder« von »1984« durchaus ähnlich sieht.3 Die
»schwarze Utopie« wird also geboren, als eine Ideologie der idealen
Welt die reale Welt zu gestalten beginnt. Orwell zieht knapp 30 Jahre
später, am Ende seines Lebens und in der Mitte des blutigen Jahrhunderts,
eine imaginäre Bilanz von Faschismus, Nationalsozialismus und
Stalinismus. Was er uns vorstellt, ist die ultimative Verwirklichung des
Totalitarismus. Orwell entkleidet die Ideologien des 20. Jahrhunderts,
Kollektivismus wie Nationalismus, ihrer gesamten Schein-Inhalte und
entlarvt ihr eigentliches Ziel: die Errichtung absoluter Kontrolle, absoluter
Herrschaft über die Menschen.
Der Staat des »Großen Bruders« hat Freiheit – und auch Wahrheit
als ihre Grundlage – gänzlich destruiert. Wilson, der Protagonist des
Romans, arbeitet als kleiner Beamter in der Propagandamaschinerie,
Vorspiel, literarisch: Von der Utopie zum Albtraum 9
welche auch die Geschichte ständig umfälscht und retuschiert. Wilson
ist zugleich die Figur, durch welche der Leser in diese fremde, lückenlose
Welt der Diktatur Eingang findet. Denn er kämpft auf verlorenem
Posten wenigstens um einen Rest Privatleben, einen Rest an eigenen
Gefühlen und eigenen Denkens. Alle uns bekannten, schon verwirklichten
Ingredienzien totalitärer Systeme – die permanente Kriegsmobilisierung,
die Überwachung, die Propagandakampagnen, die Geschichtsfälschung,
die Erniedrigung der Menschen zu Arbeitsameisen,
die Aushöhlung der Sprache, schließlich die Verhaftungen, Gehirnwäsche
und Folter – stellt der Roman in einer übersteigerten Vollgestalt
vor, so dass diese Welt aus lauter Bekanntem doch wie eine andere
Welt, eine negative Utopie, eine Dantesche Höllenreise erscheint. Auf
dieser Reise ist Wilson unser Führer, in dem wir uns Leser noch einigermaßen
erkennen können. Aber gerade diese Ähnlichkeit zerstört
das System am Ende des Buches: Wilson überlebt die Folter, aber er
ist seelisch gebrochen. Indem man ihn zum Verrat an seiner Geliebten
zwingen konnte, hat der Staat sich seines Innersten bemächtigt. Es gibt
keinen verschwiegenen Rest mehr, den Wilson ihm vorenthalten, vor
ihm retten konnte. »Er liebte den großen Bruder«, heißt es am Ende.
Damit hat der Leser seinen letzten Orientierungspunkt verloren. Das
System ist abgeschlossen. Und darin besteht die »apokalyptische« Situation
bei Orwell: nicht in einem katastrophalen Zusammenbruch,
sondern in der absoluten Stabilität des katastrophalen Endzustandes
der Geschichte, aus dem es kein Entkommen mehr gibt.
Wie lesen wir das Buch heute, im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts?
Die Frage ist schwer eindeutig zu beantworten. Denn einerseits
finden sich auch gegenwärtig in vielen Staaten die Ingredienzien
des Orwellschen Totalitarismus. Andererseits scheint nach 1945 und
dann nochmals seit 1989 der globale Trend nicht mehr in Richtung
»Ozeaniens« zu verlaufen. Die großen totalitären Ideologien und Blöcke
sind der Gewaltherrschaft eher regionaler Despotien und Terrorregime
und der Vorherrschaft des »westlichen« Modells globalisierten
Kapitalismus’ gewichen. So werden vom Staat des »Großen Bruders«
heute eher einzelne Versatzstücke rezipiert und auf Entwicklungen
etwa der Kriminaltechnik, der Datensammlung und der Verwaltung
übertragen.
10 Vorspiel, literarisch: Von der Utopie zum Albtraum
Das Buch hat seine warnende Aktualität nicht verloren. Dennoch
wirkt es eher als ein Zeugnis des 20. Jahrhunderts, ein Dokument aus
dessen Mitte, als die Welt nur noch die Alternative von Teufel oder
Beelzebub zu bieten schien. Die Welt ist ein einziges Konzentrationslager
– das ist die Wahrnehmung jener Jahre. Die unsere ist es trotz der
fortdauernden Existenz zahlreicher Konzentrationslager derzeit nicht.
»Brave New World«: Perfektion ohne Entrinnen
Das zweite literarische Beispiel ist einige Jahre älter als Orwells Schreckensgemälde
des totalen Staates: Aldous Huxleys »Schöne neue Welt«
entstand schon 1931. Interessanterweise erschien seine wirkungsvolle,
mit einem kommentierenden Vorwort des Autors versehene Neuauflage
jedoch erst zu Beginn der 1950er Jahre: Offenbar erkennen sich
erst die Menschen der Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeit zahlreich
in ihm wieder. In seinem Vorwort nimmt Huxley selbst Stellung
zur Realitätsnähe seiner Fiktion. Er sieht, mit einem vorangestellten
Zitat von Nikolai Berdjajew, die Moderne als das Zeitalter der machbaren
Utopien, in dem es Aufgabe der Intellektuellen sei, »die Utopien
zu vermeiden«.4 Und gegenüber der Erstauflage seines Buches kommt
es ihm nun so vor, »als wäre uns diese Utopie viel näher, als irgend
jemand es sich vor nur fünfzehn Jahren hätte vorstellen können. Damals
verlegte ich diese Utopie sechshundert Jahre in die Zukunft. Heute
scheint es durchaus möglich, dass uns dieser Schrecken binnen eines
einzigen Jahrhunderts auf den Hals kommt; das heißt, wenn wir in der
Zwischenzeit davon absehen, einander zu Staub zu zersprengen.«5
Der Vorbehalt, der uns von der Brave New World noch trennt, ist
also die Möglichkeit einer atomaren Apokalypse. Heute, ein halbes
Jahrhundert später, ist gerade die Angst vor dieser Apokalypse zwar
nicht gegenstandslos geworden, aber durch das Ende der Ost-West-
Konfrontation doch in den Hintergrund getreten. Vielleicht ist uns
also nach dem Ende der Drohkulisse des Kalten Krieges Huxleys
Schrecken näher auf den Leib gerückt. Er könnte uns gerade erwarten,
wenn der Orwells gebannt ist, wie Huxley selbst in einem Brief an
Orwell schrieb: »Ich habe das Gefühl, dass der Albtraum ›1984‹
Vorspiel, literarisch: Von der Utopie zum Albtraum 11
zwangsläufig in den Albtraum einer Welt übergehen wird, die mehr
meinen Vorstellungen in ›Brave New World‹ entspricht.«6
Schildert Orwell den apokalyptischen Endzustand des Totalitarismus,
so entwirft Huxley die Apokalypse der westlichen Zivilisation.
Seine Dämonen sind nicht Hitler oder Stalin als Vorbilder des »Großen
Bruders«, sein Dämon ist der moderne Kapitalist Henry Ford, der in
Huxleys »Brave New World« zum Gott geworden ist. Sein Gesellschaftssystem
beruht auf einer Biotechnologie, welche die Zucht staatlich
determinierter Menschengruppen ermöglicht und die natürliche
Fortpflanzung abgeschafft hat. Huxley imaginiert sein »Bokanowskyverfahren
« einige Jahre bevor James D. Watson und Francis Crick in
England der DNA auf die Spur kommen. Das Verfahren der Züchtung
von Dutzendlingen durch »Knospung« in Reagenzgläsern, der vorgeburtlichen
Verdummung der künftigen Arbeitssklaven durch Alkoholbeigabe
und Sauerstoffentzug wirkt heute geradezu antiquiert.
Umso faszinierender ist es, dass Huxley die drohende Anwendung von
Klonung und Genmanipulation vorwegnahm, ohne deren wissenschaftliche
Grundlagen kennen zu können. Genauso fasziniert liest
man die Passagen über »Fühlkino« und Sportparks, über den Einsatz
von Verhütungsmitteln und Drogen – um die Entkoppelung von Sexualität
und Familie erträglich zu machen –, über Ferntourismus in
die Reservate der »Wilden«, über die pseudoreligiösen Ford-Gottesdienste
mit ihrer einem »Rave« ähnlichen, inhaltsleeren Gemeinschaftsextase,
über die Abschaffung der Vergangenheit unter dem
Ford-Motto »Geschichte ist Mumpitz«.
Huxley gelingt die Schilderung eines vollendeten Kollektivismus,
der zumindest für die Oberschicht den westlichen Individualismus
und Hedonismus vollkommen integriert hat. Huxley selbst nannte das
im Rückblick auf sein Buch einen »non-violent totalitarism«, einen
gewaltlosen Totalitarismus. Die Angehörigen dieser Oberschicht gleichen
jenem westlichen, amerikanisierten Menschentypus, den Horkheimer
und Adorno ebenfalls schon in den 1940er Jahren beobachteten,
und dem »«personality kaum mehr etwas anderes bedeutet als
blendend weiße Zähne und Freiheit von Achselschweiß und
Emotionen.«.«7 Die Totalität der Brave New World kommt, zumindest
an ihrer Oberfläche und für die Mehrheit, ohne den brutalen Zwang
12 Vorspiel, literarisch: Von der Utopie zum Albtraum
einer primitiven Diktatur aus. Sie ist zwar eine Klassengesellschaft,
aber in einem Kapitalismus von Brot und Spielen ist dem Klassengegensatz
das revolutionäre Potential genommen. Denn er richtet sich
die Menschen, die mit ihm zufrieden sind, selber zu, vom Reagenzglas
über das Erziehungssystem bis hin zu der gigantischen Freizeit- und
Kulturindustrie. Diese Gesellschaft sichert die Abschaffung aller Alternativen
vom Bestehenden und einer möglichen besseren Welt nicht
durch die Abschaffung der Freiheit für die Menschen, sondern schon
durch die Abschaffung eines zur Freiheit fähigen Menschen.
Auch Huxley braucht als Protagonisten Außenseiter – den intellektuellen
Aussteiger Sigismund und den »Wilden« Michel –, um uns
diese Welt überhaupt von außen anschauen zu lassen. Nur in den Außenseitern
wird noch ansichtig, was in dieser Welt verloren ging: der
Mensch selbst, das Humanum. Aber die beiden Protagonisten scheitern,
sie werden entweder reintegriert und geben sich auf, oder sie
werden ausgestoßen und irre. Es gibt in diesem System so wenig eine
Lücke wie in Orwells totalem Staat. Das Apokalyptische der negativen
Utopie Huxleys besteht wie bei Orwell nicht im Untergang, sondern
in der absoluten Statik einer nicht mehr endenden Endzeit, in die hinein
die menschliche Geschichte untergegangen ist.
»Kein Land wie dieses«: Die Öko-Apokalypse der Dritten Welt
Ganz anders verhält es sich im dritten literarischen Beispiel. Es stammt
aus dem Brasilien der 1980er Jahre: Ignácio de Loyola Brandaos »Kein
Land wie dieses«.8 Brandaos »Aufzeichnungen aus der Zukunft« (so
der Untertitel) schildern die Apokalypse der »Dritten Welt«, des »Südens
«. Und im Gegensatz zu Orwells Apokalypse des Faschismus oder
Stalinismus und Huxleys Apokalypse des Kapitalismus und der liberalen,
technologischen Zivilisation schildert Brandao einen tatsächlichen
Untergang, die Dynamik der gegenwärtigen Ereignisse bis zu
einer letzten Katastrophe. Diese Apokalypse steuert deshalb nicht nur
in den Tod der Freiheit und den Tod des Humanen – wiewohl beide
Tode auch hier gestorben werden –, sondern in den Tod der Natur,
des Lebens selbst, in den Zusammenbruch der Umweltbedingungen,
Vorspiel, literarisch: Von der Utopie zum Albtraum 13
die menschliches Leben ermöglichen. Politik bedeutet nur noch die
Beantwortung der Machtfrage, wer zuerst stirbt und wer später. Waren
es bei Orwell und Huxley vor allem letzte Überbleibsel des Abendlandes,
der Kultur – wie Musik oder Gedichte –, deren wehmütige Erinnerung
die Totalität des Verlusts verdeutlicht, so geht Professor Souza,
der Held Brandaos, in ein Museum, welches die Wasser der ausgetrockneten
Tropenflüsse in Gläsern zeigt, und seine schmerzvolle Erinnerungsarbeit
gilt dem Tod seines Großvaters, der, selbst Holzfäller,
sich schließlich und vergeblich den Holzfällern am Amazonas entgegenstellte.
Auch in Brandaos Brasilien bereitet die Diktatur einer unsichtbaren
Regierung und ihrer »Militechner« jeder Freiheit ein Ende. Auch hier
versucht die Fortschrittstechnik des Kapitalismus, mit künstlicher
Nahrung und Glücksdrogen das Volk zu versorgen. Aber am Ende
steht kein stabiler düsterer Zustand, sondern der Kollaps. Auch Diktatur
und Kapitalismus funktionieren nicht mehr und lösen sich in
gewalttätigem Chaos auf. Die Katastrophe ist zwar politisch und ökonomisch
herbeigeführt, aber sie selbst ist die ökologische: Am Ende
tötet die Sonne. Dann stehen die Menschen unter riesigen Betonmarkisen,
deren Baus sich die Regierung rühmt, weil sie selbst vom Mond
aus zu sehen seien, und erwarten ihren Tod.
Brandaos Roman ist zugleich surrealistischer und realistischer als die
Erzählweise von Orwell und Huxley. Immer mehr lässt er den Leser
ebenso wie die Hauptperson Souza im Unklaren darüber, was wirklich
geschieht. Zugleich leitet der Roman die Katastrophe weitaus linearer
aus unserer Gegenwart her als die früheren negativen Utopien: Der Ort
der Handlung ist ein durchaus noch erkennbares Sao Paolo. Und der
Weg in die Apokalypse wird in den Erinnerungen des Helden und in
einer Art Geschichtsschreibung aus der Zukunft in immer neuen Anläufen
rekonstruiert. Auf diese Weise schildert Brandao, was geschieht,
wenn die Trends der Gegenwart nicht aufgehalten werden: Die Abholzung
des Regenwaldes, die Landflucht der Hungernden in die städtischen
Slums, die Politik der Sicherheit für die Reichen und Herrschenden
sowie der Ausbeutung und bestenfalls Beruhigung für die Massen.
Der all dies erinnernde (Anti-)Held des Romans ist ebenfalls eine
weit realere Figur als Winston Smith oder Sigismund: Geschichtspro-
14 Vorspiel, literarisch: Von der Utopie zum Albtraum
fessor Souza ist sozusagen der letzte Intellektuelle des alten Brasiliens,
und wir erleben mit dem Zerfall der Zivilisation auch den Zerfall seiner
bürgerlichen Existenz und seiner Persönlichkeit. Souza stemmt
sich gegen diesen Zerfall, indem er verzweifelt zu begreifen versucht,
was geschieht, und seine Erinnerungsarbeit ist zugleich Arbeit am
Schuldgefühl, in den entscheidenden Jahren, als vielleicht noch etwas
zu ändern und aufzuhalten gewesen wäre, nicht gehandelt zu haben.
Brandaos Apokalypse findet fantastische Bilder für den Untergang:
die riesigen aufgegebenen Stadtautobahnen, auf denen die verlassenen
Autos vom letzten, nicht mehr aufgelösten Stau verrosten; die Flüchtlingsströme
aus den Wüsten, die zuvor noch von den Superreichen als
ultimatives Event besucht wurden; die Hitzebälle, in denen die Menschen
verglühen. Solche Bilder sind zugleich fantastisch und aus dem
Fernsehen bekannt. Es liegt kein Bruch zwischen dem Heute und dem
Ende, nur die schiefe Ebene in den Abgrund. Souzas Leben spielt sich
auf dieser schiefen Bahn ab, und der Knotenpunkt seiner Erinnerung
sind die »Offenen Achtziger«. So heißt im Rückblick die Gegenwart
des Romans. Darin liegt der appellative Charakter von Brandaos Apokalypse.
Eine Hoffnung bietet sie nicht.
Dass uns die Apokalypse literarisch nirgends so nahe rückt wie in
einem Entwurf der sozialen und ökologischen Katastrophe der »Dritten
Welt«, scheint mir sachlich stringent. Brandaos Sao Paolo ist den
heute herrschenden Zuständen weitaus näher als das London Orwells
oder Huxleys. (Beide »westlichen« Albträume spielen in derselben
Stadt; der deutsche Übersetzer hat Huxleys Handlung nach Berlin versetzt.)
Brandaos Roman ist keine negative Utopie mehr, sondern nur
noch Apokalypse. Orwell und Huxley schildern, was sein könnte,
wenn moderne Utopien sich tatsächlich verwirklichen würden.
Brandao schildert, was kommt, wenn wir nichts mehr ändern. Wie es
gleichzeitig in der »Ersten Welt« aussieht, erwähnt er allerdings mit
keinem Wort. Es wäre für die handelnden Personen auch völlig irrelevant,
denn eine andere Welt als die »Dritte Welt« ist für sie nicht
erreichbar.