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Theoretische Reflexionen : Perspektiven der Europäischen Ethnologie
Theoretische Reflexionen : Perspektiven der Europäischen Ethnologie




Manfred Seifert, Peter Hinrichs

Reimer Verlag
EAN: 9783496016670 (ISBN: 3-496-01667-1)
235 Seiten, paperback, 14 x 21cm, Dezember, 2021, Auch als E-Book (pdf) erhältlich (ISBN 978-3-496-03056-0

EUR 24,90
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Für die Nachfolgefächer der Volkskunde stehen die Alltagserfahrungen der Menschen im Mittelpunkt, was eine Fokussierung auf empirische Forschungen mit sich bringt. Im Prozess kulturwissenschaftlichen Arbeitens gehen Erfahrungswerte und theoriegeleitetes Denken jedoch stets eine Verbindung ein. Dieser Band richtet die Aufmerksamkeit direkt auf die kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit Theorieangeboten, ihren Potentialen und Limitierungen.

Neun Autor*innen stellen Theorien und Konzepte wie etwa Figuration, Narration, Subjektivierung oder Assemblage vor. Mit ihren begriffsanalytischen Präzisierungen bieten sie neue Denkanstöße für das kulturanalytische Arbeiten und regen auf diese Weise die Diskussion zum Verhältnis von Theorie und Empirie an.



Silvy Chakkalakal, Moritz Ege, Sabine Eggmann, Kaspar Maase, Ingo Schneider, Ira Spieker, Ove Sutter, Gisela Welz, Jens Wietschorke



Mit Kommentaren von Sabine Eggmann und Friedemann Schmoll, Monique Scheer und Brigitta Schmidt-Lauber sowie Johanna Rolshoven und Ingo Schneider
Rezension
Der vorliegende Band verfolgt das Anliegen die „theoretischen Denkkategorien und -bewegungen innerhalb der europäischen Ethnologie transparent“ (S. 22) werden zu lassen. Dem entsprechend stellen theorieaffine Fachvertreter*innen in den Bereichen „Reflexionsebenen“, „Alltagsdimensionen“ und „Heterogene Reflexionen“ ihre jeweils eigenen theoretischen Ansätze zur Diskussion. Jeder Bereich schließt mit einem Kommentar der entsprechenden Beiträge ab. Vor dem Leser entfaltet sich die moderne Kulturforschung facettenreich auf „der Basis von Interdisziplinarität“ (S. 26) auf und bietet ein theoretisches Instrumentarium sowohl zur Reflexion der Position gegenüber eigenen Forschungsfeldern als auch „zur Analyse von empirisch nachvollziehbaren Praktiken und Prozessen“ (S.23).
Ein Personen- und Sachregister erleichtert die Orientierung.

In der Einleitung wird das Verhältnis der Volkskunde/Europäischen Ethnologie zu Disziplin leitenden und eventuellen fachspezifischen Theorien in einer leicht verständlichen komprimierten Form dargelegt. Die hier angebotenen eigenen Ansätze werden durch diese kontextualisiert und ihre Notwendigkeit, entsprechend den jeweils themenspezifischen Forschungsintensionen, für die Fachrichtung deutlich. Die im ersten Augenblick etwas verwirrende Vielfalt dient der Offenheit auf andere Wissenschaften hin und der eigenen Positionierung gegenüber den Anforderungen durch Gesellschaft, Praxis und Wissenschaft in der Gegenwart. Allen gemeinsam bleibt, dass Europäische Ethnologie sich als „historisch argumentierende Geisteswissenschaft“(S. 26) sieht, der das in Fragestellende des Selbstverständlichen eigen ist. Sie legt ihren Focus auf die Subjektorientierung, indem sie zwischen Mikro-. Meso- und Makroebene changierend, engagiert dem Diskurs der Zeit verpflichtet bleiben will.
Im Kapitel zur „Reflexionsebene“ bilden sich bei Ingo Schneider die Denkkategorien der Verantwortung, des Aushandelns und der Übersetzung in die Gegenwart ab. Allen drei Kapiteln sind laut Kommentar die Fragen nach dem: Was kann Kulturwissenschaft leisten? und Wie setzt sie es um? zugrunde gelegt. Die Wissenschaft hat demnach, da sie von der Gesamtgesellschaft finanziert wird, die Verantwortung, der Gesellschaft ihre Ergebnisse vorzulegen und diese zu deren Nutzen mitzugestalten. Im Kommentar wird darauf verwiesen, dass gerade diese Wissenschaft immer in politischen Zusammenhängen agierte, doch nicht immer in Verantwortung der Gesellschaft gegenüber. Es geht folglich um eine „potenziell kritisch-analytische Distanz“ zu gesellschaftsrelevanten Themen.
Ein in die Tiefe gehendes Phänomen der Aushandlung zeigt die Chance einer sinnvollen Verbindung mit dem Kontext, wenn dieser mit der Gesellschaft in Zusammenhang gebracht wird. Interessant erscheint, dass beides (Kontext und Gesellschaft)auch im Zusammenhang mit Gebäuden, Dingen, Gesetzen, Gewohnheiten usw. gedacht werden sollte, wie es im Kommentar noch einmal angemerkt wird. Es geht hierbei um das Geworden-Sein, um die Bedingung, unter denen die Objekte handeln. Der Artikel ist nicht leicht zu verstehen, da zu Beginn ein Überhang an Literaturbezügen besteht, die leicht den roten Faden verlieren lassen.
Ira Spieker greift die Problematik von Übersetzungen auf. Diese transportieren immer auch Interpretationen, Geschichtsbilder, Machtverhältnisse, kulturelle Horizonte und vieles mehr. Wer bereit ist Sprache zu erlernen und zu gebrauchen, hat mit einem Selbst-, Fremd- und Hierarchieverständnis zu tun. Hinter dem Unterpunkt „Mehrsprachigkeit“ verbirgt sich ein Plädoyer für die Anerkennung und Wertschätzung der verschiedenen Kompetenzen an Schulen und innerhalb der Gesellschaft und ein Verweis auf das gesetzte Othering. “Übersetzung denkt einen Zwischenraum und erschwert somit essentialistische Denkkonzepte und Identitätskonstruktionen.“ (S.84)

Die „Alltagsdimensionen“ umfassen im folgenden Kapitel das alltägliche Erzählen, das ästhetische Erleben im Alltag und die Figuration als Poiesis. Der anschließende Kommentar konturiert diese drei Beiträge und zeigt die verbindenden Strukturen auf.
Ove Sutter beobachtet, dass ein zunehmendes Bedürfnis an alternativen Großraumerzählungen und begeisternden politischen Visionen zu verzeichnen ist. Im Unterschied zu den früheren Formen sind sie zunehmend in dem digitalen Raum aufzufinden. Die daraus resultierende fluide Form und die Möglichkeit kleine alltägliche Selbstdarstellungen der großen Sicht großen Gruppen zugängig zu machen, sind Versuche für sich und andere Ordnung in das Verstehen des globalen und politischen Geschehen zu bringen. Mit der epistemischen Sozialität bietet er einen Begriff an, um die sozialen Prozesse, die sich hinter diesen Narrativen vollziehen, hervorzuheben. Diese basieren auf festem Wissen (Common-Sense-Wissen des Alltagsverstandes) und einem flüssigen Wissen, das erkennt, dass Welt auch anders denkbar sein kann.
Kaspar Maase verknüpft von der Wahrnehmung ausgehend das ästhetische Erleben mit dem Alltag und nicht nur allein mit der Kunst. Seine Definition des ästhetischen Erlebens, die erst in der Mitte seines Beitrages zu finden ist, umfasst sechs Dimensionen ästhetischer Interaktionen. Die „Mitwahrnehmung“ und der „Mikrokosmos“ teilen das Konzept der „ästhetisch zweideutigen Unterhaltung“ (S. 125) zwischen „zerstreuter Behandlung“ und tiefem persönlichen „Erleben“. Hinzu kommen die „Synästhesie“ gekoppelt mit der „Ganzheitlichkeit“, das mit zweifach (vorhandenem und durch die Wahrnehmung erzeugtem) Wissen verbundene Erleben, das ins Bewusstsein dringt und reflexiv (sprachlich) begleitet wird und in der „Kommunikation“ mündet. In dem Zusammenhang gewinnen Stimmungen und Existentialen eine neue Betrachtungsdimension. Sein Artikel ist ausgesprochen logisch aufgebaut, leicht nachzuvollziehen und bezieht Emotionen und ästhetisches Empfinden ausnahmslos aller Bevölkerungsgruppen ein.
Auf Norbert Elias und Paul-Michel Foucault basierend mit Bezügen zu verschiedenen Theorien zum Thema Macht und Ungleichheit denkt Silvy Chakkalakal stringent und äußerst komprimiert die Figurations- und Interdependenztheorie in Raum, Zeit und Machtkonstellationen weiter. Sie verlangt in der Konsequenz eine Offenheit nach vorn, sodass Wissenschaftler*innen ihre eigenen „epistemologischen Dichotomien und Konzepte in ihrer Statik und festsetzenden Wirkung [hinterfragen] und radikal (…) relationieren“. (S. 148)

Unter dem Kapitel „Heterogene Relationen“ subsumieren die Artikel „Assemblage“, „Konjunktur/Konstellation“ und „Dem Subjekt auf der Spur. Kulturwissenschaftliche Relationierungen.“
Gisela Welz buchstabiert das Konzept der Assemblage in seiner Entstehungsgeschichte und den vielfältigen Querverbindungen. Mit diesem Konzept können die klassischen Konzepte der Ethnologie aufgebrochen und auf die Belange der globalen fluiden Prozesse angewandt werden. Die neuen Fragestellungen des Anthropozäns mit den Beziehungen zwischen Mensch, Technik und lebendiger Umwelt finden in der Assemblage und der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT)- sowie der Bremer „NaturenKulturen-Forschung“ eine Form, die ebenfalls wechselnde temporäre und räumliche Bereiche in Beziehung setzen. Niederschlag finden diese Ansätze u.a. in der Stadt- und Policy-Forschung.
In der Auseinandersetzung mit konjunkturanalytischen Perspektiven resümiert Moritz Ege, dass die volkskundliche- ethnografische Forschung Akzente auf „Konflikt, Komplizenschaft und Relationalität“ legen kann, um Wege aus schwierigen, temporären Gegenwartskonstellationen anzudenken. Die „linksvolkskundliche-ethnografische Forschung“ verweist auf diesen Aspekt der Wissenschaft, der besonders in Krisen neue Denkansätze anbieten kann. Als Problem benennt er, dass Worte bereits Realitäten setzen, also die Forschung sich bei der Formulierung von Auswegen der möglichen Folgen im Vorhinein bewusst sein muss.
Vom Subjekt als in sich abgeschlossen gedacht, führt sie zur Subjektivierung. Diese zu analysieren,, bedeutet den „Nachvollzug der Performativität und [der] Prozesshaftigkeit“. In das Werden wird ein Zusammenspiel von nicht nur menschlichen ,sondern auch nichtmenschlichen Akteuren (Geräusche, Gerüche, Lebewesen, Architektur, Institutionen usw.) einbezogen.
Der abschließende Kommentar „Heterogene Relationen – Kommentar“ von Johanna Rolshoven und Ingo Schneidert pointiert die drei vorangehenden Artikel. Die vier abschließenden Überlegungen zeigen grundlegende Akzente zur Positionierung einer Europäischen Ethnologie in der Gegenwart auf.

Dieser Band verdeutlicht die gegenwärtige Situation der Europäischen Ethnologie und markiert neue Ansätze, die sich aus vorherigen Theorien speisen können. Diese sind für das Fach, das interdisziplinäre Gespräch und die persönliche Reflexion durchaus Richtungsweisend. Sinnvoll wäre es einzelne Denkansätze auch in den Unterricht höherer Klassen einzubinden, um vorbereitend kultur-/gesellschaftsanlytisches Denken herauszufordern.

Claudia-Maria Maruschke (für lbib.de, die Lehrerbibliothek)
Verlagsinfo
Das grundlegende Handbuch zu Theoriearbeit und -bildung im Fach Europäische Ethnologie

Der Band stellt Theoriearbeit in der Europäischen Ethnologie in den Mittelpunkt. Neun Autor:innen setzen sich mit unterschiedlichen theoretischen Konzepten wie etwa Figuration, Narration oder Subjektivierung auseinander und eröffnen mit ihren begriffsanalytischen Präzisierungen neue Denkanstöße für das kulturanalytische Arbeiten.

Wie alle Nachfolgefächer der Volkskunde stellt die Europäische Ethnologie die Alltagserfahrungen von Menschen in den Mittelpunkt ihres Forschungsinteresses. Fragen des empirischen Zugriffs auf Lebensweisen sind von ebenso großer Bedeutung wie theoriegeleitete Analysen. Dieser Band richtet die Aufmerksamkeit auf die kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit Theorieangeboten. Neun Autor:innen stellen Theorien und Konzepte wie etwa Figuration, Narration, Subjektivierung oder Assemblage vor. Ihre begriffsanalytischen Präzisierungen bieten neue Denkanstöße für das kulturanalytische Arbeiten. Das grundlegende Handbuch für Lehrende und Studierende, die sich mit Theoriearbeit und -bildung im Fach Europäische Ethnologie befassen wollen.

Die Herausgeber:innen
Manfred Seifert, Professor am Institut für Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft der Philipps-Universität Marburg.
Martina Röthl, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Europäische Ethnologie/Volkskunde der CAU Kiel.
Peter Hinrichs ist wissenschaftlicher Mitarbeiter ebendort.

Die Autor:innen
Silvy Chakkalakal, Berlin; Moritz Ege, Zürich; Sabine Eggmann, Basel; Kaspar Maase, Tübingen; Johanna Rolshoven, Graz; Monique Scheer, Tübingen; Brigitta Schmidt-Lauber, Wien; Friedemann Schmoll, Jena; Ingo Schneider, Innsbruck; Ira Spieker, Dresden; Ove Sutter, Bonn; Gisela Welz, Frankfurt a. M.; Jens Wietschorke, Wien Schlagworte Theorie, Theoriearbeit, Kulturtheorie, Europäische Ethnologie, Empirische Kulturwissenschaft, Forschungsperspektive, theoretische Ansätze, Forschungsreflexion, Volkskunde

Schlagworte
Theorie, Theoriearbeit, Kulturtheorie, Europäische Ethnologie, Empirische Kulturwissenschaft, Forschungsperspektive, theoretische Ansätze, Forschungsreflexion, Volkskunde
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Peter Hinrichs, Martina Röthl, Manfred Seifert
Theorieaffinität - Theoriedimensionen - heuristische Potenziale. Zur Einleitung 9

I. Reflexionsebenen

Ingo Schneider
Verantwortung 35

Jens Wietschorke
Zwischen Aushandlungsparadigma und Kontextualismus:
Probleme der kulturwissenschaftlichen Epistemologie
51

Ira Spieker
Übersetzung. Überlegungen zu einem kulturwissenschaftlichen
Konzept 69

Reflexionsebenen - Kommentar
von Sabine Eggmann und Friedemann Schmoll 89

II. Alltagsdimensionen

Ove Sutter
Erzählen, Wissen, Hegemonie. Zur narrativen Formierung
epistemischer Sozialitäten 99

Kaspar Maase
Ästhetisches Erleben im Alltag. Zum ethnographischen Umgang
mit Ästhetisierungsprozessen 117

Silvy Chakkalakal
Figuration als Poiesis. Macht, Differenz und Ungleichheit
in der figurationalen Kulturanalyse 135

Alltagsdimensionen - Kommentar
von Monique Scheer und Brigitta Schmidt-Lauber
153


III. Heterogene Relationen

Gisela Walz
Assemblage 161

Moritz Ege
Konjunktur/Konstellation 177

Sabine Eggmann
Dem Subjekt auf der Spur.
Kulturwissenschaftliche Relationierungen 195

Heterogene Relationen - Kommentar
von Johanna Rolshoven und Ingo Schneider 213

Autor*inneninformationen 221

Register 225