Liebe Leserin, lieber Leser,
Gottfried Kellers Novelle «Romeo und Julia auf dem Dorfe» setzt ein mit dem Bild von drei Ackern: der eine gehört dem Bauern Manz, der andere dem Bauern Marti. Der dritte Acker, dessen Besitzrechte zu Beginn nicht wirklich geklärt sind, liegt seit längerer Zeit brach, verwildert und wird zum Zufluchtsort für die Kinder und ihre Spiele, später zum geheimen Treffpunkt der Liebenden. Diese Brache wird von beiden Bauern zur Linken und zur Rechten Furche um Furche beschnitten, so dass sich in der Mitte die Steine türmen und der Ort verödet. Doch der stillschweigende Übergriff rächt sich, die ausgeräumten Steine rollen zurück: beide Bauern geraten in Streit um das Stück Land und richten ihre eigene Existenz und die ihrer Kinder zugrunde.
Mitten im Prozess der Industrialisierung schafft Keller ein starkes Gleichnis für die Grenzen des ökonomischen Zugriffs auf die Welt: Wenn der Brache, der Wildnis ihr legitimer Ort nicht mehr zugestanden wird, verwildert die menschliche Seele - so könnte man das Gesetz formulieren, das literarisch entfaltet wird.
Der Zivilisationsprozess lässt sich als Eroberungsgeschichte lesen, als fortschreitende Zurückdrängung der Wildnis. Erzählungen wie Franz Hohlers «Rückeroberung» verweisen darauf, dass dabei etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist und lassen eine mögliche Wiederkehr des Verdrängten erahnen. Wir können uns unterschiedlich dazu verhalten: entweder indem wir aktiv der Natur und ihren Kräften den Respekt entgegenbringen, der ihr zusteht - oder indem wir uns durch eine entfesselte Natur wieder an die Grosse ihrer Dimensionen erinnern lassen.
Marie-Louise von Franz weist darauf hin, dass in gewissen Gegenden Indonesiens jedes Jahr die Reisfelder in einer Prozession begleitet von der feierlichen Rezitation des Schöpfungsmythos umschritten werden. Es entzieht sich unserem Ermessen - so von Franz - was diese Prozession mit den Feldern tut; sicher aber tut sie etwas mit den beteiligten Menschen. Sie erinnert sie an ihre Stellung in einem unendlich grösseren, ihre Welt begrenzenden Universum. Dies ist auch eine pädagogische Aufgabe. Das vorliegende Heft will einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass sich Kinder mit dem Schöpfergeist verbinden können, dem sie und alles Leben um sie herum ihre Existenz verdanken - damit die menschliche Seele nicht verwildert.
Michael Zangger
Inhaltsverzeichnis
RÜCKEROBERUNGEN-ZUGÄNGE ZUR SCHÖPFUNG
»» Zum Thema
Otto Schärli
Der Sinn der Schule ist die Schulung der Sinne 3
VS/KG/US Sarah Thurnheer-Keller
Naturpädagogik 10
»» Unterrichtsbeiträge
MS Prisca Senn
Über die Erde sollst du barfuss gehen 13
MS/OS Franz Hohler
«Was no nid dur di ghüsleti Walt duren isch» 17
OS Andreas Hohn
Und nährt seinen Leib, indem er ihn verzehrt 23
MS/OS Andreas Kessler
Respekt vor dem Hang 27
»» Religion und Kultur
MS/OS Cornelia Vogelsanger
Die grosse Welle 30
Medienseite 33