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Am Ball der Zeit Fußball als Ereignis und Faszinosum
Am Ball der Zeit
Fußball als Ereignis und Faszinosum




Rebekka Ladewig, Annette Vowinckel (Hrsg.)

Transcript
EAN: 9783837612806 (ISBN: 3-8376-1280-5)
190 Seiten, paperback, 14 x 23cm, 2009

EUR 20,80
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Fußball fasziniert: Er zieht Massen ins Stadion und ganze Nationen vor die Bildschirme. Was aber macht ihn so besonders?

Die in diesem Band versammelten Beiträge gehen in kulturwissenschaftlicher Perspektive der Frage nach, warum gerade dieser Sport eine solche Anziehungskraft ausübt. Sie fragen, welche Konzepte von Körper und Raum er transportiert, welche Emotionen und Imaginationen er freisetzt, welche Medien er nutzt und bedient und ob Fußball auch eine religiöse Dimension hat. Neben Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen kommen auch ein ehemaliger Fußballprofi und zwei Filmemacherinnen zu Wort.
Rezension
Fußball erfreut sich als Massenkulturphänomen in Zeiten von Postmoderne, Popkulturalisierung und Cultural Studies neuer wissenschaftlicher Aufmerksamkeit, - davon zeugt auch dieser informative Band, der nach "Fußball als Ereignis und Faszinosum" fragt (Untertitel): Warum fasziniert ausgerechnet Fußball so viele Menschen? Darauf antworten Sportwissenschaftler, Medien-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler, Historiker, Germanisten oder Kunsthistoriker; denn Fußball ist ein interdisziplinäres Thema und - Fußball begeistert, alle Schichten, alle Disziplinen, alle gesellschaftlichen Sektoren.

Oliver Neumann, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Schlagworte:
Sport, Medien, Kultur, Fußball, Körper
Adressaten:
Kulturwissenschaft, Medienwissenschaft, Tanzwissenschaft, Soziologie
Reihe »Kultur- und Medientheorie«
Editorial
Das klassische Feld der Geisteswissenschaften sieht sich seit geraumer Zeit einer grundsätzlichen Herausforderung gegenüber: Die Kultur- und Medienwissenschaften haben sich nicht nur als eigenständige Disziplinen etabliert, sie erheben weit über ihre Disziplingrenzen hinaus den radikalen Anspruch, die tradierte episteme der Geisteswissenschaften neu zu bestimmen. Die Reihe Kultur- und Medientheorie geht dieser Transformation eines ganzen Wissensfeldes in der Vielfalt ihrer Facetten nach.
Rebekka Ladewig (M.A.) ist Lehrbeauftragte am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität Berlin sowie der Kunstuniversität Linz. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Raumtheorien der Moderne, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte des Schwindels sowie die Wissensgeschichte der Orientierung.
Annette Vowinckel (PD Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und Privatdozentin am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Mediengeschichte, Kulturgeschichte der Renaissance und des 20. Jahrhunderts sowie Geschichte des Terrorismus.
WWW: www.culture.hu-berlin.de/na/
WWW: www.annette-vowinckel.de

Interview
... mit M.A. Rebekka Ladewig und PD Dr. phil. Annette Vowinckel

1. »Bücher, die die Welt nicht braucht. Warum trifft das auf Ihr Buch nicht zu?
Es gibt ganze Regale voller Bücher über Fußballvereine, über Spielregeln, Trainingsmethoden, Vereinsgeschichten, über soziale Aufsteiger und den demokratisierenden Effekt von Fußball, über Fans, Hooligans, Rassismus und Nationalismus im Sport. Aber ein Buch zu der Frage, warum gerade Fußball so viele Menschen fasziniert, das gibt es nicht. Dabei ist ... mehr gerade dies die Frage, die am Anfang jeder Arbeit über den Fußball stehen sollte.

2. Welche neuen Perspektiven eröffnet Ihr Buch?
Wir haben versucht, uns dem Fußball aus faszinationsgeschichtlicher Perspektive zu nähern. Erstaunliche Ergebnisse bringen dabei gerade die Beiträge, die das zum Gegenstand machen, was uns völlig selbstverständlich erscheint: Dass eine Mannschaft (ausgerechnet!) aus elf Spielern besteht, dass Menschen ins Stadion gehen, weil es sie glücklich macht, dass wir auf dem heimischen Bildschirm Körper und Gesichter beobachten. Manchmal hilft es, über vermeintlich Banales noch einmal neu nachzudenken.

3.Welche Bedeutung kommt dem Thema in aktuellen Debatten in Wissenschaft und Gesellschaft zu?
Fußball ist ein klassisches interdisziplinäres Thema: Mit ihm befassen sich Sportwissenschaftler, Medien-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler, Historiker, Germanisten oder Kunsthistoriker. Das alte Diktum, dass Fußball die Welt im Kleinen abbildet, schlägt sich also bestenfalls so nieder, dass der Gegenstand Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen und andere Berufsgruppen (Fußballspieler, Filmemacher, Künstler) an einen Tisch bringt. Wir haben das als enorme Bereicherung einer Wissenskultur empfunden, die manchmal noch im Schubladendenken des 20. Jahrhunderts verhaftet ist.

4. Welche besonderen Aspekte kann die wissenschaftliche Betrachtung in die öffentliche Diskussion einbringen?
Dem Fußball gelingt, was den meisten Institutionen nicht gelingt: Egal, ob er integriert oder polarisiert, Chancen eröffnet oder nur den Traum von der Aufstiegschance transportiert, ob er auf dem Acker stattfindet oder im Stadion oder im Fernsehen Millionenumsätze einspielt – Fußball begeistert. Es lohnt deshalb, öffentliche Debatten über Vereinsvermögen, Senderechte, Fanausschreitungen um einen Aspekt zu erweitern und darauf hinzuweisen, dass Fußball auch eine kulturelle Form der Moderne ist. Und zwar eine, die – im Unterscheid zu vielen anderen – mühelos den Übergang in die Mediengesellschaft des 21. Jahrhunderts geschafft hat.

5. Mit wem würden Sie Ihr Buch am liebsten diskutieren?
Mit Günter Netzer und Horst Köhler.

6. Ihr Buch in einem Satz:
»Das nächste Spiel ist immer das schwerste.« (Sepp Herberger)

Das Buch im Spiegel der Medien:
»Ein äußerst anregendes Nachdenkbuch!«
Prof. Dr. Klaus Hansen, www.socialnet.de, 03.11.2009
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
REBEKKA LADEWIG UND ANNETTE VOWINCKEL
7

KÖRPER UND RAUM

Der seltsame Attraktor des Fußballs: Gruppe, Raum, Bewegung
K. LUDWIG PFEIFFER
23

Fußball als Choreographie. Zum Verhältnis von spielerischer Interaktion und tänzerischer Improvisation
GABRIELE KLEIN
35

Himmel und Hölle. Kleine Phänomenologie des Fußballstadions
HOLGER BROHM
47

INTERMEZZO 1

Der Fußball und seine Fans. Interview mit Yves Eigenrauch
SILKE BAUDENDISTEL
69

MEDIALITÄT UND EMOTIONALITÄT

Affektfernsehen. Zum Status des Gesichts im Fernsehfußball
MARKUS STAUFF
75

Fußball, Fernsehen, Frohsinn.
Mentalitätsverschiebungen – Die Weltmeisterschaften 1954, 2006 und 2022 als mediale Muntermacher
UTE SEIDERER
95

Fußball: Die Bedeutungen einer weltumspannenden Leidenschaft
CHRISTIAN BROMBERGER
115

INTERMEZZO 2

Fußballgöttinnen. Ein Gespräch mit Nina Erfle und Frédérique Veith
REBEKKA LADEWIG
129

IMAGINATION UND GLAUBE

Fußballgott, erbarme Dich! Fan-Sein als ekklesiogene Neurose
ARND POLLMANN
137

Idole und Bälle. Fußballkultur und Fetischismus
HARTMUT BÖHME
157

Für den Verein, gegen die Nation? Rivalisierende Fußball-Identitäten
HANS HOGNESTAD
169

Autorinnen und Autoren
181

Abbildungen
185



7
EINLEITUNG
REBEKKA LADEWIG UND ANNETTE VOWINCKEL
Fußball ist ein Massen- und Mediensport, zugleich kulturelle Praxis und
sinnlich wahrnehmbares Ereignis1, Raumtechnik und Körpertechnik2,
kollektives und mediales Spektakel.3 Er ist Träger und Austragungsort
nationaler Interessen4, Wirtschaftsfaktor5 und Indikator der Globalisierung6,
ein Ort des Kommerzes7 und einer des Glaubens8, oft genug ein
Politikum9, manchmal ein Gesamtkunstwerk.10 Angesichts der phänomenalen
Vielfalt von Bedeutungszuschreibungen und Analysezusammenhängen
wundert es nicht, dass Fußball in den vergangenen Jahrzehnten
nicht nur zu einer der weltweit beliebtesten Zuschauersportarten, sondern
auch zum Untersuchungsgegenstand eines Fächerspektrums geworden
1 Vgl. hierzu den Beitrag von Gabriele Klein in diesem Band.
2 Vgl. hierzu den Beitrag von K. Ludwig Pfeiffer in diesem Band.
3 Vgl. Cornel Sandvoss: A Game of Two Halves: Football, Television, and
Globalization, London: Routledge 2003 und den Beitrag von Markus
Stauff in diesem Band.
4 Clemens Pornschlegel: »Wie kommt die Nation an den Ball? Bemerkungen
zur identifikatorischen Funktion des Fußballs«, in: Matías Martínez (Hg.):
Warum Fußball? Kulturwissenschaftliche Beschreibungen eines Sports,
Bielefeld: Transcript 2002, S. 103-111.
5 Z. B. Michael Fanizadeh (Hg.): Global Payers – Kultur, Ökonomie und Politik
des Fußballs, Frankfurt a. M.: Brandes und Apsel 2002.
6 Z. B. John Hargreaves: »Globalisaton Theory, Global Sport, and Nations
and Nationalism«, in: John Sugden/Alan Tomlinson (Hg.): Power Games:
A Critical Sociology of Sport, London/New York: Routledge 2002, S. 25-
43.
7 Wolfgang Berens (Hg.): Profifußball und Ökonomie, Hamburg: Kovac
2003.
8 Vgl. hierzu die Beiträge von Hartmut Böhme und Arnd Pollmann in diesem
Band.
9 Eric Dunning: Sport Matters: Sociological Studies of Sport, Violence and
Civilisation, London: Routledge 1999.
10 Vgl. Horst Bredekamp: »Fußball als letztes Gesamtkunstwerk«, in: Herman
L. Gremliza (Hg.), Konkret Sport Extra, Hamburg: Konkret Literatur
Verlag 1982, S. 42-46.
REBEKKA LADEWIG UND ANNETTE VOWINCKEL
8
ist, das von der Sportwissenschaft, der Soziologie und der Ethnologie
über die Geschichts- und Politikwissenschaft bis hin zur Medien-, Literatur-,
Film- und Kulturwissenschaft reicht. Neben sozial-, wirtschafts- und
politikwissenschaftlichen Ansätzen, die die theoretische Auseinandersetzung
mit dem Fußball seit seiner Entstehung in den 1860er Jahren gekennzeichnet
haben, sind dabei zunehmend auch die imaginären und
symbolischen Dimensionen des Fußballs, dessen rituelle, spielerische
und performative Elemente und die damit verbundenen Konzepte von
Körperlichkeit und Medialität ins Zentrum des Interesses gerückt.
Dabei wurde der Fußballsport lange als Kultur zersetzendes Phänomen
bewertet. Der amerikanische Soziologe Thorstein Veblen behauptete
schon 1899, dass eine vom Fußball hervorgebrachte Kultur »in exotischer
Grausamkeit und Verschlagenheit« bestehe.11 Eine Haltung, wie sie
in der Negativdiagnose Veblens zum Ausdruck kommt, hat die wissenschaftliche
Auseinandersetzung mit dem Fußball bis in die 1970er Jahre
bestimmt. Maßgeblich geprägt wurde sie u. a. durch die Kultur- und
Ideologiekritik der Frankfurter Schule, deren Spuren noch in der 1970 erschienenen
Studie Fußballsport als Ideologie von Gerhard Vinnai deutlich
lesbar sind. So sah Vinnai im Fußball den gesamten »kapitalistischen
Produktionsapparat« am Werke, wenn er behauptete, »die Pseudoaktivität
mit dem Lederball kanalisiere die Energien, die das ›Gehäuse der Hörigkeit‹
sprengen könnten.«12 Diese ideologiekritische Haltung wird auch
in dem 2006 verfassten Vorwort zur Wiederveröffentlichung von Fußballsport
als Ideologie nicht zurückgenommen; vielmehr wird sie nun
auch gegen diejenigen Intellektuellen gewendet, die sich selbst für Fußball
begeistern:
»Der Fußballkult ist unserer Gesellschaft zu einer Art Lebensersatz geworden.
Die unter großer Anteilnahme der Bevölkerung zur Fußballweltmeisterschaft
kulturindustriell angeheizte Fußballbegeisterung macht dies besonders sichtbar.
Viele Intellektuelle, die sonst noch halbwegs bei Verstand sind, verspüren heute
den Drang, sich als Fußballfans zu outen, anstatt, wie es ihre Aufgabe wäre,
kritisch über die soziale Rolle des Fußballsports nachzudenken.«13
11 Thorstein Veblen: Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung
der Institutionen, München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1981,
S. 193.
12 Gerhard Vinnai: Fußballsport als Ideologie, Frankfurt a. M.: Europäische
Verlagsanstalt 1970, S. 13.
13 Gerhard Vinnai: Fußballsport als Ideologie. Durchgesehene digitale Wiederveröffentlichung
mit aktuellem Vorwort 2006, http://psydok.sulb.unisaarland.
de/volltexte/2006/809/pdf/Fussballsport_als_Ideologie.pdf vom
12. Mai 2009.
EINLEITUNG
9
Ein solcher Vorwurf unterschlägt nicht nur die Tatsache, dass neben der
sozialen Rolle unterdessen auch die wirtschaftlichen und politischen Zusammenhänge,
die kulturellen Spezifika des Fußballs sowie dessen ästhetische
Dimensionen und technische Regelwerke von vielen Intellektuellen
kritisch analysiert worden sind – und dies in vielen Fällen nicht obwohl,
sondern gerade weil sich diese Intellektuellen selbst durchaus als
Fans bezeichnen würden.14 Er unterstellt darüber hinaus, dass eine kritische
Auseinandersetzung mit dem massenkulturellen Phänomen Fußball
in dem Moment unmöglich wird, da man sich seiner Faszinationskraft
hingibt. Allerdings ist die Hingabe an die Faszination des Fußballs keineswegs
mit einer uneingeschränkten Affirmation aller mit dem Fußball
zusammenhängenden Phänomene gleichzusetzen. Vielmehr stellt die Erfahrung
dieser Faszination – das leidenschaftliche Mitgehen, Mitgerissenwerden
und Sich-mitreißen-Lassen – die entscheidende Grundlage dafür
dar, das Phänomen quasi von innen heraus zu untersuchen und zu
analysieren. Eine solche Perspektive repräsentieren die in diesem Band
versammelten Beiträge, wenn sie danach fragen, worin genau die Faszination
des Fußballs besteht, was das Spezifische an seiner Anziehungskraft
ausmacht und welche Ereignisse diese Faszination informiert haben
und immer aufs Neue aktualisieren.
Dabei ist die Einsicht, dass Fußball doch zu allererst ein Spiel ist, eine
der wesentlichen Prämissen für die kulturwissenschaftliche Untersuchung
des Phänomens.
Auch hier geht es nicht darum, Spiele als symbolische Repräsentationen
einer ›anderen‹, nämlich sozialen, politischen oder ökonomischen
Wirklichkeit zu lesen. Vielmehr steht die Frage im Raum, was das Fußballspiel
als Spiel so attraktiv macht. Ausgangspunkt ist dabei die Beobachtung,
dass der Fußball – wie jedes gute Spiel – von einem Spannungsverhältnis
zwischen regulierenden und normativen Vorgaben in
Form von Spielregeln und den je spezifischen, kontingenten Spielereignissen
lebt. Es gelingt ihm, das Wechselspiel von Planung und Unvorhersehbarkeit,
die Kombination von Regeln und Ausnahmen, kurz: das
Gegeneinander der Kräfte der Ordnung und derjenigen des Chaos darzustellen
und im Ereignis die Erfahrung von Kontingenz in faszinierende
Geschichten zu transformieren. Seine Faszinationskraft bezieht das Spiel
zwar nicht zuletzt aus seiner Analogie zum ›Leben selbst‹, das John Dewey
zufolge vor allem ein Glücksspiel ist (»Man finds himself living in
14 Instruktiv für eine gleichermaßen kritische wie faszinierte Lesart des Fußballs
ist Horst Bredekamps Kurztext »Fußball als letztes Gesamtkunstwerk
« (Anm. 10). Was unter einem »wahren Fußballfan« zu begreifen ist,
legt Arnd Pollmann in seinem Beitrag dar.
REBEKKA LADEWIG UND ANNETTE VOWINCKEL
10
an aleatory world; his existence involves, to put it badly, a gamble«).15
Wie Fußballspiele werden unsere Biografien von Zufällen durchkreuzt;
zuweilen bricht das Unglück ins größte Glück herein und das Prekäre
lauert gerade in alltäglichen Standardsituationen. Gleichwohl ein solcher
Analogieschluss nicht hinreichend, warum überhaupt Bedarf besteht, im
Spiel dem ›anderen‹, vermeintlich ›realeren‹ Leben zu entfliehen – es
wäre zumindest zu erwägen, ob nicht vielleicht das Spiel die Dimension
der Wirklichkeit bildet, in der sich alle anderen ›Realitäten‹ aufheben.
Dies bedeutet jedoch nicht, dass Spiel nicht auch historisch wandelbar
und kulturell bedingt ist. Tatsächlich hat jede Zeit ihre eigene Spielpassion,
in der das Erlebnis von Präsenz und intensivster Lebendigkeit
sein eigenes kulturspezifisches Gepräge findet. Für die Moderne scheint
dies eine Kombination aus strategischen Spielzügen und einem disziplinierten
Spielaufbau, erprobten Standardsituationen, einem feststehenden
Regelwerk und unberechenbaren Pässen, plötzlichen Kontermöglichkeiten,
glücklichen Treffern und taktischen Fouls – kurz: Fußball – zu sein.
Fußball als Spiel steht, so scheint es, in einem mimetischen Verhältnis
zur Welt; zu fragen ist deshalb, wie und nach welchen Programmen sich
dieses Abbildungsverhältnis gestaltet: Ob es sich um eine dichotomische
Trennung von Realität und Simulation, von Sein und Schein, von wahr
und falsch handelt oder ob der Fußball nicht vielmehr diese Realität
selbst konstituiert und reflektiert.
Neben der spielerischen rückt hiermit auch die ästhetische Dimension
des Fußballs ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie ist im Kern gekennzeichnet
durch das völlige Involviertsein in eine Tätigkeit – »to be
lost in focused intensity«, wie Hans-Ulrich Gumbrecht diesen Zustand
beschreibt16 – in Verbindung mit der Faszination, die vom Wahrnehmungsakt
innerhalb dieser Tätigkeit selbst ausgeht. Dieses aus der
Kunstbetrachtung entwickelte Rezeptionsmodell, mit dem John Dewey
seinerzeit explizit gegen die Nutzlosigkeit ästhetischen Wahrnehmens
antrat, stellt – angewendet auf das Fußballereignis – gerade das »Interesse
an unserer Interesselosigkeit« aus.17 Denn während sich die Spielregeln
in den vergangenen hundert Jahren kaum geändert haben, unterlie-
15 John Dewey: »Existence as Precarious and as Stable« (1929), in: Jo Ann
Boydston (Hg.): John Dewey, The Later Works 1925-1953, Bd. 1, Carbondale:
Southern Illinois University Press 1981, S. 55.
16 Hans-Ulrich Gumbrecht: In Praise of Athletic Beauty, Cambridge: Harvard
University Press 2006, S. 51. In der deutschen Übersetzung ist die Rede
von »Versunkenheit in fokussierte Intensität« (Lob des Sports, Frankfurt
a. M.: Suhrkamp 2005, S. 33ff.).
17 Ludwig Giesz, Phänomenologie des Kitsches: Ein Beitrag zur anthropologischen
Ästhetik, o. O. 1960, S. 39.
EINLEITUNG
11
gen Stile, Techniken und Ästhetiken des Fußballs einem stetigen Wandel.
Strategien der (Selbst-)Inszenierung werden auf individueller wie auf
Mannschaftsebene erprobt. Immer wieder werden neue performative
Elemente eingeführt und symbolische Akte wie der Tausch der Trikots
nach Spielende vollzogen. Die Sportler erscheinen so als Darsteller, die
ihre Persönlichkeiten in der physischen und strategischen Leistung,
manchmal auch in Popstaridentitäten offenbaren (David Beckham) bzw.
sich als Schauspieler gerieren.
Von entscheidender Bedeutung ist darüber hinaus der Umstand, dass
die Ästhetik des Fußballs eine Ereignisästhetik und deshalb stark an das
Erlebnis in Echtzeit gebunden ist – sei es im Stadion oder am heimischen
Bildschirm. Niemand wird auf die Idee kommen, das Endspiel einer
Fußballweltmeisterschaft aufzuzeichnen, um es am folgenden Tag anzusehen,
und auch die zusammengeschnittenen Berichte von Bundesligaspielen,
die die Sportschau jeden Samstag neu liefert, sind nur ein
schwacher Ersatz für das Erleben des Spiels live und in Echtzeit. Sie befriedigen
weniger das ästhetische Bedürfnis als den Informationshunger
der Fans, die ungeduldig auf die letzten Ergebnisse und den aktuellen
Tabellenstand warten. Die Ästhetik des Fußballs lebt, mit anderen Worten,
von der Präsenz der Spieler auf dem Spielfeld und der gleichzeitigen
Präsenz der Zuschauer im Stadion oder auch am Bildschirm. Darin unterscheidet
sich Fußball tendenziell von Sportarten wie Eiskunstlauf oder
Turmspringen, während Ähnlichkeiten mit dem Boxsport oder dem Formel
1-Rennen auf der Hand liegen.
Ausgehend von diesen Überlegungen entwickeln die in diesem Band
versammelten Beiträge eine kulturwissenschaftliche Perspektivierung des
Phänomens Fußball, die auf die Körperlichkeit und Räumlichkeit des
Spiels, die Medialität des Spielgeschehens oder die Frage nach den emotionalen
und/oder (pseudo-)religiösen Dimensionen des Fußballs fokussieren.
Aus diesen drei Ansätzen, die im Folgenden vorgestellt werden
sollen, ergibt sich die Struktur des vorliegenden Bandes.
Körper und Raum
Fußball ist ein performativer Akt, der von der physischen Präsenz der
Spieler getragen wird Körper und Körperlichkeit bestimmen auf verschiedenen
Ebenen das Fußballspiel: Auf der Ebene der phänomenal
fassbaren Körperhaftigkeit von Spielern und Fans, auf der Ebene der kulturellen
Techniken und Selbsttechniken des Körpers sowie auf der Ebene
der rituellen und theatralen Inszenierung. Wenn Körper immer schon
zwischen den Dimensionen des Individuellen und des Kollektiven, zwiREBEKKA
LADEWIG UND ANNETTE VOWINCKEL
12
schen Einzel-, Mannschafts- und Massenkörper oszillieren, sind sie doch
gleichzeitig auch Medien der Darstellung und der Wahrnehmung, sowohl
Akteur als auch Gegenstand der Betrachtung.
Die anhaltende Konjunktur des Körperdiskurses (nicht nur) in den
Kulturwissenschaften hat eine Vielfalt theoretischer Konzeptualisierungen
des Körpers hervorgebracht, die auch im Zusammenhang mit dem
Fußballspiel zum Einsatz gekommen sind. So gilt beispielsweise das
sportphilosophische Interesse neben performativitäts- und spieltheoretischen
Ansätzen auch der technologischen Gestaltung des Spielerkörpers,
die in die Tradition moderner Körper- und Disziplinierungstechniken
einzuordnen ist; eine im weitesten Sinne an die Habitus-Theorie Bourdieus
anschließende Analyse des Körperlichen und seiner sozialen Sphären
ist Gegenstand soziologischer Studien; das Interesse der Semiotik
und Linguistik richtet sich vor allem auf den Körper als Ort von Bedeutungs-
und Verweisungszusammenhängen bzw. auf Körpermetaphern,
die im Feld des Fußballs oder auf dem Fußballfeld selbst geprägt werden.
Die Ritualforschung hat unter anderem Zusammenhänge von ›Körper
und Gewalt‹ bearbeitet und gesellschaftliche Machtverhältnisse als physische
Beziehungen im Fußball offen gelegt, während schließlich das
Konzept des (entfremdeten) Körpers als Produkt und Ware, Werbeträger
und kommerzieller Wert, wie es einst in Max Horkheimers und Theodor
Adornos Dialektik der Aufklärung für den Sport entwickelt wurde, ein
vielfach vertretener Ansatz vor allem in der Perspektive der Postcolonial
Studies angloamerikanischer Herkunft ist.
Dieser kursorische und gewiss verallgemeinernde Überblick verdeutlicht
die Problematik, die sich trotz einer zunehmend interdisziplinären
Prägung der Körperdiskurse mit dem Versuch einer Theoretisierung des
Körpers verbindet. Sie liegt weniger in der disziplinären Perspektivierung
selbst als in einer hierin vorgenommenen Dichotomisierung von
Körper und Geist sowie in der binären Konstellierung von Spieler- oder
Fankörper, individuellem oder kollektivem Körper, männlichem oder
weiblichem Körper etc. Auf diese Weise gerät die Spezifität der körperlichen,
ja ästhetischen Erfahrung des Fußballspiels, die sich vor diesen
Unterscheidungen ereignet, allzu leicht aus dem Blick. Einer kulturwissenschaftlichen
Perspektive auf das Themenfeld ›Körper und Fußball‹
geht es folglich darum, jene Dimensionen des Körperlichen zu untersuchen,
die allein die Sphäre des Fußballspiels als physisches und sinnlich
wahrnehmbares Ereignis produziert, um von hier aus die Eigenarten und
Dimensionen der Körpergeschichte(n) des Fußballs neu zu beleuchten.
Neben der Körperlichkeit ist es indes auch die besondere Räumlichkeit
des Fußballs, die im ersten Teil des vorliegenden Sammelbandes zur
Sprache kommt. Tatsächlich scheinen die Stadionatmosphäre, die Holger
EINLEITUNG
13
Brohm in seinem Beitrag eindrücklich beschreibt, sowie Faktoren wie
die Größe des Spielfelds, die dynamische Verteilung der Spieler im
Raum, die Funktion und Bedeutung der verschiedenen Spielzonen, Spielpunkte
und -linien (Strafraum, Tor, Elfmeterpunkt, auch das Abseits als
flexibler Raum) nicht beliebig zu sein, sondern zu der besonderen Popularität
des Fußballs beizutragen. Sie gelten indes nicht als zufällig oder
beliebig, sondern, wie K. Ludwig Pfeiffer argumentiert, als konstituierende
Faktoren des Ereignisses Fußball. Dabei liegt auf der Hand, dass
die Räumlichkeit des Fußballs sowohl Parallelen als auch Unterschiede
zu der Räumlichkeit anderer Bewegungsformen aufweist – eine Beobachtung,
der Gabriele Klein in ihrem Beitrag über ›Fußball als Choreografie‹
nachgeht.
Medialität und Emotionalität
Auch wenn das Geschehen auf dem Rasen von der Unvorhersehbarkeit
des Spiels, von der physischen Präsenz der Spieler und Zuschauer, von
einer performativen Ästhetik und den verschiedenen kulturellen Identitäten
der Akteure geprägt ist, ist evident, dass Fußball in unseren Tagen ein
Medienphänomen ist. Die Fußballweltmeisterschaft 2006 wurde von vier
Milliarden Zuschauern – das sind fast zwei Drittel der Weltbevölkerung
– am Fernsehschirm verfolgt. Aber auch unabhängig von den großen
Meisterschaften hat die Fußballberichterstattung in den vergangenen
Jahrzehnten an Umfang und Vielfalt zugenommen. Das Satellitenfernsehen
stellt in Deutschland zwei Sportkanäle bereit, in denen unter anderem
die Spiele der europäischen Ligen übertragen werden, und internationalen
Begegnungen ist selbst im öffentlich-rechtlichen Fernsehen stets
die beste Sendezeit garantiert. Interviews mit Spielern, Trainern und anderen
Experten gehören ebenso zum Fußballereignis wie die mit medialen
Hilfsmitteln durchgeführten Spielanalysen. In den Printmedien, einerlei
ob Tageszeitungen oder Fachzeitschriften wie Kickers oder Elf
Freunde, ist Fußball Gegenstand der alltäglichen Kommunikation. Darüber
hinaus gibt es zahlreiche Romane, Gedichte, Hörspiele, Kinofilme,
Fotografien, Kunstwerke und Computerspiele, die auf je eigene Weise
das ›eigentliche‹ Spielgeschehen reproduzieren. Es ist insofern nicht
verwunderlich, dass die Medien ihrerseits gewisse Wandlungen in das
Spiel selbst hineingetragen haben. Zeitlupen geben Aufschluss über umstrittene
Spielsituationen, und mit der Aufzeichnung und Simulation von
Bewegungen hat sich auch das Training der Profis verändert. Gleichermaßen
ist die Berichterstattung inzwischen ihrerseits zum Gegenstand
medialer Produktionen geworden – so etwa, wenn die Bilder der FußREBEKKA
LADEWIG UND ANNETTE VOWINCKEL
14
ballweltmeisterschaft von 1954 und die historische Radioübertragung im
Kinofilm Das Wunder von Bern wieder auftauchen.
Die Reflexion über den Themenkomplex »Medialität und Emotionalität
« reduziert sich aber keinesfalls auf technische Übertragungsmedien;
vielmehr steht ein weiter Medienbegriff zur Diskussion, der auch den
Körper und die Bilder dieses Körpers einschließt. Schließlich ist das
Bild, das ein Spieler abgibt (und das nicht zuletzt sein Image formt), ein
Medium der Verkörperung, einerlei, ob es auf der Großleinwand eines
Stadions oder in der Phantasie seiner Fans erscheint. Wenn Hans Belting
konstatiert, der Körperbezug sei in der Bildgeschichte so dominant, dass
man die Erfindung von Bildern quasi mit der Erfindung von Körpervorstellungen
gleichsetzen könne18, dann gilt es hier zu fragen, welche Bedeutung
der Bildhaftigkeit und der Körpergebundenheit des Fußballspiel
beizumessen ist, was beide miteinander verbindet und inwiefern der im
Fußball für die Zuschauer primär sichtbare (nicht hör-, fühl-, riech- oder
schmeckbare) Körper hier selbst zu einem (bildhaften) Medium wird.
Markus Stauff geht auf diese Fragen ein, indem er die Bedeutung der Gesichter
und die Mechanismen der Zuschreibung von Emotionen im Fernsehfußball
untersucht, während Ute Seiderer die Fernsehberichterstattung
über die Fußballweltmeisterschaften von 1954, 2006 und (prognostisch)
2022 in medien- und mentalitätsgeschichtlicher Perspektive vergleicht.
Imagination und Glaube
Während die ersten beiden Teile des vorliegenden Bandes sich mit der
Körperlichkeit und Räumlichkeit sowie der Medialität des Fußballs beschäftigen,
widmen sich die Beiträge des letzten Teils dem Versuch, den
Fußball auch in seinen transzendentalen, metaphysischen, religiösen und
Identität stiftenden Dimensionen zu verstehen.19 Immer wieder ist Fußball
als Ersatzreligion bezeichnet worden. Als Argumente dienen dabei
die im Beitrag von Hartmut Böhme beleuchtete Ritualhaftigkeit des regelmäßigen
Stadionbesuchs, der Sportschaurezeption und des Spielgeschehens,
der Gebrauch von ›Devotionalien‹ wie Fahnen und Fankleidung,
der fetischhafte Einsatz von Maskottchen, aber auch die Fetischisierung
des Fußballs selbst. Es handelt sich also nicht um eine Verschiebung
des Fußballs in das Reich der Metaphysik, sondern eher um eine
18 Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft,
München: Fink 2001, S. 11-57.
19 Vgl. z. B. Klaus Hock: »Religion und Fußball – Ein interkultureller Vergleich
«, in: Gerald Kretzschmar/Jan Peter Grevel (Hg.): Die Religion des
Fußballs (Themenheft), Praktische Theologie 41 (2006) 2, S. 85-90.
EINLEITUNG
15
Erkundung derjenigen Phänomene, mit deren Hilfe sich die metaphysische
Dimension des Fußballs auf die materielle Welt der Erscheinung zurück
beziehen lässt.
Mehr oder weniger unbestritten ist, dass der Fußball in seiner Funktion,
den Alltag zu strukturieren bzw. zu unterbrechen, ihn materiell zu
gestalten oder ihm durch die Praxis des Fan-Seins einen Sinn zu verleihen
eine Reihe von Leerstellen auffüllt, die durch die schwindende Präsenz
von Religion im Alltag überhaupt erst entstehen konnten. Ob es sich
beim Fußball jedoch um eine näher zu definierende Ersatzreligion handelt,
bleibt dabei zunächst offen. Vielmehr wird, wie Arnd Pollmann in
seiner Analyse verschiedener Fan-Typen aufzeigt, die Rezeption des
Fußballs bzw. das Fan-Sein selbst als eine Praxis mit neurotischen, fetischistischen
oder Identität stiftenden Elementen beschrieben, die jeweils
gewisse Überschneidungen mit religiösen Praktiken aufweist.
Hans Hognestad legt in seinem Beitrag dar, dass im Kontext pseudoreligiöser
Fankulturen gerade die lokalen Vereine eine größere Rolle
spielen als die in größeren und unregelmäßigeren Abständen agierenden
Nationalmannschaften, die zudem keine Fangemeinden generieren, sondern
allenfalls ganze Nationen hinter sich vereinen. Gleichwohl werden
gerade bekannte Nationalspieler häufig zu Stars stilisiert, die ähnliche
Funktionen übernehmen wie Heilige. Wenn allerdings eine Kneipe in
Neapel vor der Eingangstür einen kleinen Altar für Diego Maradona installiert,
mit dem der SSC Neapel 1987 sowohl die Meisterschaft als
auch den Pokalsieg errang, kann dies auch als ironische Geste verstanden
werden. Und auch einige Aspekte der Fetischisierung des Spiels selbst
legen zumindest die Vermutung nahe, dass es sich hier um eine popkulturelle
Selbstironisierung handeln könnte. Dessen ungeachtet deutet der
Ernst, mit dem Fußballsfans ihren Verein unterstützen und ihm auch in
schlechten Zeiten die Treue halten, sicherlich darauf hin, dass hier ein
elementares emotionales Bedürfnis befriedigt wird – sei es das Bedürfnis
nach Gemeinschaft und Zugehörigkeit, das Bedürfnis nach kollektiver
Ekstase oder schlicht das Bedürfnis nach ›gefühltem‹ Sinn, der sich aus
der Unterstützung der Mannschaft im Stadion ergibt.
Am Ball der Zeit
Die vorliegenden Texte entstanden im Kontext der internationalen Tagung
Am Ball der Zeit. Die Fußballweltmeisterschaft als Ereignis und
Faszinosum, die anlässlich der Fußballweltmeisterschaft 2006 zwischen
dem letzten Halbfinale und dem Spiel um den dritten Platz vom Kulturwissenschaftlichen
Seminar der Berliner Humboldt-Universität veranstalREBEKKA
LADEWIG UND ANNETTE VOWINCKEL
16
tet wurde. Sie entstanden unter dem unmittelbaren Eindruck eines Ereignisses,
das weit über den Kreis der regelmäßigen Sportschaurezipienten
hinaus eine Begeisterung für den Fußball generiert hat, die es – ungeachtet
aller Evidenz – zu erklären gilt.
Gegenstand des Sammelbandes wie auch der in ihm veröffentlichten
Beiträge ist eine kulturwissenschaftliche Perspektivierung des Fußballs
als Spiel, als Körperpraxis, als künstlerisch-ästhetische Performance, als
Medienereignis und Imaginationsraum. Ein übergreifendes Motiv finden
alle Beiträge in der Frage nach der Faszination des Fußballs, die – zumal
im Zeichen der Weltmeisterschaft im eigenen Land – das Leitmotiv des
Sammelbandes bildet. Worin genau lässt sich diese Faszination ausmachen?
Was ist das Spezifische dieser Faszination? Welche Ereignisse haben
diese Faszination generiert? Was tun wir eigentlich, wenn wir Fußball
spielen oder anderen dabei zusehen? Welche kulturellen Bedeutungen
und Besonderheiten verbinden sich mit dem Fußball? Und warum ist
ausgerechnet Fußball in diesem Ausmaß zum Massen- und Mediensport
geworden?
Die Autoren und Autorinnen des Bandes gehen diesen Fragen in unterschiedlichen
Kontexten, Wissenschaftskulturen und Themenfeldern
und mit unterschiedlichen Ergebnissen nach. Sie alle vereint die Überzeugung,
dass Fußball nicht beliebig, nicht durch andere Spiele oder
Sportarten ersetzbar ist, dass also die Antworten auf die oben genannten
Fragen immer wieder zum Fußball selbst als einer eigentümlichen Kulturleistung
zurückführen. Es geht, mit anderen Worten, darum, den Fußball
nicht als Medienspektakel, als Motor der Konsumindustrie, als Politikum
oder als Opium für das Volk zu umschreiben, sondern ›zum Fußball
selbst‹ zurückzukehren.
Ergänzt werden die Aufsätze und Essays durch zwei Interviews: Das
erste führte Silke Baudendistel während der Tagung Am Ball der Zeit mit
dem ehemaligen Fußballprofi Yves Eigenrauch; das zweite führte Rebekka
Ladewig mit Nina Erfle und Frédérique Veith, den Regisseurinnen
des Dokumentarfilms Fußballgöttinnen, der im Rahmenprogramm der
Tagung gezeigt wurde.
Die Abbildungen in diesem Band stammen aus dem Künstlerbuch
2006 Ballack von Olaf Nicolai, der während der Tagung an einer Podiumsdiskussion
über Das Beste aller Spiele – Fußball als Ereignis und
Faszinosum teilnahm. Bei den Abbildungen handelt es sich um reproduzierte
Presseaufnahmen von Michael Ballack, die Nicolai zwischen Mai
2005 und Mai 2006 gesammelt hat. Die vergrößerten Gesichtsausschnitte
des Fußballstars zeigen ein mimisches Programm, das zwischen medialer
Maskenhaftigkeit und individuellen Portraits oszilliert und das MienenEINLEITUNG
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spiel Ballacks als Spiegel des eigentlichen Spielgeschehens sichtbar
macht.
Dafür, dass die Autoren und Interviewpartner sich auf das Experiment
einer kulturwissenschaftlichen Erschließung des Fußballs eingelassen
haben, möchten wir uns an dieser Stelle herzlich bedanken. Unser
Dank gebührt zudem all denen, die dazu beigetragen haben, dass die Tagung
im Juli 2006 und dieser Sammelband zustande kommen konnten:
Zunächst der Gerda Henkel-Stiftung und der Humboldt-Universitätsgesellschaft
für die großzügige finanzielle Unterstützung, Simone Eisensee
und Yvonne Kult vom Kulturwissenschaftlichen Seminar der Humboldt-
Universität Berlin, unseren studentischen Hilfskräften Silke Baudendistel
und Felix Laubscher für die unermüdliche organisatorische Unterstützung,
zahlreichen ehrenamtlichen Helfern, unter denen stellvertretend
Sarah Genner, Monika Nowak und André Kruschat genannt seien,
Peter Robinson für die fotografische Vorlage des Covermotivs und
schließlich dem Transcript-Verlag für die freundliche Unterstützung bei
der Drucklegung der Beiträge.
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de/volltexte/2006/809/pdf/Fussballsport_als_Ideologie.pdf
vom 13. Mai 2009.