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Humanismus in der Diskussion Rekonstruktionen, Revisionen und Reinventionen eines Programms
Humanismus in der Diskussion
Rekonstruktionen, Revisionen und Reinventionen eines Programms




Martin Gieselmann, Jürgen Straub (Hrsg.)

Transcript
EAN: 9783837622386 (ISBN: 3-8376-2238-X)
134 Seiten, paperback, 14 x 23cm, 2012

EUR 24,80
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
In der Epoche der Globalisierung hat sich ein neu zu entwickelnder Humanismus seiner eigenen Grundlagen zu versichern. Anhand von ausgewählten Bereichen zeigen in diesem Band langjährige Wegbegleiter des »Humanismusprojekts« des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen neue Wege der Rekonstruktion, Revision und Reinvention des Humanismus in den Bereichen Altphilologie, Philosophie, Theologie, Soziologie sowie Sozial- und Kulturpsychologie auf. Die Beiträge sind Bestandteile eines weit entwickelten, jedoch keineswegs abgeschlossenen Unternehmens, das der Historiker Jörn Rüsen initiiert hat und vorantreibt.
Rezension
Was bedeutet Humanismus angesichts der Globalisierung? So könnte man die Fragestellung dieses Buchs zusammenfassen. Humanismus ist ein geschichtsmächtiges Konzept der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte - aber läßt er sich auch global und jenseits des europäischen Kulturkreises etablieren? Und wenn ja, in welcher Form? Revisionen humanistischer Traditionen erscheinen im 21. Jahrhundert unumgänglich, z.B. der Anthropozentrismus oder Okzidentalismus. Wir benötigen im 21. Jhdt. einen interkulturellen Humanismus. Auch das Versagen traditioneller Humanismen gilt es aufzuarbeiten.

Dieter Bach, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Martin Gieselmann (Dr. phil.) ist Geschäftsführer des Südasien-Instituts (SAI) der Universität Heidelberg. Von 2006 bis 2008 war er wissenschaftlicher Koordinator des internationalen und interdisziplinären Projekts »Humanismus im Zeitalter der Globalisierung« am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen (KWI).
Jürgen Straub (Prof. Dr. phil.) ist Inhaber des Lehrstuhls für Sozialtheorie und Sozialpsychologie und Dekan der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum, Mitglied im Board des Research Departments »Center for Religious Studies« (CERES), einer der Mentoren der Mercator Research Group »Spaces of Anthropological Knowledge: Production and Transfer« sowie Mitglied der Expanded Profile Area »Anthroplogical Knowledge«. Er ist stellvertretender Leiter des KWI-Projekts »Humanismus im Zeitalter der Globalisierung« am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI).
WWW: Gieselmann
WWW: Straub

Editorial zur Reihe:
Globalisierung erfordert neue kulturelle Orientierungen. Unterschiedliche Traditionen und Lebensformen ringen weltweit um Anerkennung und müssen sich den Erfordernissen einer universellen Geltung von Normen und Werten stellen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der menschlichen Welt- und Selbstdeutung müssen gleichermaßen berücksichtigt werden. Dazu bedarf es einer neuen Besinnung auf das Menschsein des Menschen: in seiner anthropologischen Universalität, aber auch in seiner Verschiedenheit und Wandelbarkeit. Die Reihe "Der Mensch im Netz der Kulturen – Humanismus in der Epoche der Globalisierung" ist einem neuen Humanismus verpflichtet, der Menschlichkeit in seiner kulturellen Vielfalt in sich aufnimmt und als transkulturell gültigen Gesichtspunkt im Umgang der Menschen miteinander in den Lebensformen ihrer Kulturen zur Geltung bringt.

Die Reihe wird herausgegeben von Jörn Rüsen (Essen), Chun-chieh Huang (Taipeh), Oliver Kozlarek (Mexico City) und Jürgen Straub (Bochum), Assistenz: Henner Laass (Essen).

Wissenschaftlicher Beirat:
Peter Burke (Cambridge), Chen Qineng (Peking), Georg Essen (Nijmegen), Ming-huei Lee (Taipeh), Erhard Reckwitz (Essen), Masayuki Sato (Yamanashi), Helwig Schmidt-Glintzer (Wolfenbüttel), Zhang Longxi (Hongkong)

Globalization demands for setting up new cultural orientations. Different traditions and forms of life struggle for recognition throughout the world and have to meet the necessity of values and norms with universal validity. Similarities and differences in understanding the world have to be analyzed and recognized which requires a new reflection on what it means to be a human being concerning its anthropological universality, but also its diverseness and changeability.
The books of the series Being Human: Caught in the Web of Cultures – Humanism in the Age of Globalization are committed to a new Humanism, which not only highlights humaneness in its cultural and historical varieties but also presents it as a transculturally valid principle of human interaction in all cultural life-forms.

The series is edited by
Jörn Rüsen (Essen), Chun-chieh Huang (Taipei), Oliver Kozlarek (Mexico City) and Jürgen Straub (Bochum), Assistant Editor: Henner Laass (Essen).

Advisory board:
Peter Burke (Cambridge), Chen Qineng (Beijing), Georg Essen (Nijmegen), Ming-huei Lee (Taipei), Erhard Reckwitz (Essen), Masayuki Sato (Yamanashi), Helwig Schmidt-Glintzer (Wolfenbüttel), Zhang Longxi (Hong Kong)
Inhaltsverzeichnis
Humanismus nach seiner Zeit?
Aktuelle Rekonstruktionen, Revisionen, Reinventionen
Jürgen Straub, Martin Gieselmann | 7

Antikerezeption – Humanismus – humanitäre Praxis.
Drei Texte zur Klärung humanistischer Grundbegriffe
Hubert Cancik | 23

Humanität und interkultureller Diskurs.
Zur Wiedererwägung des Humanismus
Dieter Sturma | 43

„… an der zähesten Stelle der Humanität“.
Theologische Brocken zum Verhältnis
von Christentum und Humanismus
Georg Essen | 63

Die Kritik der soziologischen Vernunft
Hans-Georg Soeffner | 79

Personale Identität.
Ein Begriff aus dem Repertoire der humanistischen Tradition?
Jürgen Straub | 95

Autorenverzeichnis | 129


Humanismus nach seiner Zeit?
Aktuelle Rekonstruktionen,
Revisionen, Reinventionen
JÜRGEN STRAUB, MARTIN GIESELMANN
In Zeiten, in denen in Europa Auseinandersetzungen über die Grundlagen
einer konsensfähigen normativen und politischen Orientierung
zur Tagesordnung gehören, ist die Reflexion auf geschichtsmächtige
Ideen und Konzepte der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte
sinnvoll und notwendiger denn je. Der wahrlich heterogene, polyvalente
„Humanismus“ gehört dabei zu den Kandidaten in der ersten
Reihe. Trotz der fragwürdigen Instrumentalisierungen, die im Namen
des Humanismus – irgendeines Humanismus – vielfach zu inhumanen
Projekten und Praktiken geführt haben, und trotz der Tatsache, dass es
die mannigfaltigen Übersetzungen und Umwälzungen der Idee einer
humanistischen Weltanschauung längst nicht mehr gestatten, von
‚dem‘ Humanismus zu sprechen,1 verdient seine verschlungene Geschichte
noch immer Aufmerksamkeit. Das gilt ganz besonders für
unabgegoltene Potentiale jener humanistischen Selbst- und Weltentwürfe,
welche das „Abenteuer des menschlichen Zusammenlebens“2
wenigstens in einigermaßen erträglichen Formen zu halten versprechen
– ohne den Menschen in bloße Illusionen zu verstricken oder
einem Anthropozentrismus das Wort zu reden, der von der nichtmenschlichen
Natur und speziell von ökologischen Problemen nicht
1 Cancik 1993, 2003, 2009.
2 Todorov 2002a, 2002b.
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allzu viel wissen möchte. Solche Potentiale auf ihre Zukunftsträchtigkeit
hin zu studieren, ist nach wie vor ein Gebot der Stunde.
Das erfordert im 21. Jahrhundert gewiss grundlegende Rekonstruktionen,
beträchtliche Revisionen und kreative Reinventionen humanistischer
Traditionen. Es verlangt nach Aufklärung über so manche
Naivität und Scheinheiligkeit humanistischer Ideale aus vergangenen
Zeiten. Es bedarf einer kritischen Reflexion historischer Welt- und
Menschenbilder, die auf Herausforderungen der Gegenwart fokussiert
und sie in zeitgemäßer Weise so artikuliert, dass wir aus der
Vergangenheit noch lernen können – selbst wenn dieses Lernen weit
entfernt ist vom anachronistischen Topos Historia Magistra Vitae,
dem Reinhart Koselleck schon vor Jahrzehnten eine historisch begründete
Absage erteilt hat.3 Neben dem überbordenden Anthropozentrismus
und der hartnäckigen Ignoranz gegenüber der im Namen humanistischer
Weltanschauungen mitunter ganz offen verübten Gewalt ist
es vor allem der vielen Humanismen eingeschriebene, manchmal
etwas verborgene oder verdeckte Nostrozentrismus, der in der glokalisierten
Welt unserer Tage überholt und überflüssig wirkt, ja schädlicher
denn je erscheint. Nostrozentrismen – die als kollektives Analogon
oder Pendant des Egozentrismus und Egoismus betrachtet
werden können – sind auch heute lebendig und gefährlich. Sie bestimmen
das Selbst- und Weltverhältnis vieler Gruppen wie eh und je.
Alle Kollektive sind im Prinzip dafür anfällig – von der intimen
Kleingruppe bis hin zur anonymen Großgruppe (man denke an Ethnien,
Nationen oder Kulturen, an soziale Klassen, Schichten oder
Milieus sowie an Generationen und die Geschlechter). Nostrozentrismen
treten in variabler Gestalt auf: Ethnozentrismus, Eurozentrismus,
Okzidentalismus, Orientalismus oder Chauvinismus stehen neben
weiteren Varianten. Ihnen gemeinsam ist die Tatsache, dass sie – aus
der Perspektive des jeweils konstitutiven und konjunktiven „Wir“ –
alle anderen, Fremde zumal, symbolisch ausgrenzen und praktisch
ausschließen. Dies geschieht im Vollzug einer die anderen abwertenden
Selbstbezugnahme, die das positive Selbstverhältnis der Wir-
Gruppe stabilisiert und stärkt (jedenfalls kurzfristig und behelfsmäßig).
Nostrozentrismen aller Art dienen der selbstwertdienlichen Aufwertung
des Eigenen, nicht selten seiner an Hegemoniebestrebungen
3 Koselleck 1967.
HUMANISMUS NACH SEINER ZEIT? | 9
gekoppelten Verherrlichung und Abschottung. Sich selbst und das
Eigene ‚überhöhende‘ Kollektive hegen und pflegen solche Nostrozentrismen
bis heute – keine Weltengegend ist davon verschont geblieben.
Wir beobachten das unentwegt und überall, häufig mit Besorgnis
und Unruhe. Wir registrieren diesen Sachverhalt, als zeuge er
einfach von den kaum mehr verborgenen und dennoch ziemlich unveränderlich
erscheinenden sozialpsychologischen Konstituenten jeder
kohäsiven Gruppen- und Identitätsbildung.4
Der sozial- und kulturwissenschaftlich informierte Humanismus
unserer Tage fokussiert und analysiert nicht zuletzt diese Vorgänge.
Er tut dies in aller Regel mit der historisch aufgeklärten, politischen
Absicht, ihren polemogenen Potentialen und zerstörerischen Effekten
vorzubeugen und entgegenzuwirken. Er versucht das im Namen des
und der Menschen. Er schlägt dafür erneuerte oder neue programmatische
Namen vor: interkultureller Humanismus oder inklusiver Universalismus
sind Beispiele dafür. Diese differenzsensible, häufig anerkennungstheoretisch
begründete Form des (andere Kulturen und interkulturelle
Kommunikation einbeziehenden) Universalismus richtet
sich entschieden gegen xenophobe Ausschließungen von anderen bzw.
Fremden. Dieser erneuerte Humanismus – der übrigens durchaus an
Vorbilder innerhalb der vielgliedrigen humanistischen Tradition anknüpfen
kann – widerspricht und widersetzt sich, wo immer solche
Exklusionen anzutreffen sind (sowie ihre Vorboten der sozialen Kategorisierung
und symbolischen Etikettierung, der – meistens implizit
hierarchisierenden – Differenzierung, der Stigmatisierung, Diskriminierung
usw.). Er wacht aber, und das ist besonders wichtig, in unablässigen
selbstreflexiven und selbstkritischen Bewegungen gerade
auch über eigene Begehren und Bestrebungen, die solchen Exklusionen
nolens volens, eher unbewusst und unbeachtet als beabsichtigt
und gewollt, den Weg ebnen können.5
4 Tajfel 1978.
5 Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es nicht gerade sensibel und klug,
einen wie auch immer aktualisierten Humanismus ausgerechnet als „Leitkultur“
unserer Zeit zu etikettieren (wie das Nida-Rümelin 2006 tut). Das
klingt – egal, was sich unter diesem plakativen Titel verbergen mag –
wohl in so manchen Ohren als europäische Propaganda alten Schlags.
10 | JÜRGEN STRAUB, MARTIN GIESELMANN
Brechen sich solche zunächst unterschwelligen und untergründigen
Vorgänge Bahn, ist es oft schon zu spät. Treten vage gewaltförmige,
spürbar gewaltsame und schließlich offenkundig gewalttätige
Ausgrenzungen und Ausschließungen ins Blickfeld einer aufmerksamen
Öffentlichkeit, ist der entscheidende Moment bereits passé. Der
Einsatz nicht nur von eher subtilen, sondern auch von brachialen Methoden
und brutalen Mitteln war und erscheint vielfach immer noch
als ein quasi ‚naturwüchsiger‘ Bestandteil polemogener Exklusionen
und anderer (anfangs vielleicht bloß schleichender, später brodelnder)
Prozesse der Verfemung und Verfeindung, die im Extremfall in Exzesse
gegenseitiger Verfolgung und Vernichtung münden. Es gibt
vielleicht kaum Naiveres und Unwahrhaftigeres, als unter dem Deckmantel
eines humanistischen Welt- und Menschenbildes von menschlichen,
allzu menschlichen Dominanz- und Hegemoniebestrebungen
abzusehen und abzulenken. Humanistisch gesinnte (wissenschaftliche)
AutorInnen und (z.B. pädagogische, politische) AktivistInnen, die sich
im (nach christlichem Kalender) 21. Jahrhundert auf der Höhe ihrer
Zeit bewegen, wissen und sagen das. Sie betonen nicht zuletzt, dass
eine zeitgemäße Aufklärung über das Versagen traditioneller Humanismen,
die mitunter (aktiv oder durch Duldung des Geschehens) daran
beteiligt waren hervorzubringen, wovor sie doch warnten und was
sie zu verhindern vorgaben, mehr erfordert als kognitive Anstrengungen
und intellektuelle Kritik. Die Bewertung und Bilanzierung
‚humanistisch‘ inspirierter Weltanschauungen und Konzepte, Projekte
und Praxen bedarf vielmehr einer kollektiven Erinnerung, die emotionale
Dimensionen des kulturellen und kommunikativen Gedächtnisses
einbezieht. Wer auf die vielfältigen Humanismen der Vergangenheit
zurückblickt, kommt insbesondere um eine Art ‚Trauerarbeit‘
wohl kaum ganz herum.6
6 Das ist verschiedentlich bedacht und zu bedenken gegeben worden, eindringlich
etwa von Paul Ricoeur 1998 (vgl. auch Aleida Assmann 2006,
2007; Liebsch/Rüsen 2001). Am Rande sei bemerkt, dass die sog. Trauerarbeit
keine „Arbeit“ im engeren Sinne des herstellenden Handelns ist,
sondern eine Praxis (die sich im Übrigen auch gegen allzu rigide Ritualisierungen
und oberflächliche Konventionalisierungen sperrt, wie sie z.B.
im Rahmen .,..
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