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Raffinierte Kunst Übung vor Reproduktionen
Raffinierte Kunst
Übung vor Reproduktionen




Wolfgang Ullrich

Wagenbach
EAN: 9783803151780 (ISBN: 3-8031-5178-3)
160 Seiten, hardcover, 17 x 25cm, 2009

EUR 22,90
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Längst spielen Reproduktionen eine viel größere Rolle im Umgang mit Kunst als die Originale. Wolfgagn Ullrich erklärt, was das bedeutet. Sein Buch ist eine ziemlich unverhohlene Hommage auf das Reproduktionswesen. Ullrich zeigt, wie Künstler ihre Ideen in Reproduktionen oft genauer realisieren konnten als im Original und wie sich Kunst in reproduzierter Form inszenieren lässt und damit neue Dimensionen der Wirkung entfaltet. Er widmet sich dem Phänomen der Fotogenität, die für die Kunst zu einem zentralen Erfolgsfaktor geworden ist, wirft aber auch einen Blick zurück auf das Zeitalter grafischer Reproduktionstechniken, als vor allem Kupferstiche dazu dienten, über Werke zu sprechen und nachzudenden.

Der Begriff »raffiniert« ist aus dem Französischen entlehnt und bedeutet wörtlich »verfeinert, geläutert«, aber auch »listig«, während »raffinieren« für »reinigen, veredeln« steht. In diesem Sinne plädiert Ullrich für Reproduktionen als »raffinierte Kunst«, während er den Kult um das Original für unproduktiv und anachronistisch hält.
Rezension
Sucht man ein Adjektiv, das Ullrichs Buch sowohl inhaltlich wie stilistisch treffend beschreiben könnte, so fällt einem nach kurzer Überlegung das Wort 'luzide' ein. "Raffinierte Kunst" ist ein luzides Buch, will sagen, ein Buch, dessen Lektüre einen mit durchgehender Freude an der Klarheit der Darstellung und den dabei gewonnenen erhellenden Einsichten erfüllt. Fast hätte es dafür auch den Leipziger Buchpreis 2010 bekommen und der wäre in jeder Hinsicht verdient gewesen.
Worin bestehen die bei der Lektüre gewonnenen Einsichten? Es sind Einsichten hinsichtlich des Stellenwertes von Kunst und ihrer Rezeption. Weiterhin wird in der Öffentlichkeit ein Kult um das Original und seine Aura getrieben, die sich in den extremen Preisen bestimmter Originale, im Massenandrang zu Kunstausstellungen und in fast religiöser Andacht vor den Werken der Meister zeigt. Tatsache ist jedoch, dass der Eindruck des Originals oft hinter den Erwartungen zurückbleibt, mit denen man sich ihm genähert hat: Es ist kleiner, als man dachte, Details, die einen in Reproduktionen faszinierten, wirken unscheinbar und bedeutungslos, die Farben anders, blasser, bunter als die vorwegnehmende Vorstellungskraft sie einem vor Augen stellte.
Das jedoch, so Ullrich, ist nicht zum Schaden des Betrachters, sondern bringt ihn in einen produktiven Dialog mit dem Bild, der durch dessen Reproduktion in einem Katalog oder in den Medien in Gang gesetzt wurde. Die Wechselwirkung von Bild und Reproduktion funktioniert in beiden Richtungen: das Original kann ebenso die Reproduktion 'korrigieren' wie die Reproduktion den Blick auf das Original schärft oder überhaupt erst konstituiert.
Wie die Kunstgeschichte zeigt, sind solche Prozesse ganz im Sinne vieler Künstler, die in ihren Werken nicht auratische Objekte sehen, deren 'Verehrung' sie wünschen, sondern Arbeitsmaterialien, perspektivische Versuche der Welterschließung, auch spielerisch abzuwandelnde Bausteine für immer neue Zugriffe auf Wirklichkeit und Sinn. Als Beleg dafür dient Ullrich unter anderem die Rolle der Kupferstecher, die in den vorfotografischen Zeiten für die Vervielfältigung von Kunst zuständig waren. Künstler wie Rubens nutzten die Zusammenarbeit mit ihnen bewusst, um ihrem Werk nicht nur Breitenwirkung zu verschaffen, sondern es auch zu überarbeiten und dem Medium Kupferstich anzupassen.
In der Gegenwart sind es die Fotografie und damit verbunden zunehmend die digitalen Bildgebungsverfahren, die diese Aufgabe übernommen haben. Als Beispiel dient hier unter anderem David Hockney, der seine Gemälde fotografiert und dadurch neue Bilder produziert. Eines davon aus dem Jahr 1995 trägt den sprechenden Titel "Photograph of a Photograph with Photograph of Painting and Motif" (auf S. 114 abgebildet).
Ullrichs Ausführungen haben sind befreiend für alle, die immer schon vermuteten, dass der Sinn von Kunst nicht in Ehrfurchtsstarre vor quasisakralen Kunstobjekten bestehen kann und liefern allen, denen das bereits klar war, überzeugende Argumente. Nicht ihre Anbetung, sondern die Auseinandersetzung mit ihnen ist das Ziel, und jedes Bild vom Bild setzt sie in Gang: "Da Reproduktionen mehr bieten können als das, was reproduziert wird, sollen sie es auch tun ... Die bild- und medienkritischen Vorurteile, wonach jede Reproduktion schwächer ist als das Original, könnten dann endlich ebenfalls der Vergangenheit angehören." (S.143)
Nicht zuletzt werfen Ullrichs Reflexionen auch ein interessantes Licht auf die verzweigten Auseinandersetzungen über Urheberrechte, Begriff des Originals, Kopieren und Raubkopieren und Plagiate angesichts digitaler Reproduktionsmöglichkeiten. Man neigt nach der Lektüre doch eher zu der Auffassung, dass das Leitprinzip auch bei gesetzlichen Regelungen eher sein sollte, kreative Aneignungen zu erleichtern, statt der Profitmaximierung von Medienkonzernen und den immer weiter ausufernden Ansprüchen von Rechteinhabern zu dienen.

Matthias Wörther, lehrerbibliothek.de
Inhaltsverzeichnis
I "Das Original ist nicht das, was man denkt, das (sic!) es sein sollte" (Marina Abramovic) 7
II "Der Kupferstecher ist ein Apostel oder Missionar" (Denis Diderot) 19
III "Eine Reproduktion verhilft viel inniger zum Denken" (Beat Wyss) 35
IV "Die Fotografie hat ziemlich mittelmäßige Leinwände in sehr schöne Bilder verwandelt" (Théophile Gautier) 47
V "Mein Gott, warum hast Du mich nicht etwas fotogen gemacht?" (Papst Johannes XXXIII.) 63
VI "Die Existenz des Kunstwerkes verlagert sich vom realen Ausgangsobjekt in die fotografische Wiedergabe" (Gerry Schum) 77
VII "Die wahre Reproduktion ist die Röntgenfotografie des Werkes" (Theodor W. Adorno) 95
VIII "Am besten gebraucht man die Fotografie dazu, andere Bilder zu fotografieren" (David Hockney) 105)
IX "Je mehr Fotografien vom selben Original, desto besser" (Bernhard Berenson) 125

Anmerkungen 146
Abbildungsnachweis 155