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Die achte Karte
Die achte Karte




Kate Mosse

Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. , GmbH & Co
EAN: 9783426631621 (ISBN: 3-426-63162-8)
748 Seiten, paperback, 13 x 19cm, Oktober, 2009

EUR 9,95
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Als die junge Meredith auf der Suche nach ihren Wurzeln durch Paris streift, stößt sie auf ein seltenes und unvollständiges Set Tarotkarten aus vergangener Zeit. Sie ist sofort gefangen von den geheimnisvollen Ab-bildungen, denn eine davon trägt unverkennbar ihre eigenen Gesichtszüge. Was die junge Frau nicht weiß: Die Karten erzählen von einem schrecklichen Unglück in ihrer Familie - und es scheint, als habe Meredith die alten Geister wieder geweckt ...


Rezension
Wieder ein hervorragender historischer Roman aus dem Hauses Knaur. Wer "Das verlorene Labyrinth" von Kate Mosse gelesen hat, weiß was ihn hier erwartet - und wird nicht enttäuscht werden.

Worum geht es in diesem Buch?
Wieder spielt die Geschichte - oder besser: die beiden Geschichten - in der Gegend rund um Carcassone.
Ein historischer Roman, wenn auch nicht Realität, so doch für den Leser mehr als real. Der Autorin Kate Mosse ist es gelungen, einen mehr als packenden Roman zu schreiben. Zwei verschiedene Leben, durch Jahrhunderte getrennt und doch miteinander verwoben - zwei junge Frauen, die sich nicht kennen und die doch so vieles gemeinsam haben - dominieren dieses Buch.
Das Buch beginnt im Paris des Jahres 1891 mit der Geschichte der blutjungen Léonie Verniers, später kommt die in der Jetztzeit spielende Geschichte von Meredith dazu. Das Verbindungsglied zwischen beiden Frauen stellt ein Set aus Tarot-Karten dar, welches Meredith während ihrer Recherchen für eine Autobiopraphie Claude Debussys stößt und in welchem sich die Geschichte Léonies verbirgt.

Nichtsdestotrotz sind die realen historischen Hintergründe dieses Romans hervorragend recherchiert und meisterhaft in die Geschichte eingebaut.
Trotz der "Unterbrechungen" durch den Wechsel in eine andere Zeit wird der Spannungsbogen niemals unterbrochen.
Die immer wieder einmal eingeflochtenen französischen Sätze sind auch für den des Französischen nicht mächtigen Laien problemlos zu verstehen, man erschließt sie sich notfalls einfach aus dem Zusammenhang.

Was mir an diesem Buch besonders gefällt ist auch, dass nichts hektisch überstürzt wird ohne dass es dabei langweilig wird oder etwas sinnlos hinausgezögert wird.

Mein Fazit:
Gute Unterhaltung in Form einer Mischung zwischen Frauenroman und historisch angesiedeltem Krimi.
Spannende Lektüre für den nächsten anstehenden Urlaub oder entspannende Stunden Zuhause.

Zusatzinformationen:
Unter folgender URL ist eine Lesprobe des Verlages downloadbar:
http://www.droemer-knaur.de/sixcms/media.php/201/LP_Achte-Karte.pdf


Sylvia Schubert für Lbib.de



Verlagsinfo
Der Verlags-Website entnommen:

Kate Mosse
Die achte Karte

Roman

Als die junge Meredith auf der Suche nach ihren Wurzeln durch Paris streift, stößt sie auf ein seltenes und unvollständiges Set Tarotkarten aus vergangener Zeit. Die geheimnisvollen Abbildungen schlagen sie sofort in ihren Bann, denn eine Figur trägt unverkennbar Merediths Gesichtszüge. Was die junge Frau nicht weiß: Die Karten erzählen von einem schrecklichen Unglück in ihrer Familie – und es scheint, als habe sie die alten Geister wieder geweckt ...


Die achte Karte

Grabstätte
Wenn einst in einer dumpf und düstren Nacht ein guter Christ, aus Barmherzigkeit, hinter altem Gemäuer deinen hochgepriesenen Leib bestattet, Zur Stunde, da die keuschen Sterne schläfrig die Augen schließen, wird dort die Spinne ihre Netze weben und die Natter ihre Jungen hecken;
Jahraus jahrein wirst du über deinem ...


AUTOR(EN) Kate Mosse
VERLAG Knaur TB
ORIGINALTITELDie achte Karte
SEITENZAHL 752
AUSSTATTUNG Taschenbuch TB
PREIS EUR (D) 9,95
ISBN 3-426-63162-8
ISBN 978-3-426-63162-1
ERSCHEINUNGSTERMIN 01.10.2009


Inhaltsverzeichnis
PRÄLÜDIUM März 1891 S. 15

ERSTER TEIL Paris, September 1891 S. 21
ZWEITER TEIL Paris, Oktober 2007 S. 79
DRITTER TEIL Rennes-les-Bains, September 1891 S. 141
VIERTER TEIL Rennes-les-Bains, Oktober 2007 S. 207
FÜNFTER TEIL Domaine de la Cade, September 1891 S. 251
SECHSTER TEIL Rennes-le-Château, Oktober 2007 S. 337
SIEBTER TEIL Carcassonne, September-Oktober 1891 S. 387
ACHTER TEIL Hôtel de la Cade, Oktober 2007 S. 473
NEUNTER TEIL Die Lichtung, Oktober-November 1891 S. 509
ZEHNTER TEIL Der See, Oktober 2007 S. 603
ELFTER TEIL Die Grabkapelle, November 1891-Oktober 1897
ZWÖLFTER TEIL Die Ruine, Oktober 2007 S. 707

CODA Drei Jahre später S. 733

ERLÄUTERUNGEN DER AUTORIN ZUM VERNIER-TAROT S. 745

DANKSAGUNG S. 747


Leseprobe
L E S E P R O B E

Kate Mosse
Die achte
Karte
Roman
Aus dem Englischen von
Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Originaltitel: Sepulchre
Originalverlag: Orion Books, London
Besuchen Sie uns im Internet:
www.droemer.de
Die Folie des Schutzumschlags sowie die Einschweißfolie sind
PE-Folien und biologisch abbaubar.
Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt.
Copyright © Mosse Associates Ltd 2007
Copyright © 2008 der deutschsprachigen Ausgabe bei Droemer Verlag.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Copyright für die Übersetzung des Gedichtes von Charles Baudelaire:
© Charles Baudelaire, Sämtliche Werke und Briefe, Band III. Herausgegeben und
kommentiert von Friedhelm Kemp und Claude Pichois in Zusammenarbeit mit
Wolfgang Drost. Übersetzung der Briefe von Guido Meister, Übersetzung der
Gedichte von Friedhelm Kemp © 1975 Carl Hanser Verlag, München
Redaktion: Iris Hechenberger
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Umschlagabbildung: FinePic, München
Satz: Adobe InDesign im Verlag
Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm
Printed in Germany
ISBN 978-3-426-19661-8
2 4 5 3 1
Grabstätte

Wenn einst in einer dumpf und düstren Nacht ein guter Christ, aus Barmherzigkeit, hinter altem Gemäuer deinen hochgepriesenen Leib bestattet, Zur Stunde, da die keuschen Sterne schläfrig die Augen schließen, wird dort die Spinne ihre Netze weben und die Natter ihre Jungen hecken;
Jahraus jahrein wirst du über deinem verdammten Haupte die kläglichen Schreie der Wölfe
Und hungerdürrer Hexen hören, das Schäkern geiler Greise und die Komplotte schwarzer Gauner.

Aus dem Französischen von Friedhelm Kemp

L’âme d’autrui est une forêt obscure où il faut marcher avec précaution.

Die Seele des anderen ist ein dunkler Wald, in dem man sich mit Vorsicht bewegen muss.


Brief, 1891
Claude Debussy

The true Tarot is symbolism; it speaks no other language and offers no other signs.
Wahres Tarot ist Symbolismus. Es spricht keine andere Sprache und birgt keine anderen Zeichen.
The Pictorial Key to the Tarot, 1910
Arthur Edward Waite

Präludium
März 1891



Mittwoch, 25. März 1891
Diese Geschichte beginnt in einer Knochenstadt. In den Gassen der Toten. Auf den stillen Boulevards, Promenaden und Sackgassen des Cimetière de Montmartre in Paris, einem Ort, bevölkert
von Grabmälern und steinernen Engeln und den zaudernden Geistern derjenigen, die schon vergessen wurden, noch ehe sie in ihren Gräbern erkalteten.
Diese Geschichte beginnt mit den Wächtern an den Toren, mit den Armen und Verzweifelten von Paris, die gekommen sind, um von der Trauer anderer zu profi tieren. Mit den gaffenden Bettlern und
scharfäugigen chiffonniers, mit den Kranzfl echtern und Straßenhändlern, die billige Votivgaben feilbieten, mit den Mädchen, die Papierblumen binden, und den wartenden Kutschen mit schwarzem
Verdeck und verschmierten Scheiben.
Die Geschichte beginnt mit der Inszenierung einer Beerdigung.
Eine kleine Annonce im Figaro hatte Ort und Zeitpunkt bekanntgegeben, doch wenige sind gekommen. Ein zerstreutes Grüppchen, dunkle Schleier und Cutaways, blanke Stiefel und extravagante
Schirme zum Schutz gegen den garstigen Märzregen.
Léonie steht mit ihrem Bruder und ihrer Mutter am offenen Grab, das aparte Gesicht hinter schwarzer Spitze verborgen. Von den Lippen des Priesters fallen Platitüden, Worte der Vergebung, die alle Herzen kaltlassen und alle Emotionen unberührt. Der hässliche Mann mit seiner ungestärkten weißen Halsbinde, den groben Schnallenschuhen und dem fettigen Teint weiß nichts von den Lügen und Täuschungsmanövern, die zu diesem Fleckchen Erde im 18. Arrondissement am nördlichen Rand von Paris geführt haben.
Léonies Augen sind trocken. Ebenso wie der Priester weiß sie nicht, was an diesem Nachmittag wirklich gespielt wird. Sie glaubt, sie nimmt an einer Beerdigung teil, dem Schlusspunkt eines zu früh geendeten Lebens. Sie ist gekommen, um der Geliebten ihres Bruders die letzte Ehre zu erweisen, einer Frau, der sie nie im Leben begegnet ist. Um ihrem Bruder in seiner Trauer zur Seite zu stehen.
Léonies Augen ruhen auf dem Sarg, der in die feuchte Erde gesenkt wird, wo Würmer und Spinnen hausen. Wenn sie Anatole jetzt unvermittelt einen raschen Seitenblick zuwerfen würde, dann würde sie den Gesichtsausdruck ihres geliebten Bruders bemerken und sich wundern. Denn nicht Schmerz schwimmt in seinen Augen, sondern eher Erleichterung.
Und da sie sich nicht umwendet, bemerkt sie auch nicht den Mann im grauen Zylinder und Gehrock, der sich zum Schutz vor dem Regen unter die Zypressen in der hintersten Ecke des Friedhofs gestellt hat. Er gibt eine beeindruckende Figur ab, die Sorte Mann, bei dessen Anblick une belle parisienne ihr Haar berühren und die Augen unter dem Schleier ein wenig heben würde. Seine breiten und starken Hände stecken in maßgeschneiderten Kalbslederhandschuhen und ruhen vollendet auf dem Silberknauf seines Gehstocks aus Mahagoni. Es sind Hände, die eine Taille umfassen, eine Geliebte näher ziehen, eine blasse Wange liebkosen könnten.
Er beobachtet die Szene mit einem Ausdruck großer Intensität im Gesicht. Seine Pupillen sind schwarze Nadelspitzen in hellen blauen Augen.
Ein dumpfer Aufprall von Erde auf dem Sargdeckel. Die letzten Worte des Priesters hallen durch die schwere Luft.
»In nomine Patri et Filii et Spiritus Sancti. Amen. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.«
Er macht das Kreuzzeichen und geht davon.
Amen. So sei es.
Léonie lässt ihre Blume fallen, die sie heute Morgen im Parc Monceau frisch gepflückt hat, eine Rose zum Gedenken. Die Blüte kreiselt nach unten durch die kühle Luft, leuchtendes Weiß, das langsam
aus ihren schwarz behandschuhten Fingern gleitet.
Lasst die Toten ruhen. Lasst die Toten schlafen.
Der Regen wird stärker. Jenseits der hohen schmiedeeisernen Tore des Friedhofs sind die Dächer, Kirchtürme und Kuppeln von Paris in silbrigen Nebel gehüllt. Er dämpft das Geräusch der klappernden
Kutschen auf dem Boulevard de Clichy und das ferne Kreischen der Züge, die aus dem Gare Saint-Lazare rollen.
Die Trauergesellschaft wendet sich vom Grab ab. Léonie berührt den Arm ihres Bruders. Er tätschelt ihre Hand, senkt den Kopf.
Während sie den Friedhof verlassen, hofft Léonie mehr als alles andere, dass es nun endgültig vorbei ist. Dass sie nach den letzten schlimmen Monaten voller Drangsal und Unglück nun einen
Schlussstrich ziehen können.
Dass sie aus dem Schatten treten und wieder anfangen können zu leben.
Doch da, viele hundert Meilen südlich von Paris, regt sich etwas.
Eine Reaktion, eine Verbindung, eine Konsequenz. In den alten Buchenwäldern oberhalb des beliebten Kurorts Rennes-les-Bains hebt ein Windhauch die Blätter. Musik, gehört und doch nicht gehört.
Enfin.
Das Wort ist ein Hauch im Wind. Endlich.
Ausgelöst durch die Tat eines arglosen Mädchens auf einem Friedhof in Paris, bewegt sich etwas in der steinernen Grabstätte. Etwas erwacht, das auf den verschlungenen und überwucherten Wegen der Domaine de la Cade längst vergessen war. Ein zufälliger Beobachter würde es wohl nur für eine Sinnestäuschung im schwindenden Nachmittagslicht halten, doch für einen fl üchtigen Moment scheinen die Gipsstatuen zu atmen, zu schwanken, zu seufzen.
Und die Porträts auf den Karten, die unter Erde und Stein begraben liegen, wo der Fluss versiegt, scheinen für einen Moment zu leben. Schemenhafte Gestalten, Eindrücke, Ahnungen, mehr noch nicht. Eine Andeutung, eine Illusion, ein Versprechen. Die Brechung des Lichts, die Bewegung der Luft unter der Biegung der Steintreppe. Die unentrinnbare Verbundenheit von Ort und Augenblick.
Denn in Wahrheit beginnt diese Geschichte nicht mit den Knochen auf einem Pariser Friedhof, sondern mit einem Kartenspiel.
Dem Bilderbuch des Teufels.


Erster Teil
Paris
September 1891

Kapitel 1


Paris, Mittwoch, 16. September 1891
Léonie Vernier stand auf den Stufen zum Palais Garnier, hielt ihr Ridikül umklammert und wippte ungeduldig mit dem Fuß.
Wo bleibt er denn?
Die Dämmerung kleidete den Place de l’Opéra in ein seidiges blaues Licht.
Léonie runzelte die Stirn. Es war zum Verrücktwerden. Seit fast einer Stunde wartete sie nun schon auf ihren Bruder am vereinbarten Treffpunkt, unter dem gleichmütigen Blick der Statuen, die das Dach des Opernhauses zierten. Sie hatte zudringliche Blicke erduldet. Sie hatte das Kommen und Gehen der fi acres beobachtet, Privatkutschen mit geschlossenem Verdeck, öffentliche Droschken ohne Schutz vor den Elementen, vierrädrige Gespanne, Gigs, und alle hatten sie ihre Passagiere abgesetzt. Ein Meer von schwarzen Seidenzylindern und erlesenen Abendkleidern aus den Schauräumen
von Maison Léoty und Charles Worth. Es war ein elegantes Premierenpublikum, eine Menge Kulturbefl issener, die sehen und gesehen werden wollten.
Aber kein Anatole.
Einmal meinte Léonie, ihn zu erblicken. Ein Mann mit der Haltung und Statur ihres Bruders, groß und breitschultrig, und mit dem gleichen bedächtigen Gang. Aus der Ferne bildete sie sich sogar ein, seine glänzenden braunen Augen und den dünnen schwarzen Schnurrbart zu sehen, und sie hob die Hand, um zu winken. Doch dann drehte sich der Mann vollständig um, und sie erkannte, dass er es nicht war.
Léonie richtete den Blick wieder auf die Avenue de l’Opéra. Sie verlief quer bis hinunter zum Palais du Louvre, ein Überbleibsel zerbröckelnder Monarchie, als ein ängstlicher französischer König
einen sicheren und direkten Zugang zu seiner abendlichen Unterhaltung verlangte. Die Laternen strahlten in der Dämmerung, und durch die erleuchteten Fenster der Cafés und Bars wurden Rechtecke
warmen Lichtes geworfen. Die Gaslampen spuckten und zischten.
Um sie herum war die Luft erfüllt von den Geräuschen einer Stadt in der Dämmerung, wenn der Tag der Nacht weicht. Entre chien et loup. Das Klirren von Geschirren und Rädern auf den belebten Straßen. Der Gesang ferner Vögel in den Bäumen des Boulevard des Capucines. Das heisere Schreien von Straßenhändlern und Pferdeknechten, die sanfteren Töne der Mädchen, die auf den Stufen zur Oper künstliche Blumen verkauften, die hellen Rufe der Jungen, die einem Herrn für einen Sou die Schuhe wichsten und wienerten.
Ein weiterer Omnibus rollte zwischen Léonie und der prächtigen Fassade des Palais Garnier auf seinem Weg zum Boulevard Haussmann vorbei, und der Schaffner pfi ff auf dem Oberdeck vor sich hin, während er die Fahrkarten lochte. Ein alter Veteran mit einem Tonquin-Orden an der Brust torkelte nach rechts und links und sang ein trunkenes Soldatenlied. Léonie sah sogar einen Clown mit weißgeschminktem Gesicht unter dem schwarzen Dominofi lzhut, das Kostüm mit Goldpailletten besetzt.
Wie kann er mich nur so warten lassen?
Die Glocken begannen für die Abendandacht zu läuten, und die getragenen Töne hallten über das Pflaster. Von Saint-Gervais oder einer anderen Kirche in der Nähe?
Sie zuckte halbherzig die Achseln. Ihre Augen blitzten vor Zorn und dann vor Belustigung.
Léonie konnte nicht länger warten. Wenn sie Monsieur Wagners Lohengrin hören wollte, dann musste sie ihr Herz in beide Hände nehmen und allein hineingehen.
Konnte sie das?
Sie hatte zwar keinen Begleiter, aber zum Glück eine eigene Eintrittskarte.
Aber traute sie sich das?
Sie überlegte. Es war die Pariser Premiere. Wieso sollte sie dieses Erlebnis versäumen, nur weil Anatole unpünktlich war?
Im Innern des Opernhauses glitzerten die prächtigen Kristallleuchter.
Alles war Licht und Eleganz, eine Gelegenheit, die man nicht verpassen durfte.
Léonie traf ihre Entscheidung. Sie lief die Stufen hinauf, durch die Glastür und hinein in die Menge.
Das Klingelzeichen ertönte. Nur noch zwei Minuten, bis sich der Vorhang hob.
Mit fl iegenden Röcken und blitzenden Seidenstrümpfen eilte Léonie über den Marmor im Grand Foyer, wobei sie gleichermaßen Beifall und Bewunderung erntete. Mit ihren siebzehn Jahren stand Léonie kurz davor, sich in eine große Schönheit zu verwandeln, nicht länger Kind, aber noch immer mit Anklängen an das Mädchen, das sie einmal gewesen war. Sie hatte das Glück, die derzeit beliebten Gesichtszüge und die nostalgischen Farben zu besitzen, die von Monsieur Moreau und seinen befreundeten Präraffaeliten so geschätzt wurden.
Aber ihr Aussehen täuschte. Léonie war eher willensstark als gefügig, eher kühn als bescheiden, eine junge Frau mit dem Feuer ihrer Zeit, keine sittsame mittelalterliche Maid. Ja, Anatole neckte sie sogar damit, dass sie zwar wie das Porträt von Rossettis La Damoiselle Élue aussehe, aber in Wahrheit deren Gegenbild war. Ihre Doppelgängerin, aber nicht sie. Von den vier Elementen war Léonie
Feuer, nicht Wasser, Erde nicht Luft.
Jetzt waren ihre Alabasterwangen gerötet. Dicke kupferfarbene Haarlocken hatten sich aus den Kämmen gelöst und fielen über die nackten Schultern. Ihre betörenden grünen Augen, umrahmt von langen braunen Wimpern, blitzten vor Zorn und Verwegenheit.
Er hat mir versprochen, nicht zu spät zu kommen.
Während Léonie über den Marmorboden eilte, hielt sie mit der einen Hand ihre Abendtasche, wie einen Schild, die Röcke ihres grünen Seidensatinkleides mit der anderen, ohne die missbilligenden Blicke von älteren Damen und Witwen zu beachten. Die unechten Perlen und Silberpailletten am Saum ihres Kleides klickerten gegen die Marmorstufen der Treppe, als sie zwischen rosafarbenen Marmorsäulen, vergoldeten Statuen und Wandfriesen hindurch auf die geschwungene Grand Escalier zulief. Eingezwängt
in ihr Korsett, atmete sie keuchend, und ihr Herz pochte wie ein zu schnell eingestelltes Metronom.
Dennoch verlangsamte Léonie ihren Schritt nicht. Weiter vorne sah sie, dass die Lakaien Anstalten machten, die Türen zum Grande Salle zu schließen. Mit einer letzten Kraftanstrengung erreichte sie den Eingang.
»Voilà«, sagte sie und hielt dem Saaldiener ihre Eintrittskarte hin.
»Mon frère va arriver …«
Er trat beiseite und ließ sie hinein.
Nach den geräuschvollen und schallenden Marmorhallen des Grand Foyer war der Saal ungewöhnlich still. Leises Gemurmel, Begrüßungen, Erkundigungen nach Gesundheit und Familie, alles halb verschluckt von den dicken Teppichen und den Reihen roter Samtsessel.
Die üblichen Notenläufe der Holz- und Blechbläser, Tonleitern und Arpeggien und Auszüge aus der Oper, immer lauter, drangen aus dem Orchestergraben wie herbstliche Rauchfahnen.
Ich hab’s geschafft.
Léonie nahm Haltung an und strich ihr Kleid glatt. Es war eine Neuanschaffung, erst heute Nachmittag von La Samaritaine geliefert und noch ganz steif. Sie zog die langen grünen Handschuhe bis über die Ellbogen, so dass nur ein dünner Streifen nackter Haut sichtbar war, und ging dann durchs Parkett Richtung Bühne.
Ihre Plätze waren in der ersten Reihe, zwei der besten im ganzen Haus, was sie Anatoles Freund und ihrem Nachbarn zu verdanken hatten, dem Komponisten Achille Debussy. Auf dem Weg nach vorne passierte sie links und rechts Reihen von schwarzen Zylindern, gefi ederten Damenhüten und wedelnden schmuckbesetzten Fächern. Rot und lila verfärbte cholerische Gesichter, dick gepuderte
Witwen mit akkuratem Weißhaar. Sie erwiderte jeden einzelnen Blick mit einem herzlichen Lächeln und einer leichten Neigung des Kopfes.
Es liegt eine seltsame Anspannung in der Luft.
Léonies Blick wurde wachsamer. Je weiter sie in den Grande Salle hineinging, desto deutlicher wurde, dass irgendetwas nicht stimmte.
Misstrauen spiegelte sich auf den Gesichtern, etwas brodelte dicht unter der Oberfl äche, Unruhe lag in der Luft.
Sie spürte ein Prickeln im Nacken. Das Publikum war auf der Hut.
Sie sah es in den verstohlenen Blicken und argwöhnischen Mienen.
Mach dich nicht lächerlich.
Léonie erinnerte sich schwach an einen Zeitungsartikel, den Anatole beim Abendessen vorgelesen hatte, über Proteste gegen die Aufführung von Werken eines preußischen Künstlers in Paris.
Aber das hier war das Palais Garnier, keine düstere Gasse in Clichy oder Montmartre.
Was soll denn in der Oper schon passieren?
Léonie schob sich durch den Wald aus Knien und Abendkleidern in ihrer Reihe und setzte sich mit einem Gefühl der Erleichterung auf ihren Platz. Sie brauchte einen Moment, um sich zu sammeln, und
schielte dann zu ihren Nachbarn hinüber. Links von ihr saß eine mit Schmuck behängte Dame neben ihrem deutlich älteren Mann, dessen wässrige Augen von buschigen weißen Brauen fast verdeckt wurden. Fleckige Hände lagen, eine über der anderen, auf dem Knauf eines Gehstocks mit Silberspitze und einem Band mit Inschrift um den Hals. Rechts von ihr bildete Anatoles leerer Platz wie ein Graben eine Barriere zu vier finsteren bärtigen Männern in mittlerem Alter, die missmutig dreinblickten, allesamt die Hände auf langweilige Gehstöcke aus Buchsbaum gestützt. Die Art,
wie sie stumm dasaßen und mit einem Ausdruck großer Konzentration geradeaus blickten, hatte etwas Beunruhigendes.
Es schoss Léonie durch den Kopf, wie seltsam es doch war, dass sie alle Lederhandschuhe trugen, und dass ihnen unangenehm heiß sein musste. Dann wandte einer den Kopf und starrte sie an. Léonie
errötete, richtete den Blick nach vorn und bewunderte lieber den herrlichen Trompe-l’oeil-Vorhang, der in karmesinroten und goldenen Falten vom Proszeniumsbogen bis hinunter zum Holzboden der Bühne fiel.
Vielleicht hat er sich nicht verspätet. Und wenn ihm etwas zugestoßen ist?
Léonie schüttelte den Kopf über diesen neuen und unliebsamen Gedanken.
Sie zog ihren Fächer aus der Tasche und klappte ihn mit leichtem Schwung auf. So gern sie auch Entschuldigungen für ihren Bruder fi nden wollte, es lag wahrscheinlich eher an seiner mangelnden
Zeiteinteilung.
Wie so oft in letzter Zeit.
Tatsächlich war Anatole seit der tristen Beerdigung auf dem Cimetière de Montmartre sogar noch unzuverlässiger geworden. Léonie runzelte die Stirn, als sich die Erinnerung wieder einmal in ihre
Gedanken drängte. Der Tag verfolgte sie. Sie durchlebte ihn wieder und wieder.
Im März hatte sie gehofft, dass nun alles vorbei und vorüber wäre, aber sein Verhalten war nach wie vor unberechenbar. Oft verschwand er tagelang, kehrte mitten in der Nacht zurück, mied viele
seiner Freunde und Bekannten und vergrub sich stattdessen in Arbeit.
Aber heute Abend hatte er versprochen, pünktlich zu sein.
Der chef d’orchestre trat ans Pult und vertrieb Léonies Gedanken.
Applaus brandete durch den erwartungsvollen Saal wie eine Gewehrsalve, heftig und jäh und intensiv. Léonie klatschte mit Verve und Begeisterung, aufgrund ihrer Angespanntheit sogar noch stärker.
Das Herrenquartett neben ihr rührte sich nicht, die Hände weiter reglos auf den billigen, hässlichen Gehstöcken. Sie warf ihnen einen Blick zu, fand sie unhöfl ich und ungehobelt und fragte
sich, warum sie sich überhaupt herbemüht hatten, wo sie doch anscheinend entschlossen waren, sich nicht an der Musik zu erfreuen.
Und sie wünschte, obwohl es sie ärgerte, sich eine solche Verunsicherung eingestehen zu müssen, sie würde nicht direkt neben ihnen sitzen.
Der chef d’orchestre verneigte sich tief und wandte sich dann der Bühne zu.
Der Applaus verklang. Stille senkte sich über den Grande Salle.
Der Dirigent klopfte mit dem Taktstock auf das Holzpult. Die blauen Gasfl ämmchen in den Saallampen zischten und fl ackerten, erloschen dann. Die Atmosphäre lud sich verheißungsvoll auf.
Aller Augen ruhten auf dem Dirigenten. Die Männer im Orchester setzten sich aufrechter und hoben ihre Bögen oder führten Instrumente an die Lippen.
Der Dirigent hob seinen Stock. Léonie hielt den Atem an, als die Eröffnungsakkorde von Monsieur Wagners Lohengrin die palastartigen Räume des Palais Garnier erfüllten.
Der Platz neben ihr blieb leer.