lehrerbibliothek.deDatenschutzerklärung
Perspektiven der Humanität Menschsein im Diskurs der Disziplinen
Perspektiven der Humanität
Menschsein im Diskurs der Disziplinen




Jörn Rüsen (Hrsg.)

Transcript
EAN: 9783837614145 (ISBN: 3-8376-1414-X)
454 Seiten, paperback, 14 x 23cm, 2010

EUR 32,80
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Humanismus ist eine historisch spezifische Auffassung des Menschen mit normativem Anspruch. Sie beruht auf einer Deutung dessen, was Menschsein überhaupt bedeutet – ein Interpretationsprozess, der immer in unterschiedlichen Kontexten geschieht.

Für die gegenwärtige Debatte unverzichtbar sind die verschiedenen Wissenschaften und Wissensbereiche, die sich mit dem Menschen und seiner Welt beschäftigen. Dieser Band repräsentiert die meisten dafür einschlägigen Disziplinen (Philosophie, Theologie, Anthropologie, Soziologie, Ökonomie, Psychologie, Neurobiologie u.a.). »Wie wird Menschsein thematisiert?« – Unter dieser Leitfrage stellen die Beiträge ein faszinierendes Spektrum von Einsichten dar, ohne die die aktuelle Diskussion um einen neuen Humanismus nicht überzeugend geführt werden kann.
Rezension
Humanismus und Humanität sind im 20. Jahrhundert nicht nur durch die großen politisch-totalitären Anti-Humanismen in Frage gestellt worden, - Humanismus und Humanität werden im 21. Jahrhundert angesichts von Postmoderne, Globalisierung und "Kampf der Kulturen" auf vielfältige Weise neu in Frage gestellt. Es wird immer deutlicher: Humanismus ist eine historisch spezifische Auffassung des Menschen mit normativem Anspruch. Diesr Band bietet erstmals einen multidisziplinären Zugang zum Thema und repräsentiert die meisten einschlägigen Disziplinen wie Philosophie, Theologie, Anthropologie, Soziologie, Ökonomie, Psychologie, Neurobiologie u.a.: Menschsein, Humanität und Humanismus werde in neuen, weitgefächerten Perspektiven unterschiedlicher Wissenschaften erörtert und damit ein neues Verständnis dessen angeregt, was es heißt, ein Mensch zu sein.

Dieter Bach, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Schlagworte:
Humanismus, Wissenschaft, Menschsein, Kultur
Adressaten:
Kulturwissenschaften, Philosophie, Geschichte

Editorial zur Reihe "Der Mensch im Netz der Kulturen – Humanismus in der Epoche der Globalisierung":
Globalisierung erfordert neue kulturelle Orientierungen. Unterschiedliche Traditionen und Lebensformen ringen weltweit um Anerkennung und müssen sich den Erfordernissen einer universellen Geltung von Normen und Werten stellen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der menschlichen Welt- und Selbstdeutung müssen gleichermaßen berücksichtigt werden. Dazu bedarf es einer neuen Besinnung auf das Menschsein des Menschen: in seiner anthropologischen Universalität, aber auch in seiner Verschiedenheit und Wandelbarkeit.
Die Reihe "Der Mensch im Netz der Kulturen – Humanismus in der Epoche der Globalisierung" ist einem neuen Humanismus verpflichtet, der Menschlichkeit in seiner kulturellen Vielfalt in sich aufnimmt und als transkulturell gültigen Gesichtspunkt im Umgang der Menschen miteinander in den Lebensformen ihrer Kulturen zur Geltung bringt.

Jörn Rüsen (Prof. Dr. Dr. h.c.) ist Senior Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) in Essen und Emeritus für Allgemeine Geschichte und Geschichtskultur an der Universität Witten/Herdecke. Er hat im KWI das Projekt »Humanismus in der Epoche der Globalisierung – ein interkultureller Dialog über Menschheit, Kultur und Werte« geleitet.
WWW: www.kwi-humanismus.de

Interview
... mit Prof. Dr. Dr. h.c. Jörn Rüsen
1. »Bücher, die die Welt nicht braucht.« Warum trifft das auf Ihr Buch nicht zu?
Weil es zu dem Thema kaum neuere Literatur gibt und weil die interdisziplinäre Konstellation (Philosophie, Anthropologie, Ethnologie, Gehirnforschung, Soziologie, Geschichtswissenschaft, Psychologie, gender studies, Sinologie) neu ist.
2. Welche neuen Perspektiven eröffnet Ihr Buch?
Die Perspektiven sind interdiziplinär, decken also weite Erkenntnisbereiche und Forschungsperspektiven ab. Diese Perspektiven umgreifen geisteswissenschaftliche, sozialwissenschaftliche und naturwissenschaftliche Denkweisen und Erkennntisse. Ferner wird das Thema ›Humanismus‹ in eine anthropologische Perspektive gerückt, in der es bislang kaum thematisiert wurde.
3. Welche Bedeutung kommt dem Thema in den aktuellen Forschungsdebatten zu?
Es stellt die Frage nach dem Humanismus in neuer Sichtweise und bringt umgekehrt in die Debatte um die Eigenart des Menschen die Tradition des Humanismus ein.
4. Mit wem würden Sie Ihr Buch am liebsten diskutieren?
Mit Paul Ricoeur, wenn er noch lebte.
5. Ihr Buch in einem Satz:
Menschsein, Humanität und Humanismus werde in neuen, weitgefächerten Perspektiven unterschiedlicher Wissenschaften erörtert und damit ein neues Verständnis dessen angeregt, was es heißt, ein Mensch zu sein.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Jörn Rüsen | 9

Einleitung: Menschsein – kognitive Kohärenz in disziplinärer Fragmentierung
Jörn Rüsen | 11

Menschsein – Menschbleiben. Zur Grammatik askriptiver Äußerungsmodi
Carl Friedrich Gethmann | 41

Onto-Genese der Humanität. Neurobiologische Einsichten in die Bildung zum Menschen
Gerald Hüther | 59

Pankulturelle Universalien – Basis für einen inklusiven Humanismus?
Christoph Antweiler | 93

Das kleine Dorf und die große Welt – Grundzüge des Humanitätsideals
Klaus E. Müller | 145

Humanität im säkularen Verständnis der Moderne.
Die Verantwortung der Politik für die humane Lebensform
Günter Dux | 191

Die Humanisierung des Menschen. Anthropologische Grundlagen der Kulturgeschichte der Menschheit
Georg W. Oesterdiekhoff | 221

Versprechen und Vertrag – Ökonomische Akteure zwischen Moral und Rationalität
Birger P. Priddat | 257

Klassischer Humanismus – Eine historische Ortsbestimmung
Jörn Rüsen | 273

Psychologische Anthropologie im Zeichen von Humanismus und Antihumanismus
Jürgen Straub | 317

Differenzen der Humanität – die Perspektive der Geschlechterforschung.
Alle Menschen werden Schwestern? Differenzen als Herausforderung an den Humanismus
Ilse Lenz | 373

Chancen für einen globalen Humanismus im Kampf der Kulturen
Helwig Schmidt-Glintzer | 407

Über die Autoren | 443
Index der Personennamen | 447


Leseprobe:

Vorwort
JÖRN RÜSEN
Dieses Buch ist eine der zahlreichen Publikationen, die aus dem Projekt
»Humanismus im Zeitalter der Globalisierung – ein interkultureller
Dialog über Menschheit, Kultur und Werte« entstanden sind. Dieses
Projekt wurde großzügig von der Stiftung Mercator gefördert. Dafür
gebührt ihr der Dank aller Beteiligten. Dem kulturwissenschaftlichen
Institut in Essen, in dessen enger Zusammenarbeit mit den drei
Nachbaruniversitäten Bochum, Dortmund und Duisburg – Essen das
Projekt angesiedelt war, möchte ich für mannigfaltige Unterstützung
danken.
Im Laufe des Projekts ist eine Arbeitsgruppe entstanden, die sich
dem Themenkreis »Theorie der Humanität« gewidmet hat. Den Teilnehmern
Dieter Sturma, Matthias Kettner, Heiner Roetz und (im Anfang)
Lutz Wingert verdanke ich zahlreiche Anregungen, die die Konzeption
dieses Sammelbandes beeinflusst haben. Ich bin ihnen dankbar
für die intensiven Diskussionen, die wir gemeinsam über die Frage geführt
haben, ob und wie man heutzutage nach dem Menschsein des
Menschen fragen kann und wie sich philosophische Grundsätzlichkeit
und Allgemeinheit mit der Erfahrung tiefgreifender kultureller Differenzen
und Veränderungen im Verständnis des Menschseins miteinander
verbinden lassen.
Eine Vollständigkeit der disziplinären Präsentation von Humanität
konnte nicht angestrebt werden. Insofern handelt es sich um eine »disziplinäre
Fragmentierung«. Bedauerlich ist das Fehlen eines Beitrages,
der die Bedeutung der Religion für die Formierung von Menschheitsvorstellungen
behandelt. Auch die Kunst wird nicht eigens angespro10
| JÖRN RÜSEN
chen. (Der plötzliche Tod von Michael Bockemühl hat auch hier eine
schmerzhafte Lücke gelassen.) Unrealisierbar war die Einbeziehung
von Autoren aus nicht-westlichen Ländern, obwohl die damit verbundene
Perspektivenvielfalt höchst wünschenswert gewesen wäre.
Mein Dank gilt in besonderer Weise den Beiträgerinnen und Beiträgern
zu diesem Buch. Ich habe es ihnen mit meinen Bitten und Vorschlägen
nicht leicht gemacht. Umso dankbarer bin ich für die Bereitwilligkeit
und Geduld, mit der sie sich darauf eingelassen haben.
Danken möchte ich Sebastian Lorenz für seine Mitarbeit an der
Gestaltung des Manuskripts. Ganz besonderer Dank gebührt schließlich
Angelika Wulff für ihre große Mühe und ihre beeindruckende
Kompetenz im Umgang mit den Manuskripten. Ohne ihr Engagement
wäre es nie in einer überschaubaren Frist zum Abschluss der Textgestaltung
gekommen.
Ich widme dieses Buch Klas-Göran Karlsson als Dank für eine
fruchtbare und herzlich-freundschaftliche Zusammenarbeit in zentralen
Themenbereichen der Geschichtskultur.

Bochum, im Frühjahr 2010
Jörn Rüsen


Einleitung
Menschsein –
kognitive Kohärenz in disziplinärer Fragmentierung
JÖRN RÜSEN
Es gehört zum Wesen des Menschen, nicht einfach da zu sein und sein
Leben zu leben, sondern in seinem Dasein und in allen Bezügen seiner
Lebenspraxis immer auch nach sich selber zu fragen und mit den Antworten
auf diese Frage sein Leben zu organisieren, seinen Umgang mit
der Welt, mit sich selbst und mit den anderen zu regeln. Der Mensch
ist eine Frage nach sich selbst, und ohne eine Antwort zu suchen und
zu finden, kann er nicht leben.
Das liegt daran, dass der menschliche Lebensvollzug grundsätzlich
immer mehr ist als ein Geschehen der Natur, sondern die kulturelle
Anstrengung verlangt, dieses Leben in seinen mannigfaltigen Bezügen
zu deuten. Der Mensch muss – und das definiert ihn als Kulturwesen –
über seine Welt und sich selbst, über die Natur und über die anderen
einen Sinn bilden; denn nur im Horizont einer sinnhaften Orientierung
kann sich menschliches Leben vollziehen.
Zu dieser lebensweltlichen Sinnorientierung gehört ein Selbstverständnis
des Menschen als Menschen. Das wird landläufig als ›Menschenbild‹
verstanden. Der Mensch ist also im kulturellen Vollzug seines
Lebens sein eigenes Bild. Er lebt sich reflexiv. Diese Reflexion
findet sich in allen Kulturen, zu allen Zeiten und in allen Räumen, und
sie findet sich natürlich in höchst unterschiedlicher Gestaltung und
Ausprägung.
12 | JÖRN RÜSEN
Die traditionelle Auskunftsquelle des menschlichen Selbstbildes ist
die Religion. Hier entwirft sich der Mensch in der Perspektive einer
geistigen Organisation der Welt, die sein Menschsein festlegt und ihm
vorschreibt, wie er sein Leben zu leben hat. In dieser Perspektive ist er
nicht der Urheber seiner selbst und schon gar nicht der Herr seiner Lebensform,
sondern er weiß sich ›gesetzt‹, geschaffen von Mächten der
Weltgestaltung, die über ihn bestimmen und mit denen er sich ins Benehmen
setzen muss, um leben zu können.
Die Kultur der Gegenwart ist demgegenüber in ihren modernen
Zügen durch eine Sinnbildung bestimmt, deren maßgebliche Kriterien
nicht mehr aus einer geistigen Sphäre diesseits oder jenseits des Menschen
genommen, sondern immanent oder – wie man auch sagen kann
– säkular gewonnen und entfaltet werden. Die Transzendierungsleistung
der Religion in der menschlichen Selbstbestimmung ist in den
Menschen selber hinein verlegt worden. Er deutet sich selbst nicht
mehr von geistigen Vorgaben her, die jenseits seiner liegen und denen
er zu folgen hat, sondern er versteht sich selbst als seine eigene Vorgabe,
die die Last der kulturellen Leistung auf sich nimmt, die Regeln
seines Lebens selber zu entwickeln, für sie verantwortlich zu sein und
sich an selbstgesetzten Maßstäben moralisch zu orientieren und zu beurteilen.
Es gehört zu dieser anthropologischen Selbstbestimmung, dass der
Mensch das Wissen über sich selber, das er für seine reflexive Deutung
benötigt, selber produziert. Er empfängt dieses Wissen nicht wie
eine Gabe der ihn bestimmenden übernatürlichen Mächte, sondern erweist
sich selbst als sein Urheber und Produzent. Seine Urheberschaft
beruht auf der ihm als Menschen eigenen Fähigkeiten der kulturellen
Sinnbildung. Zu dieser Sinngebung gehört notwendig Wissen um die
Dinge der Welt, um sich selbst und um alles andere, was den Menschen
angeht. Maßgebend für das Wissen ist seine Erkenntnisfähigkeit.
Heutzutage realisiert sich diese Fähigkeit vornehmlich (wenn auch
nicht ausschließlich) in der institutionellen Form der Wissenschaften.
Das hier produzierte Wissen ist als methodisch gewonnene Erkenntnis
keine Gabe mehr, sondern eine autonome Leistung des menschlichen
Verstandes.
Die Wissenschaften sind ein unverzichtbares Element der menschlichen
Selbstdeutung geworden. Es wäre verfehlt, dieses Element als
schlechthin maßgebend, als entscheidende Sinnquelle der Daseinsorientierung
anzusehen und die Vorstellung vom Menschsein des MenEINLEITUNG:
MENSCHSEIN – KOGNITIVE KOHÄRENZ | 13
schen auf die Form derjenigen kulturellen Sinnbildung festzulegen, die
die Wissenschaften auszeichnet. Sie sind notwendig, aber nicht hinreichend.
Die menschliche Selbstdeutung erschöpft sich nicht in Erkenntnisleistungen,
sondern geht wesentlich darüber hinaus – etwa im Bereich
der Kunst, aber auch im Bereich des Alltagswissens und natürlich
auch im Bereich des religiösen Glaubens, der in der Hervorbringung
der säkularen Kultur der modernen Zivilgesellschaft nicht verloren
gegangen ist. Aber ohne Erkenntnis, ohne die kognitiven Leistungen
des Verstandes ist ein lebensdienliches Selbstverhältnis des Menschen
nicht zu gewinnen.
Es ist nicht ausgemacht, worin diese Erkenntnis besteht und wie
sie gewonnen, lebensdienlich zubereitet und verwendet werden kann.
Dazu sind die Wissenschaften, zu deren Erkenntnisbereich der Mensch
gehört, zu mannigfaltig und in ihren Fragestellungen und methodischen
Ansätzen zu heterogen. Eine umfassende Anthropologie, die den
Menschen in seiner – wie man heute gerne zu sagen pflegt – ›Ganzheitlichkeit‹
erfasst und auslegt, gibt es nicht. Schon deshalb nicht,
weil der Mensch als Kulturwesen auch Natur ist und Natur und Kultur
wissenschaftlich in ganz unterschiedlichen Denkformen thematisiert
und erschlossen werden. Eine übergreifende Integrationswissenschaft
kann es – wenn überhaupt – nur im Anschluss an divergent gewonnenes
Wissen geben. Eine solche Wissenschaft hätte gegenüber den das
eigentliche Wissen produzierenden Fachdisziplinen nur einen sekundären,
einen abgeleiteten und nachträglichen Status.
Nichtsdestoweniger bedarf es einer solchen Integration, sonst
müsste nämlich die für die menschliche Lebenspraxis notwendige kulturelle
Orientierung auf ein Wissen zurückgreifen, dessen Fragmentiertheit
und Heterogenität den Bedingungen widerspricht, die eine
Wissensform erfüllen muss, um orientieren zu können. Orientieren
heißt: einen sinnhaften Horizont der menschlichen Lebenspraxis zu
entwerfen und praktisch zu verwenden, d.h. in die Zielbestimmungen
des menschlichen Handelns und in den Umgang des Menschen mit seinen
Leidenserfahrungen eingehen zu lassen. Horizonte umgreifen eine
ganze Welt und ordnen sie auf den Bezugspunkt der in dieser Welt lebenden
Menschen, so dass sie wissen, wo sie stehen, woher und wohin
sie sich bewegen, und wie sich ihre Wege mit denen anderer Menschen
kreuzen.
Wenn es also darum geht, Menschsein im Horizont von Erkenntnis
zu thematisieren und ein Wissen über den Menschen zu erzeugen, das
14 | JÖRN RÜSEN
in der Form wissenschaftlicher Erkenntnis fundamentale kulturelle
Plausibilitätskriterien (Wissenschaftlichkeit) erfüllt – und das ist in der
Kultur moderner Gesellschaften unverzichtbar – dann stellt sich ein
grundsätzliches kulturelles Orientierungsproblem: die Integration von
Wissensbeständen zu einer Form, die dem entspricht, was ein handlungsleitendes
›Menschenbild‹ zu leisten hat.
›Sinn‹ ist der Bestimmungsgrund für ein solches Wissen. Jedes
wissenschaftlich produzierte Wissen hat einen eigenen Sinn, der seine
Geltungsansprüche und seine Grenzen bestimmt. Eine Integration von
Wissensbeständen muss diesen inneren Sinn der wissenschaftlichen
Erkenntnis systematisch in Rechnung stellen, und wenn das geschieht,
dann wird schnell klar, dass die jeweiligen inneren Sinnbestimmungen
sich nicht von selbst zu einem Sinnganzen zusammenfügen. Es bedarf
eines übergeordneten, eines Meta-Sinns, um die Orientierungsfunktion
erfüllen zu können, um derentwillen letztlich alles wissenschaftliche
Wissen gewonnen wird. Die Wissenschaften produzieren einen solchen
Meta-Sinn nicht, das lässt ihre strenge methodische Verfasstheit
nicht zu. Insofern sie aber ihren (unterschiedlichen) Sitz im Leben haben,
wurzeln sie dort und beziehen von dort einen ihr vorgängigen
Sinn, der sich dann in der Spezifik der jeweiligen Erkenntnisprozesse
realisiert und dabei auch spezialisiert (wozu auch eine grundsätzliche
Ablösung von unmittelbaren Orientierungsinteressen gehört). Nur aufgrund
dieses distanzierten Zusammenhangs von Lebenswelt und Wissenschaft
ist eine kulturelle Orientierungsfunktion des wissenschaftlichen
Wissens möglich.
Wenn es nun darum geht, diese Orientierungsfunktion in Kraft zu
setzen, dann bedarf es zweierlei: einmal eines Rückgangs auf die sinnträchtige
Verwurzelung der wissenschaftlichen Erkenntnis in der immer
schon sinnhaft bestimmten menschlichen Lebenswelt, und dann
einer expliziten (reflexiven) Übersetzung des wissenschaftlich produzierten
Wissens in die kulturellen Orientierungsrahmen der menschlichen
Lebenspraxis. Dies geschieht in unterschiedlichen Praktiken der
menschlichen Kultur, in Erziehungsprozessen, in öffentlichen Debatten
darüber, welcher Gebrauch von diesem Wissen gemacht werden
kann oder sollte, in der Selbstdarstellung der Wissenschaften, in ihrem
Streit miteinander über die Frage, wofür sie denn genau kompetent
sind und wo sie sich eine kulturelle Kompetenz nur anmaßen, die ihnen
aus methodischen Gründen gar nicht zukommt, und in vielen anderen
Formen der Durchdringung von Orientierungswissen mit wisEINLEITUNG:
MENSCHSEIN – KOGNITIVE KOHÄRENZ | 15
senschaftlicher Erkenntnis. Kurz: der Zusammenhang von Wissenschaft
und Menschenbild ist vielfältig, konfliktgeladen, in einem stetigen
Prozess diskursiver Verhandlungen begriffen, derer niemand Herr
ist.
Die Wissenschaften wären schlecht beraten, wenn sie sich aus diesen
Verhandlungen heraushielten. Zwar ist ihre disziplinäre Verfasstheit
eine organisatorische Form des Sich-Heraushaltens, aber das ist
nur ein einzelner Aspekt ihrer Verfasstheit im gesellschaftlichen Zusammenhang.
Schließlich hängt sie in vieler Hinsicht von Ressourcen
ab, die sie selber gar nicht erbringen kann (und sie muss dauernd um
solche Ressourcen kämpfen). Die kulturelle Orientierungsfunktion
wissenschaftlich erzeugten Wissens steht in der Dauergefahr eines
ideologischen Missbrauchs. Dieser Missbrauch besteht darin, dass der
wissenschaftlichen Erkenntnis und ihren Wissensbeständen ein Sinn
unterstellt wird, der ihnen nicht zukommt. Es ist alles andere als klar,
worin im Einzelnen und worin genau dieser Sinn besteht. Deshalb bedarf
er einer expliziten Reflektion und kritischen Erörterung. Indem
die Fachwissenschaften von sich aus eine solche Erörterung leisten
oder sich in sie einmischen, öffnen sie sich einer kritischen Selbstreflexion,
in der es um ihre Leistung in der lebenspraktisch notwendigen
kulturellen Orientierung geht.
Solche Reflexionen finden immer wieder statt, gehören aber nicht
zum Repertoire fachwissenschaftlicher Kompetenz. Im Gegenteil: die
Enge des jeweiligen disziplinären Horizonts in der Weltdeutung von
Fachleuten ist (mit Recht) Gegenstand einer Dauerkritik. Sie kann sich
auf doppelte Weise äußern: als Kritik an der Abstinenz von kulturellen
Orientierungsfragen oder als Kritik des Anspruchs, diese Fragen umstandslos
beantworten zu können.
Das alles gilt uneingeschränkt für die Schlüsselfrage der menschlichen
Kultur: was es heißt, ein Mensch zu sein. Heutzutage stellt sich
diese Frage in ungebrochener Kontinuität der Selbstproblematisierung
des Menschen in seiner kulturellen Verfasstheit und zugleich im Horizont
neuer Herausforderungen. Dazu gehören zunächst einmal die
Herausforderungen neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Sie
haben die Verfügungsgewalt des Menschen über seine eigene Natur
bis in die konstruktive Veränderung seiner genetischen Ausstattung
vertieft und erweitert und die Vorgänge seiner mentalen Aktivitäten in
Gehirnprozessen rekonstruierbar und damit auch manipulierbar gemacht.
Dazu gehören aber auch die Konfliktpotenziale, die die inter16
| JÖRN RÜSEN
kulturelle Interaktion im Globalisierungsprozess aufweist: hier konkurrieren
und – nicht gerade selten – kämpfen Menschenbilder miteinander.
Solche Kämpfe können bis zur Vernichtung des anderen um der
Behauptung der eigenen Vorstellung des Menschseins willen gehen.
Die Wissenschaften sind – ob sie es wollen oder nicht – ein Teil dieses
Kampfes. Sie können ihm geistige Waffen liefern, sie können sich aber
auch auf eine eigene Weise auf ihn beziehen, mit der Absicht nämlich,
ihn denkend zu erschließen und Möglichkeiten seiner friedlichen
Schlichtung aufzuweisen (vgl. Rüsen 2009: 1-24).
Was ist in der Kontinuität der kulturellen Grundfrage nach dem
Menschsein des Menschen und angesichts dieser Herausforderungen
seitens der Wissenschaften zu tun? Zunächst einmal muss es darum
gehen, das Menschsein des Menschen in der Fülle der Perspektiven
wahrzunehmen, die die mannigfaltigen wissenschaftlichen Disziplinen
eröffnen, um erkennend dem Menschen auf die Spur zu kommen. Dem
Ganzheitsverlangen der kulturellen Orientierung steht die Perspektivenvielfalt
der wissenschaftlichen Erkenntnis gegenüber. Der erste
Schritt, aus der Irritation dieser Vielfalt heraus in die Vorstellung eines
Sinnganzen zu kommen, ist die Anerkennung der Perspektivität selber.
In dieser Wahrnehmung und Anerkennung des grundsätzlich perspektivischen
Charakters der wissenschaftlichen Erkenntnis liegt bereits
der erste Schritt in einen übergeordneten Sinnzusammenhang. Denn
mit der Anerkennung werden die Grenzen der jeweiligen Erkenntnis
sichtbar und damit bereits im Prinzip auf andere Wissensbereiche und
Erkenntnisformen überschritten.
Das gilt auch für den Bereich der Wissenschaft generell. Denn natürlich
hat auch das wissenschaftliche Denken selber in seiner methodischen
Verfassung seine Grenzen, die überschritten werden müssen,
um zu einer wirklich lebensdienlichen Menschheitsvorstellung zu gelangen.
Wissen allein kann den Orientierungsbedarf nicht erfüllen, der die
mentale Leistung der kulturellen Sinnbildung erforderlich macht. Zu
dieser Orientierung gehören natürlich auch Normen und Werte und
sinnbestimmende Symbolisierungen (wie etwa die der Kunst), die dem
Verstandesgebrauch der Wissenschaften nicht möglich sind. Wenn
man nun nach der Selbstbestimmung des Menschen im Horizont moderner
Kultur fragt (und diese Frage muss gestellt werden, weil sie lebensnotwendig
ist), dann steht mit ihr auch die Anschlussfähigkeit
wissenschaftlicher Erkenntnis, ihre Vermittelbarkeit mit anderen LeisEINLEITUNG:
MENSCHSEIN – KOGNITIVE KOHÄRENZ | 17
tungen der menschlichen Selbstbestimmung und ihre Integrierbarkeit
in den Horizont des kulturellen Selbstentwurfes infrage.
Was dies bedeutet und wie diese Anschlussfähigkeit und Vermittelbarkeit
einsichtig gemacht und vollzogen werden kann, ist eine völlig
offene Frage. Man kann sie auf verschiedene Weise beantworten,
aber auf jeden Fall verlangt eine befriedigende Antwort die Leistung
einer anthropologischen Selbstreflexion der mit dem Menschen befassten
unterschiedlichen Wissenschaften. ›Anthropologisch‹ heißt: was
jeweils an Einsicht über den Menschen gewonnen und in den kulturellen
Orientierungsrahmen der gesellschaftlichen Praxis hinein transportiert
werden kann. Es heißt aber auch, nach den Wurzeln der eigenen
Erkenntnis zu fragen, die in der menschlichen (kulturellen) Natur der
erkennenden Subjekte selber liegt.
Die folgenden Texte sind Beiträge zu einer solchen Anthropologie
der Wissenschaften. Sie skizzieren Einsichten in das Menschsein des
Menschen, die berücksichtigt werden müssen, wenn nach dem ›Menschenbild‹
in der Kultur der Gegenwart gefragt wird. Sie repräsentieren
weder je für sich noch in ihrer Zusammenstellung ein solches
Menschenbild, wohl aber Konturen und Farben, die unerlässlich sind,
um ein solches Bild zu erzeugen. Die Metapher des Bildes suggeriert
die Vorstellung, das Menschsein des Menschen ließe sich als ein kohärentes,
in sich stimmiges, ja vollendetes geistiges Gebilde darstellen.
Diese Suggestion ist fatal, denn sie stellt den dynamischen, diskursiven
Charakter der anthropologischen Selbstreflexion als wesentlichen
Bestandteil der modernen Kultur still, als gäbe es dort eine fixierbare
Größe des Menschseins. Geradezu das Gegenteil ist der Fall.
Die Wissenschaften, die hier zu Wort kommen, sind Felder
menschlicher Selbstreflexion, in denen diese sich prozesshaft vollzieht.
Das lässt sich an den einzelnen Beiträgen mühelos ablesen.
Auch dieser Prozess ist keine einheitliche Größe, sondern er geschieht
in mannigfaltiger Ausdifferenzierung, die der Vielfalt wissenschaftlicher
Erkenntnisverfahren entspricht. Dieses Buch beansprucht nicht,
diese Vielfalt im Überblick darzustellen. Wohl aber dokumentiert es
konzeptuelle und methodische Differenzen, die freilich durch eine
übergreifende Fragestellung so zusammengehalten werden, dass ein
fachübergreifender diskursiver Zusammenhang erkennbar wird, mit
denen sich die Wissenschaften als ein eigenes Feld der kulturellen
Sinnbildung an der Arbeit beteiligen, das Menschsein des Menschen
18 | JÖRN RÜSEN
zeitgemäß zu thematisieren und als Orientierungsgröße zur Geltung zu
bringen.
Die Auswahl der hier zur Sprache kommenden wissenschaftlichen
Disziplinen verdankt sich selber einem diskursiven Prozess. In ihm
ging es um eine Neubestimmung des Humanismus als Chance einer
interkulturellen Verständigung über grundlegende Deutungsmuster
und Gesichtspunkte der menschlichen Lebenspraxis. Insofern ist der
Humanismus eine (nicht immer explizit gemachte) Bezugsgröße der
Frage nach der Bestimmung des Menschen im Horizont der jeweiligen
fachlichen Disziplin. Die Fachlichkeit als solche wird nicht systematisch
thematisiert: Sie gibt lediglich den Bezugsrahmen der jeweilig
ausgebreiteten Einsicht über Aspekte und Dimensionen des Menschseins
ab. Die verbindende Größe ›Humanität‹ oder ›Menschlichkeit‹
fügt die unterschiedlichen Aspekte und Dimensionen in einen inneren
Zusammenhang ein, der den diskursiven Charakter wissenschaftlicher
Erkenntnis demonstriert. Nur in der Form einer solchen prozesshaften
komplexen mentalen Operation können die Erörterungen der einzelnen
Beiträge als vielstimmige Grundlage für die Arbeit an einem Humanismus
gelten, der sich der Erkenntnisleistungen der Wissenschaft versichert.
Am Anfang steht die Philosophie. Von ihr erwartet man am ehesten
Aufschluss über die Grundfragen des Menschseins. Aber mit welcher
Überzeugungskraft kann sie einen solchen Aufschluss geben? Ein
bloßer Rekurs auf wissenschaftliche Erkenntnisse, die im Nachhinein
zu sogenannten ›Menschenbildern‹ synthetisiert werden, ist unbefriedigend.
Sie muss sich also auf zugleich elementar-grundsätzliche Phänomenbestände
beziehen, und zwar in einer anderen Weise als die für
diese Bestände zuständigen Einzelwissenschaften.
Der Beitrag von Gethmann verfährt auf diese Weise. Er knüpft an
den schlichten Sprachgebrauch an, der mit dem Wort ›Mensch‹ verbunden
ist. Zunächst scheint dieser Wortgebrauch einfach und verständlich
zu sein, aber bei näherem Hinsehen – und das wird von
Gethmann mit großer begrifflicher Präzision dargelegt – stellt sich eine
ganze Reihe von Problemen. Menschsein ist nämlich im sprachlichen
Alltagsgebrauch immer verbunden mit der Unterscheidung von
Zugehörigkeit und Anderssein, also mit stets konfliktträchtigen Identitätsbildungen.
Gethmann weist mit Recht darauf hin, dass schon auf
dieser mentalen Ebene der Selbstdeutung des Menschen als Mensch
und des damit verbundenen Verhältnisses zu anderen Menschen ein
EINLEITUNG: MENSCHSEIN – KOGNITIVE KOHÄRENZ | 19
ungeheures Konfliktpotenzial liegt, das nur zu oft zu Gunsten ökonomischer,
politischer und sozialer Bereiche des menschlichen Lebens
übersehen oder unterschätzt wird. Seine subtilen Sprachanalysen haben
also eine außerordentlich hohe praktische Bedeutung.
Für Gethmanns Argumentation ist eine Grundunterscheidung zwischen
beschreibenden und zuschreibenden Äußerungen über das
Menschsein des Menschen wesentlich. In einer puren Beschreibung ist
der Mensch ein Sachverhalt neben anderen, aber in dieser Sprachform
ist er nicht hinreichend aufgehoben; sein Menschsein passt in sie nicht
hinein, geht über sie hinaus. Das ist deshalb der Fall, weil Menschsein
auch eine wertträchtige Zuschreibung ist, die das jeweilige Subjekt des
Sprachgebrauchs und sein Verhältnis zu denen, denen es sich verständlich
machen will oder muss, betrifft.
In der Sprache des Alltags gehen beschreibende und zuschreibende
Elemente im Reden über den Menschen ständig ineinander über. Es
herrscht ›performative Ambiguität‹. Ihre Aufklärung bringt mit sprachlicher
Klarheit zugleich die Bedeutung der menschlichen Subjektivität
für das Menschsein des Menschen ans Licht. In der Askription des
Menschseins geht es nicht einfach um einen empirischen Status und
beobachtbare Merkmale, sondern um die Intentionalität, die Menschen
als Handlungssubjekte auszeichnet und mit denen sie sich ständig auf
sich selbst und auf andere beziehen. An diesem elementaren Phänomen
des Redens über Menschsein macht Gethmann die eigentlich humane
Qualifikation des Menschseins aus, die traditionell mit ›Freiheit‹
angesprochen wird. Gethmann steht in der großen Tradition einer Philosophie
der menschlichen Freiheit. Er führt sie in einer zugleich bescheidenen
und anspruchsvollen Weise weiter, indem er sich auf elementare
Sprachhandlungen bezieht, die jedem vertraut sind und deren
Kenntnis und Unterscheidbarkeit erheblich dazu beitragen kann, nicht
nur Unklarheiten des Sprachgebrauchs zu vermeiden, sondern zugleich
auch Ansprüche plausibel zu machen, die das Menschsein des eigenen
Selbst und der Anderen im Kern betreffen. Gethmann nennt diesen
Kern ›Handlungsurheberschaft‹ und sieht in ihm auch die Menschlichkeit,
die der Humanismus in seinen unterschiedlichen Spielarten verteidigt
und zur Geltung bringen will.
Der Begriff ›Humanität‹ und erst recht der Begriff ›Menschlichkeit‹
bezeichnen das am Menschen, was ihn als Kulturwesen auszeichnet,
was ihn aus allen naturalen Bedingungen seines Lebens heraushebt.
20 | JÖRN RÜSEN
Nichtsdestoweniger bleibt der Mensch als Kulturwesen auch Teil der
Natur. Der Zusammenhang von beidem, Natur und Kultur, ihre Synthese
im Menschsein des Menschen, ist eine Tatsache, aber das Begreifen
dieser Tatsache stößt auf große Schwierigkeiten. Sie liegen vor
allem darin, dass für die Natur ein Wissenschaftsbereich zuständig ist,
der aus methodischen Gründen die für die Kultur maßgebende Sinnfrage
ausblendet. Wie kann ein solches Denken die auf Kultur hin angelegte,
in Kultur übergehende Natur des Menschen thematisieren,
wenn genau das an der Natur gar nicht zur Sprache kommen kann, was
die Kultur definiert? Umgekehrt sind die für die Kultur zuständigen
Wissenschaften aus konzeptuellen und methodischen Gründen nicht in
der Lage, den Horizont des Kulturellen im Menschsein systematisch
auf seine Natürlichkeit hin zu überschreiten. Denn damit würde die
Denkform der Kulturwissenschaften ebenfalls überschritten.
Dieses Spannungsverhältnis zeigt sich auch in den aktuellen Diskursen
über die Natur des Menschen und ihren Einfluss auf seine kulturelle
Lebensgestaltung. Neuere Einsichten in die genetische Ausstattung
des Menschen und in die Struktur und Funktion seines Gehirns
haben dazu geführt, eine natürliche Determination der kulturellen Tätigkeiten
des Menschen anzunehmen. Das ging soweit, dass den
Schlüsselbegriffen der kulturellen Selbstreflexion des Menschen in
den Kulturwissenschaften, wie etwa derjenige der Freiheit, jegliche
kognitive Berechtigung abgesprochen wurde. An der Bedingtheit des
menschlichen Lebens durch die naturale Ausstattung jedes Menschen
als Mitglied der Gattung homo sapiens sapiens gibt es natürlich keinen
Zweifel, aber die Art dieser Bedingtheit ist strittig.
Der Beitrag von Gerald Hüther zeigt nun eindrücklich, dass es angemessener
wäre, von einer kulturellen Bedingtheit der natürlichen
Vorgänge im menschlichen Gehirn zu sprechen als umgekehrt die
durch das Gehirn vermittelten kulturellen Aktivitäten nur als natürlich
bedingt anzusehen. Es ist die Kultur, der soziale Kontext, in den die
Menschen hineingeboren werden und in dem sie aufwachsen und ihr
Leben leben, die die Ausprägung und Gestaltung ihres Gehirns wesentlich
bestimmt.
Diese kulturelle Bedingtheit der Entwicklung des menschlichen
Gehirns wird von Hüther in verschiedenen Aspekten dargelegt, die
wesentliche Elemente der menschlichen Kultur betreffen: das Lernen
als eine genuin kulturelle Aktivität, die Entwicklung eines menschlichen
Selbstverhältnisses, die Ausbildung von Wahrnehmungs- und
EINLEITUNG: MENSCHSEIN – KOGNITIVE KOHÄRENZ | 21
Deutungsfähigkeiten und insbesondere den inneren Zusammenhang
aller mentalen Aktivitäten, die Einheit des menschlichen Subjekts in
seinem Umgang mit der Welt und mit sich selbst. Diese ›Ganzheit‹
wird als neurologischer Befund und eben nicht als ideologieträchtige
Gedankenkonstruktion präsentiert.
In Hüthers Argumentation wird der Tatbestand ›Gehirn‹ nicht als
Ding unter anderen Dingen angesprochen, sondern in seiner Eigentümlichkeit
und in seiner ganz spezifischen Leistung für die Organisation
des menschlichen Lebens als durch und durch soziales Phänomen erkennbar.
Das Gehirn wird gleichsam erst im sozialen Kontext zu dem,
was es als naturalen Ort des menschlichen Lebens ausmacht.
»Unser Gehirn ist in viel stärkerem Maß, als wir in eigener Selbstüberschätzung
zuzugeben bereit sind, durch andere Menschen und all das, was diese
wiederum von anderen Menschen übernommen haben, strukturiert worden« (S.
61).
Dieser Befund hat Folgen für eine generelle Einschätzung eines zentralen
Bestandteils der modernen Kultur: die Entwicklung einer autonomen
Persönlichkeit, eines Individuums unter der Dominanz der Kategorie
der Individualität.
Menschsein in der Perspektive der Gehirnentwicklung ist ein lebenslanger
Prozess der Menschwerdung. Damit gewinnt die Bildungskategorie
eine neue, eine neurobiologische Plausibilität. Bildung ruht
gleichsam auf einem naturalen Substrat des menschlichen Körpers.
Die dynamischen Lebensformen der Sozialisierung und der Individualisierung,
die für den Werdegang jedes Menschen wesentlich sind (und
sich natürlich in unterschiedlicher Weise kulturspezifisch vollziehen)
bilden sich auf der Ebene der Körperlichkeit ab; sie spiegeln sich in
den Vorgängen des menschlichen Gehirns. Die Einsicht in diese Spiegelung
integriert die Biologie des Menschen in seine Kultur.
Mit solchen Erkenntnissen nähert sich die anthropologische Betrachtung
einer Synthese von Körper und Geist, von Natur und Kultur,
die mehr denn je bedacht und expliziert werden muss. Die Natur, die
dem Menschen äußerlich ist und mit der er sich im Zeichen der dramatischen
Umweltprobleme der Gegenwart um seines Menschseins willen
auf ganz neue Weise auseinandersetzen muss, rückt mit den Einsichten
der Gehirnforschung in den Menschen selber hinein. Hier lie22
| JÖRN RÜSEN
gen Ansätze eines Naturverhältnisses des Menschen, das sich auf die
ökologischen Probleme seiner Lebenssicherung applizieren lässt.
Der Körper wird sozusagen zum Akteur der Kultur; er spielt mit,
und damit gewinnt unsere Einsicht in das Spiel des Lebens eine neue
Kontur. Hüther konzentriert sich auf die kindliche Entwicklung, aber
seine Befunde lassen sich ohne weiteres auf den gesamten Lebensprozess
jedes menschlichen Individuums in seinen sozialen Zusammenhängen
übertragen. »Das Gehirn [...] lernt immer« (S. 72).
Im speziellen Aspekt der Gehirnforschung wird die ›Ganzheitlichkeit‹
des menschlichen Lebensvollzuges als ›Meta-Kompetenz‹ im
Umgang mit der Welt, sich selbst und den andern konkret greifbar. Die
neurobiologischen Befunde haben pragmatische und normative Konsequenzen:
Sie zeigen die Problematik auf, die eine kulturelle Entgegensetzung
von Denken und Fühlen, von Geist und Körper erzeugt. Im
Spiegel des Körpers wird eine Verwerfung im menschlichen Selbstverhältnis
sichtbar, deren Bedeutung für die konkreten Lebensformen
auf der Hand liegt und deren Überwindung demgemäß zu einer vordringlichen
kulturellen Aufgabe der menschlichen Selbstorganisation
geworden ist. Hüther kritisiert aus neurologischer Einsicht Formierungen
im Umgang des Menschen mit sich selbst und kommt zu Empfehlungen,
die die Menschlichkeit des Menschen in der Entwicklung seines
Gehirns zentral betreffen. Es sind harte Fakten der neuronalen
Vernetzung im menschlichen Gehirn, von denen her kulturelle Phänomene
wie etwa die Abspaltung des Gefühls vom Denken als problematisch
erscheinen. Die Neurobiologie trägt dadurch zu einem
durchaus kritischen und normativ folgenreichen Selbstverhältnis des
Menschen bei, indem er gerade nicht auf seine Natur reduziert, sondern
von seiner Natur her auf bestimmte kulturelle Leistungen hin thematisiert
und geradezu auch in Anspruch genommen wird. In engem
Zusammenhang damit kritisiert Hüther auch die Dominanz des Wissens
in der kulturellen Ausrichtung der menschlichen Lebenspraxis.
Seine Abspaltung von anderen mentalen Dispositionen, insbesondere
emotionaler Art, erweist sich als höchst problematisch. Wissen, so die
Schlussfolgerung, muss systematisch mit diesen abgespaltenen Bereichen
des menschlichen Bewusstseins und des Unbewussten wieder
vermittelt werden.
Jeder Versuch, das Menschsein des Menschen so zu bestimmen,
dass transkulturelle Gemeinsamkeiten als Grundlage einer interkulturellen
Verständigung in Anspruch genommen werden können, stößt
EINLEITUNG: MENSCHSEIN – KOGNITIVE KOHÄRENZ | 23
auf massive Einwände. Sie stützen sich auf die unbestreitbare Tatsache
fundamentaler kultureller Unterschiede, die sich ja nicht nur dem empirischen
Blick zeigen, sondern tief in den mentalen Vorgängen jedes
Menschen verankert sind, mit denen er oder sie sich von anderen Menschen
unterscheidet, sei es als Person, sei es als Mitglied einer größeren
Gemeinschaft. Nichtsdestoweniger sind es anthropologische Universalien,
von denen her das Unterfangen menschheitlicher Ideen und
Gesichtspunkte zur Lösung aktueller Orientierungsprobleme im Globalisierungsprozess
plausibel gemacht werden können. Das wird durch
den Beitrag von Christoph Antweiler mit starken Argumenten begründet.
Sein Beitrag richtet sich entschieden gegen den Trend, kulturelle
Differenz zum obersten Gesichtspunkt interkultureller Kommunikation
zu machen und anthropologische Universalien (wenn sie denn überhaupt
wahrgenommen und anerkannt werden) auf der einen Seite und
die Besonderheit und Unterschiedenheit konkreter menschlicher Lebensformen
(›Kulturen‹) zu unüberbrückbaren Gegensätzen hoch zu
stilisieren. Erst dann, wenn Universalien und Differenzen zusammen,
besser: ineinander, gedacht werden, ergibt sich ein zugleich empirisch
gehaltvoller und normativ aussichtsreicher Blick auf die Menschheit
als fundamentale Bezugsgröße kultureller Orientierung.
Wenn es keine anthropologischen Universalien im Verständnis des
Menschen gibt, in dem ihm eine besondere Qualität (das Humanum als
zugleich empirische und normative Tatsache) zugesprochen wird, steht
das Projekt einer interkulturellen humanistischen Orientierung in den
gegenwärtigen Auseinandersetzungen um Identität und Differenz, um
Grundprinzipien politischer Legitimität und um gemeinsame kulturelle
Perspektiven des Überlebens der Menschheit auf unsicherem Boden.
Der Überlebenswille jedes einzelnen Menschen und jeder menschlichen
Gemeinschaft reicht zur Begründung einer transkulturellen Humanität
nicht aus, wenn zu ihm nicht ein Element von Intersubjektivität
hinzutritt, mit dem nicht nur einzelne Menschen auf einzelne Menschen,
sondern auch soziale Einheiten, ja auch kulturelle Identitäten
sich aufeinander beziehen. Mit Antweilers Befunden und Argumenten
lässt sich ein kulturübergreifender Humanismus kulturanthropologisch
begründen, freilich nur dann, wenn dieser Humanismus kulturelle Differenzen
nicht nivelliert, sondern in ihrer Grundsätzlichkeit als Realisationsform
des Menschseins systematisch in Rechnung stellt.
Es ist für das Verständnis einer Idee der Menschlichkeit wichtig,
dass die menschheitlichen Gemeinsamkeiten in allen Kulturen nicht
24 | JÖRN RÜSEN
biologisch begründet werden, sondern als genuin kulturelle Phänomene
erscheinen, in die sich auch die Natur hinein erstreckt. Ein anthropologischer
Reduktionismus würde die für das Menschsein des Menschen
notwendige Ausdifferenzierung von Lebensformen aus dem
Blick bringen. Zugleich wird auch jede monolithische Kulturbetrachtung,
das also, was sich mit der Bezeichnung ›Spenglerialismus‹ fassen
lässt, als völlig unzureichend zurückgewiesen. Kulturen sind in
sich heterogen, und diese Heterogenität zeichnet sie auch in ihrem
Verhältnis zueinander aus. Sie durchdringen, überschneiden und verändern
sich, so dass von einem durchgängigen je besonderen fundamentalen
kulturellen Code nicht die Rede sein kann, der das Menschsein
des Menschen in das Gefängnis einer kulturellen Relativität einsperrt.
Antweiler betont die Komplexität von Differenz und Gemeinsamkeit,
leugnet also die Macht der Unterscheidung nicht, holt sie aber
zugleich in Bezugsysteme kulturübergreifender menschheitlicher Gemeinsamkeiten
ein. »Wirklich interessant werden Universalien erst,
wenn man sie als Muster vor dem Hintergrund der Diversität menschlicher
Daseinsgestaltung sieht« (S. 129). (Damit wird zugleich auch
die ethnologische Grundlage einer interkulturellen Hermeneutik gelegt,
die eben beides als grundsätzlich bedeutsam annimmt: einen Horizont
der Gemeinsamkeit, innerhalb dessen Differenzen als solche
ausgemacht und auch verstanden werden können).
Geschichtliche Entwicklungen widersprechen diesen kulturanthropologischen
Universalien nicht, sondern im Gegenteil: Sie vollziehen
sich in und mit ihnen. Klaus Müllers Aufsatz lässt sich auf der Schnittlinie
zwischen Universalität und Geschichtsspezifik lesen. Er beschreibt
eine geradezu ›urgeschichtliche‹ Lebensform der Humanität,
in der sich zugleich die spezifisch historischen Züge einer auch die
kulturellen Gesellschaft ausbreiten, zugleich aber auch Elemente einer
Humanität sichtbar werden, die sich über die Grenzen dieser historischen
Epoche, also in die späteren Hochkulturen und dann auch in die
modernen Gesellschaften hinein fortgeschrieben haben.
Auch Klaus Müller rekurriert auf fundamentale Gemeinsamkeiten
der menschlichen Lebensführung, um ein erfahrungskonformes und
auch normativ plausibles Humanitätskonzept zu entwickeln. Allerdings
identifiziert er diese Gemeinsamkeiten im Rekurs auf eine besondere,
wenn auch weit verbreitete und lang andauernde menschliche
Lebensform. Es geht um die Lebensform der hortikulturellen GesellEINLEITUNG:
MENSCHSEIN – KOGNITIVE KOHÄRENZ | 25
schaften, die sich nach der Erfindung der Landwirtschaft bis in die Zeit
vor der Entstehung der sogenannten Hochkulturen über einen sehr langen
Zeitraum ausgeprägt und durchgehalten hat. Sie gibt nach Müller
die Basis aller späteren historischen Entwicklungen ab. Ihre Konturen
haben sich bis in die Gegenwart hinein in die Züge späterer Lebensformen
fortgeschrieben. Sie gilt es, sichtbar zu machen, und von ihnen
her gleichsam ethnologisch ›gründliche‹ Gesichtspunkte von Menschlichkeit
zu entwickeln, die in den gegenwärtigen Orientierungsproblemen
hoch entwickelter Gesellschaften anwendungsfähig sind. »Keine
menschliche Gemeinschaft kann auf die Erfahrungen und Formen des
sozialen Zusammenlebens, die sich über Jahrtausende hin ausgebildet
und als probat erwiesen haben, verzichten« (S. 179).
Im Spiegel dieser Erfahrung erscheint der Ethnozentrismus als das
Schlüsselproblem eines Humanismus, der sich menschheitlich versteht.
Für diesen Ethnozentrismus ist die Selbsteinschätzung der Angehörigen
einer Lebensgemeinschaft maßgeblich, dass sie die ›wahren
Menschen‹ darstellen, während die Menschen außerhalb ihrer Gemeinschaft
Barbaren sind. Müller zeigt eindrücklich auf, dass und wie diese
Unterscheidung zwischen menschlichem Selbstsein und unmenschlichem
Anderssein sich universalgeschichtlich durchhält. Zugleich betont
er die (westlichen) Universalisierungstendenzen, die sich diesem
Ungleichgewicht, ja Gegensatz entgegenstemmten, von den Debatten
der frühen Neuzeit über den Menschen-Status der Indios bis zur allgemeinen
Menschenrechtserklärung von 1948.
Müller hält den universalhistorischen Prozess der Ausbildung von
Hochkulturen und aller ihnen folgenden Lebensformen für insgesamt
prekär, wenn nicht sogar für letztlich katastrophisch. Insofern repräsentiert
sein Beitrag eine Kulturkritik an der Moderne, die im Rekurs
auf vorhochkulturelle Lebensformen die Defizite der späteren Zivilisationen
und insbesondere der gegenwärtigen scharf konturiert.
Müller macht die Gegenrechnung zu der verbreiteten Vorstellung
vom Fortschritt des Zivilisationsprozesses auf: Kampf um die Ressourcen,
unaufhaltsame gesellschaftliche Ausdifferenzierung mit Auflösung
der verwandtschaftlichen Bande, innergesellschaftliche Entfremdungen.
Übergeordnete Herrschaftsinstanzen instrumentalisieren
die Menschen; die Hemmschwelle zur Inhumanität habe sich »bis hin
zu Vergasung und Atombombenterror« gesenkt (S. 177). Die natürlichen
Ressourcen der menschlichen Lebensleistung konzentrieren sich
in immer weniger Machtzentren, von denen aus die Menschen an der
26 | JÖRN RÜSEN
Peripherie nur noch wie Abfall erscheinen. Diese Entwicklung ist
»insgesamt unaufhaltsam. Aber sie ließe sich lindern« (S. 177).
Da auch in den späteren Lebensformen die früheren nicht verschwinden,
sondern sich – wenn auch in gewandelter Form und in
neuen Kontexten – durchhalten, gibt es Chancen, die Akkumulation
von Inhumanität, die die technischen, administrativen und politischen
›Fortschritte‹ der Naturbeherrschung und der herrschaftsgeprägten Organisation
der menschlichen Gesellschaft mit sich gebracht haben,
aufzuhalten, zu mindern und vielleicht sogar zu zähmen. Für diese
Linderung sind die Humanitätsregeln der hortikulturellen Gesellschaften
maßgebend: Reziprozitätsgebot, Redistributionsgebot, Ritualisierung
von Grenzüberschreitungsprozessen, strikte Normenkontrolle
durch die Autoritätsträger, Ausgleich von Ungleichheiten und Abhängigkeitsverhältnissen.
Die hier entworfene ethnologische Perspektive von Humanität vereint
zwei einander scheinbar entgegengesetzte Tendenzen: eine entschiedene
zivilisationskritische mit einem ursprungstheoretisch ansetzenden
Humanismus. Die Spannungen zwischen beiden werden zugleich
als Chance und als Gebot einer kulturellen Orientierung der
modernen Lebensformen formuliert. So kann aus der zeitlichen Tiefendimension
eines ethnologischen Verständnisses menschlicher Lebensform
die Aktualität einer Humanitätsidee generiert werden.
Die Ausführungen von Günter Dux lassen sich wie ein Kommentar
zu den beiden ethnologischen Beiträgen und wie eine Fortführung ihrer
Argumentation lesen. Einerseits macht er deutlich, dass die Ethnologie
in den ideengeschichtlichen Kontext gehört, in dem neuzeitspezifisch
Grundfragen der kulturellen Orientierung im Rückgang auf das
Menschsein des Menschen erörtert wurden. Andererseits beleuchtet er
die Schnittstelle zwischen biologischer und kultureller Evolution und
gewinnt von ihr her entscheidende Aufschlüsse darüber, was eine spezifisch
menschliche Lebensform ist.
Der Text vereinigt also erkenntnistheoretische, ideengeschichtliche
und soziologische und geschichtstheoretische Argumente. Er geht von
Orientierungsproblemen der Gegenwart aus, die sich in der Bedrohung
langfristig errungener humaner Lebensformen durch die Entwicklung
der Marktgesellschaft (Kapitalismus) fokussieren. Modernes Denken,
das um den Menschen als Quelle, als Ausgangs- und Endpunkt seiner
Orientierung in der Welt kreist, wird in den Rahmen einer umfassenden
Evolution der kulturellen Selbstverständigung des Menschen geEINLEITUNG:
MENSCHSEIN – KOGNITIVE KOHÄRENZ | 27
stellt und von ihm her mit einem erkenntnistheoretisch entscheidenden
Bezug auf die Erkenntnisleistungen der Naturwissenschaften verständlich
gemacht. Von diesen Erkenntnisleistungen her können keinerlei
jenseits des Menschen anzusiedelnde, also gleichsam meta-anthropologisch
begründbare Orientierungsvorgaben mehr gemacht werden. Humanität
ist die fundamentale Kategorie einer ›rekursiven‹ Bestimmung
des Menschen. Durch die Natur dazu befähigt, konstruiert sich der
Mensch seine Welt selber, richtet sich also sozusagen in sich selber
ein, und diese Einrichtung vollzieht sich in einem langen, als Evolution
bestimmbaren historischen Entwicklungsprozess, der quer zur kulturellen
Differenz verlaufen ist und verläuft. Dux entschlüsselt die Logik
dieser Evolution als Vorgang einer in das menschliche Handeln
eingelagerten Entwicklung kognitiver Kompetenz. In äußerst knapper
Form wird diese Entwicklung universalgeschichtlich entfaltet, also an
den Lebensformen, die historische Epochen ausmachen, aufgewiesen.
Humanität wird also in einer empirisch gehaltvollen theoretischen
Perspektive als historischer Prozess beschrieben. Er mündet in Gesichtspunkten
der menschlichen Lebensführung, die wir heute als spezifisch
humanistisch begreifen können. Humanismus ist nach Dux charakterisiert
durch ein selbstbestimmtes Verhältnis des Menschen zu
sich selber. Dieses Verhältnis gerät durch die Dominanz marktwirtschaftlicher
Ökonomie in eine innere Widersprüchlichkeit zwischen
der ökonomischen Produktion von Reichtum und dem politischen Anspruch
menschlicher Selbstbestimmung. Die mit dem Menschsein des
Menschen selber gegebene Inklusion tendenziell aller Individuen in
Lebensformen, die von allen Beteiligten als menschlich angesehen
werden, wird durch die Verteilung des kapitalistisch produzierten
Reichtums grundsätzlich infrage gestellt. Dux leitet daraus politische
Strategien einer Humanisierung ab, die den universalgeschichtlich errungenen
Standards von Humanität verpflichtet bleiben. Diese Standards
werden in beeindruckender Präzision abschließend beschrieben:
Ermöglichung selbstbestimmter Lebensführung, soziale Gerechtigkeit,
sozialstaatliche Ausrichtung der Politik und schließlich eine umfassende
Chance zur Bildung.
Georg Oesterdiekhoff entwickelt eine Theorie der kulturellen Evolution,
die unser Verständnis vom Menschsein des Menschen radikal
historisiert. Er bezieht sich ähnlich wie Günter Dux auf die Erkenntnisse
der modernen Entwicklungspsychologie und verallgemeinert sie
zu einer universalgeschichtlichen Konzeption. In ihr lassen sich die
28 | JÖRN RÜSEN
menschlichen Lebensformen im Rekurs auf unterschiedliche Entwicklungsstufen
des kognitiven Vermögens einordnen und der Zusammenhang
dieser Stufen als einen gerichteten strukturgenetischen Prozess
begreifen. Die Vorstellung dieses Prozesses greift das alte Motiv der
Aufklärung vom Fortschritt als einer durchgängigen geschichtlichen
Veränderung der Menschheit auf und gründet sie auf einem reichhaltigen
empirischen Material. Universalgeschichte lässt sich begreifen als
ein übergreifender Vorgang der ›Vermenschlichung des Menschen‹ –
wobei unsere heutige Vorstellung von Menschlichkeit, also die abstrakte
Regel einer universellen Moral, den Maßstab abgibt.
Diese Thesen liegen nicht im Trend der gegenwärtigen anthropologischen
Diskussion, haben daher durchaus eine provozierende Funktion.
Die Stoßkraft dieser Provokation liegt in Oesterdiekhoffs ständigem
Verweis auf empirische Forschungsergebnisse, die etwa den Quotienten
der Gewalt im gesellschaftlichen Leben im Vergleich verschiedener
weltgeschichtlicher Epochen betreffen. Die Errungenschaften
des modernen Humanismus erscheinen im Lichte markierter Inhumanität
vormoderner Lebensformen, wie sie sich an den römischen
Gladiatorenkämpfen oder an der verbreiteten Gesetzeskraft von Gottesurteilen
aufweisen lassen. Selbst der westliche Imperialismus wird
damit in ein mildes Licht zivilisatorischer Fortschritte getaucht – angesichts
des gegenwärtig mächtigen Diskurses des Postkolonialismus
eine wahrhaft unzeitgemäße Deutung, wird doch gerade der Imperialismus
mit seinen rassistischen und sozialdarwinistischen Ideologien
als Rücknahme, wenn nicht gar Widerlegung des modernen Humanismus
angesehen.
Demgegenüber verficht Oesterdiekhoff die These, dass der Humanismus
eher ein Indikator eines fundamentaleren sozialpsychischen
Vorgangs ist, der die reale menschliche Lebenspraxis nachhaltiger bestimmt
habe als Intellektuellendiskurse. Es ist eine offene Frage, wie
mit den Schattenseiten der historischen Erfahrung in der Perspektive
einer umfassenden kulturellen Evolution umgegangen werden kann.
An der zentralen Bedeutung der Logik der menschlichen Kognition
und ihrer strukturellen Veränderung kann jedoch angesichts der von
Oesterdiekhoff ins Spiel gebrachten kulturvergleichenden Untersuchungen
kein Zweifel sein. Oesterdiekhoffs Anspruch, »einen innovativen
Panoramablick über die Kulturgeschichte« entwickelt zu haben,
muss sich daran messen lassen, welche Erkenntnisse in dieser Perspektive
gewonnen und welche (möglicherweise) ausgeblendet oder unEINLEITUNG:
MENSCHSEIN – KOGNITIVE KOHÄRENZ | 29
möglich gemacht werden. Universalgeschichtliche Entwicklungstheorien
wie diejenige, die hier vorgestellt wird, lassen sich schon deshalb
nicht ohne weiteres von der Hand weisen, weil die Frage danach, was
Menschsein in der Fülle der kulturellen Erscheinungen bedeutet, in
sich einen universalistischen Kern hat. Sie soll ja gerade nicht diese
Fülle der Erscheinungen aus dem Blick bringen, sondern in und an ihnen
das aufweisen, was Menschsein als sich in der Vielfalt seiner Manifestationen
Gemeinsames und Durchhaltendes bedeutet. Die Historisierung
dieses Gemeinsamen in der Vorstellung einer entschiedenen
Gerichtetheit historischer Veränderungen hin zu dem, was gegenwärtig
als menschlich normativ angesehen wird, ist ein Versuch, diese Vielfalt
in einen kohärenten Zusammenhang zu bringen. Die Kritik, die
dieser Versuch angesichts der gegenwärtigen Skepsis gegenüber jedem
Fortschrittsbegriff mit Sicherheit auf sich ziehen wird, kann sich freilich
nicht damit begnügen, die Idee eines solchen Zusammenhangs zugunsten
einer bunten Fülle heterogener Phänomene einfach aufzugeben,
sondern muss sich dem schwierigen Unterfangen stellen, eine
überzeugendere Perspektive transkultureller struktureller Veränderungen
der menschlichen Lebensformen in universalhistorischer Perspektive
zu entwickeln.
Birger Priddats Beitrag bringt die Ökonomie ins Spiel der Humanität.
Was ist sie dort? Nur ein Störfaktor, oder eine Realismusbedingung?
Um die Ökonomie an den Humanitätsdiskurs anschlussfähig zu
machen, beginnt Priddat mit der traditionellen Vorstellung vom homo
oeconomicus.
Dessen abstrakte Vorstellung als Subjekt rationalen wirtschaftlichen
Handelns wird als völlig unzureichend erwiesen, indem wirtschaftliches
Handeln als Vorgang der realen menschlichen Lebenspraxis
analysiert wird. Damit entstehen komplexere Dimensionen des
Menschen als Subjekt wirtschaftlichen Tuns. Priddat hält sich nicht
lange mit einer Schilderung der traditionellen Anthropologie ökonomischer
Rationalität auf, sondern begnügt sich mit der lapidaren Feststellung,
»dass die Ökonomie mit unvollständigen Menschenbildern arbeitet
«.
Das wird paradigmatisch am Phänomen des Versprechens aufgewiesen.
In der Wirtschaft gehen Menschen miteinander um, und dieser
Umgang ist immer auch durch Elemente des Versprechens bestimmt,
der damit verbundenen Erwartung und Bereitschaft, vorausgesetzte
Absprachen so einzuhalten, dass der wirtschaftliche Vorgang wirklich
30 | JÖRN RÜSEN
geschehen kann. Priddat macht deutlich, dass dazu nicht-ökonomische
Bedingungen erfüllt sein müssen, die elementare Gegebenheiten der
menschlichen Lebenspraxis im sozialen Zusammenhang betreffen.
Ohne ein Minimum an Vertrauen in die Erfüllung eingegangener Verpflichtungen
unter der Direktive der Wechselseitigkeit ist ein wirtschaftliches
Handeln unmöglich. Insofern muss der homo oeconomicus,
der sein subjektives Interesse gewinnorientiert in den Umgang mit
anderen interessierten Subjekten zur Geltung bringen will, über das
beiderseits unterstellte Gewinnstreben hinaus sich zu den anderen immer
auch in einer nicht-ökonomischen Weise verhalten, die als moralnah
qualifiziert und anthropologisch ausgelegt werden kann. Moralische
Gesichtspunkte sind also ökonomisch notwendig und entziehen
sich zugleich jedem Kalkül ökonomischer Nutzenmaximierung. Damit
wird natürlich nicht gesagt, dass die ökonomische und moralische Dimension
des menschlichen Handelns deckungsgleich wären. Wohl
aber, dass sie systematisch aufeinander bezogen sind. Und damit wird
der homo oeconomicus ›vermenschlicht‹. In seiner ökonomischen Definition
erscheint der Mensch ›unvollständig‹. Er muss im Spiegel der
Analyse wirtschaftlichen Verhaltens vervollständigt, also sozusagen
als ›ganzer‹ Mensch gedanklich gefasst werden. Nur dann lässt sich
begreifen, was es heißt, dass Menschen einen eigenen Lebensbereich,
neben den der Wirtschaft, schaffen und mit einer spezifischen Praxis
realisieren müssen, um leben zu können.
Das hat Folgen für das Verständnis dessen, was Wirtschaft ist und
wie wirtschaftliches Handeln vor sich geht: nicht nur auf der Analyseebene
der Ökonomie, sondern auf der Handlungsebene wirtschaftlicher
Vorzüge agieren immer ›ganze‹ Menschen. Es bedarf einer eigenen
Reflexion, um diese Ganzheit im Lebenszusammenhang der Wirtschaft
auszumachen, zu beschreiben und damit auch den Akteuren selber
verständlich zu machen. Dieses Verstehen reicht in die Tiefendimension
der menschlichen Subjektivität hinein. Priddat betont mehrfach,
dass und wie die Identität von Akteuren im Spiel ihres wirtschaftlichen
Verhältnisses miteinander wirksam ist. Und Identität ist
nun einmal einer der fundamentalen kulturellen Faktoren des menschlichen
Lebensvollzuges.
Für die Frage nach dem Menschsein des Menschen ergeben sich
daraus neue Möglichkeiten einer Antwort, die der Komplexität des
menschlichen Lebensvollzuges entsprechen. Die Lebensnotwendigkeit
des Wirtschaftens entpuppt sich als Sphäre einer Menschlichkeit, die
EINLEITUNG: MENSCHSEIN – KOGNITIVE KOHÄRENZ | 31
sich ökonomisch nicht begreifen, deren ökonomische Relevanz freilich
aufgewiesen werden kann. Die Bedeutung dieser anthropologischen
Grenzüberschreitung im Verhältnis zwischen Moral und Ökonomie –
in beiden Richtungen übrigens – liegt auf der Hand: wenn von
Menschlichkeit und damit auch von Humanismus die Rede sein soll,
dann darf von Ökonomie nicht geschwiegen werden. Priddat zeigt,
dass das umgekehrte Verhältnis auch richtig ist: wer von Ökonomie
reden will, darf von Moral nicht schweigen.
Mein eigener Beitrag versucht eine historische Einordnung der
neuzeitlichen Konzeption von Menschsein und Menschheit mit einer
Zuspitzung auf die Entstehung des modernen Humanismus. Eine solche
Einordnung des Humanismus ist ihm nicht äußerlich, sondern
muss sich darauf einstellen, in ihm selber bereits eine eigene, eine innere
Historisierung zu finden. Es geht jedoch nicht darum, diese Historisierung
einfach zu explizieren, sondern darum, sie zu vertiefen und
zu erweitern, sich zu ihr also nicht anachronistisch zu verhalten. Ich
verbinde mit diesem Versuch eine theoretische Absicht. Die historische
Perspektivierung des Humanismus im Menschheitskonzept der
europäischen Neuzeit soll geschichtsphilosophisch aufgeladen werden.
Damit soll von der Gegenwart her, also in einem expliziten
Gegenwartsbezug, die innere Historisierung, die das menschliche
Selbstverständnis mit dem Schritt in die Moderne erfährt, fortgeführt
und zukunftsfähig gemacht werden. Das bedeutet im Zeitalter der Globalisierung,
dass auf den Versuch nicht verzichtet werden kann, das
Denken des Menschen über sich selber universalhistorisch zu dimensionieren.
Es ist freilich nicht nur aus Raumgründen schwierig, wenn
nicht gar unmöglich, die damit verbundene Breite der historischen Erfahrung
im Rückgriff auf nicht-westliche Kulturen systematisch einzubringen.
Wohl aber geht es darum, eine interkulturelle Spezifikation
zu entwickeln, in deren (theoretische) Schemata solche Erfahrungen
eingearbeitet werden können.
Ihren Schwerpunkt hat die Darstellung einmal in einer eher geschichtsphilosophischen
Periodisierung, die mit dem Konzept der
Achsenzeit arbeitet. Mit diesem Konzept wird kulturelle Vielfalt mit
universalhistorischer Einheit verbunden und zugleich auch – mit dem
Gedanken der Moderne als ›zweiter Achsenzeit‹ – der Gegenwart ein
geschichtsphilosophisch fundierter Platz in der historischen Perspektive
auf die Idee des Menschseins und des Humanismus zugewiesen.
Ein zweiter Schwerpunkt ist die Entwicklung des Menschheits32
| JÖRN RÜSEN
Denkens in der frühen Neuzeit Europas, die in die Konzeption des
modernen Humanismus am Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts
mündet. Sie lässt sich als Vorgang einer ›Humanisierung des
Menschen‹ deuten. Dieser Vorgang wird in unterschiedliche Entwicklungslinien
auseinander gelegt und damit eine Möglichkeit eröffnet,
ein komplexes Netz von Interpretationsperspektiven zu entwickeln, die
sich auf die westliche Vorstellung vom Menschsein des Menschen beziehen.
Aus dieser historischen Rekonstruktion wird eine Problemlage
entwickelt, die das gegenwärtige Denken über den Menschen in seiner
interkulturellen Erstreckung vor die Aufgabe einer konzeptuellen Neuerung
stellt: Die bisher eher exklusiv in verschiedenen kulturellen Traditionen
entwickelte Menschheitsvorstellung muss als Steigerung ihres
inneren Universalismus ins Inklusive umgedeutet und weiterentwickelt
werden. Damit wird der Zeitenabstand, in den eine Historisierung der
Menschheitskategorie und des Humanismus notwendigerweise führt,
in eine Zukunftsperspektive hinein überbrückt und die Historie zu einem
unverzichtbaren Partner der gegenwärtigen Diskurse über das
Menschsein des Menschen gemacht.
Jürgen Straubs Beitrag entwickelt eine begründungsfähige Version
von Humanismus aus seinem Gegenteil heraus. Er bedient sich also
eines dialektischen Verfahrens. In ausführlichen Analysen legt er zwei
wirkungsmächtige und repräsentative psychologische Konzeptionen
vom Menschsein des Menschen dar, in denen ihm alle diejenigen Qualitäten
abgesprochen werden, die im Zentrum des humanistischen
Denkens stehen. Für diesen Anti-Humanismus stehen die Positionen
von Frederic Skinner und Jacques Lacan. Sie vertreten völlig verschiedene
Denkweisen, die man mit der Dichotomie von modern und postmodern
nur andeuten kann. Sie konvergieren – und das macht den
Reiz ihrer Konstellation bei Straub aus – in der radikalen Negation der
für den Humanismus zentralen Vorstellung von der Fähigkeit des
Menschen, sich in autonomer Kreativität mit seiner Welt, mit anderen
Menschen und mit sich selber so auseinander setzen zu können, dass
eine Humanisierung der menschlichen Lebensverhältnisse gegen erfahrene
Inhumanität als aussichtsreich erscheint.
Straub greift mit der Fokussierung seiner Überlegungen das Problem
der menschlichen Autonomie den Kernbestand neuzeitlicher
Anthropologie und damit auch des humanistischen Denkens auf. (Hinzuzufügen
wäre, dass diese Autonomie aufs engste mit der traditionelEINLEITUNG:
MENSCHSEIN – KOGNITIVE KOHÄRENZ | 33
len Vernunftvorstellung verbunden ist, die das menschliche Handeln
moralisch an einsichts- und begründungsfähige Absichten bindet.)
Diese vernunftträchtige Autonomie – das stolze Selbstverständnis neuzeitlicher
Subjektivität – wird von Straub in die Perspektive einer radikalen
Kritik gerückt, die sie in ihr Gegenteil verkehrt. Der Mensch erscheint
jetzt als ein Lebewesen, das von Umständen und Bedingtheiten
konditioniert ist, also kein Herr mehr über sich selbst und kein Ursprung
mehr seiner Fähigkeit ist, im Prinzip alles durch Berechnen beherrschen
zu können. Statt dessen tritt er außerhalb seiner sinngenerierenden
Subjektivität als Bündel von Faktoren auf, die den Sinn seines
Lebens nicht sinnhaft konstutieren. Skinner teilt freilich mit der negierten
Subjektivität die Beherrschbarkeit der menschlichen Welt; sie
liegt aber jenseits aller traditionellen Menschlichkeitsvorstellung in der
reinen Äußerlichkeit manipulierbarer Lebensverhältnisse.
Von diesem Gegenteil des Humanismus her wird durch eine
scharfsinnige Analyse der beiden höchst unterschiedlich angelegten,
aber in ihrer antihumanistischen Ausrichtung geradezu identischen Positionen
von Skinner und Lacan ein neuer Zugang zu einem Verständnis
des Menschseins eröffnet, der die Tradition des Humanismus, geläutert
im Stahlbad seiner ideologiekritischen Destruktion im Gewande
sowohl einer modernen wie auch einer postmodernen Argumentation,
zukunftsfähig fortführt.
Damit führt Straub aus einer intellektuell eher unfruchtbaren Konstellation
wechselseitiger Negation von Humanismus und Antihumanismus
heraus in eine argumentative Verflüssigung und Vermittlung
der beiden Positionen, die neue anthropologische Einsichten ermöglicht.
Diese Einsichten sind um ein neues Verständnis der menschlichen
Autonomie herum fokussiert. Die radikale Kritik am Humanismus
erweist die Hochform autonomer Subjektivität, wie sie in den
klassischen Positionen der Aufklärung vertreten wurde, als überzogen
und gegenüber der historischen Erfahrung mit ihr als geradezu
schwach. Damit ist sie aber nach Straub gerade nicht hinfällig geworden.
Im Gegenteil: Autonome Subjektivität bleibt als kultureller Bestimmungsfaktor
der menschlichen Lebenspraxis (auch und gerade in
den Wissenschaften, die sie negieren) bestehen. Das Maß des Humanum
wird in dieser Argumentation der menschlichen Endlichkeit, der
von Cicero betonten fragilitas und der von Levinas eindrucksvoll
pointierten Verwundbarkeit, angepasst. Der Mensch bleibt Subjekt
seines Handelns und Leidens in den konkreten Zügen seiner Lebens34
| JÖRN RÜSEN
praxis, seines Versagens, seiner Unmenschlichkeit ebensosehr wie
auch seiner Fähigkeit, sich kritisch im Kontext seiner Bedingtheiten so
zu reflektieren, dass er seine fundamentale Absicht auf ein ›gutes Leben‹
immer wieder, und immer wieder neu und anders, zur Geltung
bringen kann.
So steht am Ende einer kritischen Rekonstruktion der kritischen
Destruktion des klassischen modernen Humanismus eine Art Wiedergeburt,
eine Bereicherung um Einsichten in die Verwobenheit des
menschlichen Subjekts in Dimensionen und Bestimmungsfaktoren seiner
Subjektivität, deren es nicht autonom Herr werden kann, auf die es
sich aber nichtsdestoweniger reflexiv und selber kritisch und absichtsvoll
handelnd beziehen kann. Die – wie man von der Perspektive fortschreitender
Einsichten in die Bedingtheit der menschlichen Subjektivität
mit Recht sagen kann – inhumane Autonomievorstellung der
selbstgefälligen neuzeitlichen Subjektivitätskonstruktionen und ihrer
Herrschaftsansprüche wird durch eine humane ersetzt, die Straub mit
seinem Postulat einer partiellen, bedingten und begrenzten Autonomie
(S. 359) darlegt.
Der Beitrag von Ilse Lenz rückt die fundamentale Tatsache, dass
Menschsein grundsätzlich und immer und überall geschlechtlich verfasst
ist, in den Mittelpunkt der Argumentation. Lange Zeit (und gelegentlich
auch heute noch) war und ist undifferenziert von »dem Menschen
« die Rede und zumeist wurde damit die Geschlechtsspezifik des
Menschseins ausgeblendet. Das hatte die fatale Folge, im Menschen
zumeist einen generalisierten Mann zu sehen, und damit wurden die
Humanitätspotenziale der Weiblichkeit marginalisiert. In einem differenzierten
Überblick über die feministischen Bewegungen der Moderne
und die mit ihr zusammenhängenden politischen und akademischen
Diskurse wird ein weites und hochkomplexes Feld des Menschseins
eröffnet, in dem Ungleichheit und Differenz als Gefährdung und zugleich
auch als Chance von Menschlichkeit sichtbar werden.
Die Gefährdungen – ein strukturelles Ungleichgewicht im Verhältnis
der Geschlechter zueinander mit schwerwiegenden Benachteiligungen
– sind evident und ungebrochen akut. Zugleich aber eröffnet
der soziologische Blick auf die globale Dimension der geschlechtlichen
Ungleichheit des Menschen Erfahrungen von einem weltweiten
grundlegenden Wandel. Er lässt sich mit einer Richtungsbestimmung
versehen, die auf einen Abbau dieses Ungleichgewichtes verweist.
Damit geht natürlich eine wachsende Einsicht in die WandlungsfähigEINLEITUNG:
MENSCHSEIN – KOGNITIVE KOHÄRENZ | 35
keit der lange Zeit für schlicht natürlich gehaltenen Geschlechtscharaktere
einher.
Der empirische Aufweis eines weltweiten Trends zu einem allmählichen
Abbau geschlechtsbedingter sozialer Ungleichheit kann hoffnungsfroh
stimmen, aber diese Hoffnung wird dadurch gedämpft, dass
diese Ungleichheit systematisch mit anderen Ungleichheiten sozialer,
ökonomischer, ›rassischer‹ etc. Differenzierungen des Menschseins
verbunden ist, die alle Bereiche der menschlichen Lebenspraxis durchziehen.
Auch diese Ungleichheiten sind eine sprudelnde Quelle von
Unmenschlichkeit, insbesondere dann, wenn sie (immer noch) für natürlich
gehalten werden. Natürlich lassen sie sich als historisch wandelbar
erweisen.
Weitere Titel aus der Reihe Der Mensch im Netz der Kulturen - Humanismus in der Epoche der Globalisierung