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Peter Urban: Genauigkeit und Kürze Ansichten zur russischen Literatur
Peter Urban: Genauigkeit und Kürze
Ansichten zur russischen Literatur



Diogenes Verlag
EAN: 9783257065121 (ISBN: 3-257-06512-4)
554 Seiten, hardcover, 12 x 19cm, 2006

EUR 24,90
alle Angaben ohne Gewähr

Rezension
Russische Literatur fristet an deutschen Schulen noch immer ein Schattendasein. Nur wer als Schüler Russisch als Fremdsprache wählt oder einen Literaturkurs besucht, wird im Gymnasium die Werke von Aleksandr Puskin, Nikolaj Gogol, Ivan Turgenev oder Anton Cechov näher kennenlernen. Einen sehr guten Einblick in die Vielfalt russischer Literatur gibt die Zusammenstellung von Texten des bekannten Cechov-Übersetzers Peter Urban, die - herausgegeben von Daniel Keel und Winfried Stephan - im Diogenes-Verlag 2006 unter dem Titel „Genauigkeit und Kürze“ erschien. Der Titel dieser Sammelbandes ist ein Zitat, das aus Puskins literaturtheoretischem Fragment „Über Prosa“ entstammt (zit. n. Urban, S. 10). Diese Formel wurde aber auch zum Leitmotiv der Prosa Cechovs, wie der Brief des Arztes an seinen Bruder vom Mai 1886 belegt. Dort verlangt er von einem Schriftsteller: „2) absolute Objektivität; 3) Wahrhaftigkeit in der Beschreibung der handelnden Personen und Gegenstände; 4) äußerste Kürze“ (zit. n. Urban, S. 193).
In dem Sammelband mit Texten Urbans wurden primär von ihm verfasste Vor- und Nachworte zu Übersetzungen russischer Werke in das Deutsche, editorische Notizen und von ihm in Zeitschriften publizierte Aufsätze aufgenommen. Die umfangreichste Würdigung erfahren von Urban Puskin, Turgenev und Cechov. Der Band enthält aber auch Texte Urbans zur russischen Literatur des 20. Jahrhunderts wie Vladimir Kazakov. So ergibt sich eine essayistische Literaturgeschichte der russischen Prosa von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Dabei zeigt Urban Verbindungslinien zwischen einzelnen Literaten auf; so ist Puskins Geschichte „Das einsame Häuschen auf der Basilius-Insel“ (1829) literarisches Vorbild für Cechovs Reisebericht über die „Insel Sachalin“. Urban überträgt seine Erkenntnis auf die gesamte russische Literatur: „Puskins Prosa enthält faktisch alle erzählerischen Verfahren bereit, die sich Generationen russischer Schriftsteller später zunnutze gemacht haben.“ (S. 18)
Auch das Leben und Werk von Cechov wird durch die Texte Urbans erst erschlossen. Als „Generalnenner“ des Cechovschen Oeuvres identifiziert der Übersetzer in seinem Text zu einer der bekanntesten Erzählungen „Die Dame mit dem Hündchen“ (1899) das Aufzeigen der „Lüge als Lebensform“ (S. 194). Der gegenüber Cechov schon Ende des 19. Jahrhunderts in der russischen Presse erhobene Vorwurf des Indifferentismus erweist sich somit als nicht haltbar (vgl. S. 208). Anhand einer Analyse von „Bleistiftanmerkungen“ Cechovs zu seiner Ausgabe von Marc Aurels „Selbstbetrachtungen“ gelingt es Urban zudem nachzuweisen, dass der römische Philosoph, „das Denken und philosophische Weltbild Cechovs wie kein anderer geprägt und [...] sein Handeln als Schriftsteller, als Mensch und als Person des öffentlichen Interesses beeinflußt hat wie niemand sonst.“ (S. 246) Urban demonstriert zudem, dass die „Lebensfragen“ des Mediziners Pirogov eine Vorlage für Cechovs „Langweilige Geschichte“ (1889) bildeten (S. 269). Besondere Erwähnung verdient Urbans erstmals in dem Sammelband veröffentlichter Aufsatz „Wie Cechovs Sätze gemacht sind“, in dem der vielfach preisgekrönte Übersetzer einen konkreten Einblick in seine eigene Übersetzungstätigkeit gibt. Philologisch präzise elaboriert Urban die einzelnen Stilelemente Cechovs. Urbans Essays unterstreichen, dass Vor- und Nachworte sowie editorische Notizen kein bloßen Addita einer Übersetzung sind, sondern konstituierende Bestandteile zum Verständnis der Schriften. Die Texte von Urban sind, obwohl sie als Beiträge zur Slawistik angesehen werden können, gut verständlich, da sie ohne literaturwissenschaftliches Fachvokabular auskommen.
Der bei „Diogenes“ erschienene fast 600seitige Band von „Ansichten“ Urbans zur russischen Literatur kann jedem Russischlehrer nur zur Lektüre empfohlen werden. Auch wer nicht der russischen Sprache mächtig ist, wird durch das Buch angeregt, sich näher mit den Schriften russischer Schriftsteller auseinander zu setzen.

Dr. Marcel Remme, für lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Mehr als 70 Titel umfaßt die Bibliographie der von Peter Urban übersetzten Bücher aus verschiedenen slawischen Sprachen, vor allem aus dem Russischen. Mit seinen Übersetzungen hat Peter Urban etwas geschaffen, was es vorher so nicht gab: Erst heute können wir z.B. Puskin und Cechov auf deutsch so lesen, wie sie russisch geschrieben haben – genau und kurz, und dabei wird die innere Logik der Urtexte, die ganze Struktur bewahrt. Das Übersetzen ist aber nur ein Teil der Arbeit Urbans: Er kommentiert den Text, gibt Auskunft über Autor und Werk, stellt den zeit- und geistesgeschichtlichen Zusammenhang her, als Essayist erschließt er Werk und Autor neu – meist erstmals richtig. In der vorliegenden Sammlung erscheinen diese bisher verstreut beim jeweiligen Autor resp. Werk zugänglichen Notate nebeneinander – und erreichen damit eine neue, weitere Qualität und Wirkung. Nicht nur erfährt der Leser Wissenswertes zum jeweiligen Gegenstand – er erfährt viel mehr: neue Einsichten in die Werke der Großen der russischen Literatur. Da werden Zusammenhänge, Vernetzungen, Verknüpfungen sichtbar, oder wie es Norbert Wehr in seiner Laudatio anläßlich der Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung an Peter Urban im März 2000 formuliert hat: Der Leser entdeckt, »wie in diesem literarischen Kosmos alles mit allem, wie in einem kommunizierenden Röhrensystem, in wunderbarer Weise zusammenhängt, Cechov mit Puskin, Babel mit Cechov, Charms mit Chlebnikov undsoweiter undsoweiter«. 1973 erschien im Diogenes Verlag Peter Urbans Übersetzung von Cechovs Kirschgarten – der Schritt von Tschechow zu Cechov im deutschsprachigen Raum. Diese 36 Essays zur russischen Literatur erscheinen zum 65. Geburtstag von Peter Urban am 16. Juli 2006. Ergänzt wird die Sammlung mit der Erstveröffentlichung des Essays: Wie baut Cechov seine Sätze.

Inhaltsverzeichnis
Inhalt


Anstelle eines Vorworts. Aleksandr Puskin: Über Prosa 9

I
Genauigkeit und Kürze. Alexandr Puskins Erzählungen 13
Die Geschichte des Dorfes Gorjuchino 42
Das einsame Haus auf der Basilius-Insel 49
Die Hauptmannstochter. Puskins historische Romane 55
Puskins Reise nach Arzrum 79
Wehe dem Verstand. Aleksandr Griboedov 85
Ewig der Ihre. Gogols Petersburger Jahre 96
Die Nase. Eine Petersburger Novelle 99
Zwei Prinzessinnen. Der Erzähler Fürst Vladimir Odoevskij 114
Schock schwere Not. Ein früher Ivan Goncarov 120

II
Ein Monat auf dem Lande. Ivan Turgenev als Dramatiker 127
Aufzeichnungen eines Jägers. Der Erzähler Turgenev 141
Rätselspiele - Jeux d'esprit 162
Lieber Freund. Ivan Turgenevs Briefwechsel mit Gustave Flaubert 166
Werther Herr. Turgenevs deutscher Briefwechsel 171
Die Dame mit dem Hündchen. Anton Cechovs Erzählungen 191
"Ein Baron mehr oder weniger ...". Das Duell bei Cechov 199
In Moskau. Cechov als Journalist 218
Trigorin und Cechov. Die Notizbücher 225
Wie soll man leben ? Anton Cechov liest Marc Aurel 243
Lebensfragen. Cechov und der Mediziner Nikolaj Pirogov 268
Ivan Bunin, Cechov 281
Wie Cechovs Sätze gemacht sind 291
Ideale und Wirklichkeit. Eine Literaturgeschichte des Anarchisten Fürst Petr Kropotkin 320
Fehler des Todes. Russische Absurde aus zwei Jahrhunderten 336

III
Lieder der Stadt. Die Lyrikerin Elena Guro 351
Dichtungen russischer Maler 354
Sitzt Velimir. Er lebt. Der Dichter Velimir Chlebnikov 358
"Wie wir die Freiheit bringen - schrecklich." Isaak Babels Tagebuch 1920 426
Die Reiterarmee 449
Im Gourvernement S. Der Erzähler L. Dobycin 481
Der schwierige Umgang mit dem Erbe. Charms und die Gruppe Oberriu 503
Unterbrechen Sie mich nicht. Ich schweige. Vladimir Kazakov 525
Moskau - Petuski. Venedikt Erofeevs grandioses Erzählgedicht 531
"Detektivische Obsession" - Der "Aufklärer und Vermittler". Peter Urban. Eine Laudatio von Norbert Wehr 541
Editorische Notiz 548
Nachweis 551