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Lernen verstehen
Bedingungen erfolgreichen Lernens
Aus dem Dänischen übersetzt von Elisabeth Bense
Knud Illeris
Verlag Julius Klinkhardt
EAN: 9783781517639 (ISBN: 3-7815-1763-2)
268 Seiten, paperback, 15 x 21cm, 2010
EUR 19,90 alle Angaben ohne Gewähr
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Umschlagtext
Lebenslanges Lernen ist für den individuellen Erfolg und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in der heutigen Zeit unverzichtbar.
Umso wichtiger ist die wissenschaftliche Erforschung der Bedingungen erfolgreichen Lernens.
Der Autor bietet hierfür eine umfassende interdisziplinäre Einführung in den aktuellen Stand der Lerntheorie, auf deren Basis er ein neues und ganzheitliches Verständnis des Lernens entwickelt. Experten wie Neueinsteiger ins Thema erhalten so einen fundierten Einblick in Lernprozesse und Lernformen in allen möglichen Facetten und Ausprägungen.
Der Autor
Knud Illeris ist Professor für Lebenslanges Lernen an der Universität Arhus, Honorarprofessor an der Columbia-Universität in New York und Mitglied der International Adult and Continuing Education Hall of Farne. Von Knud Illeris liegt eine Vielzahl von international beachteten Publikationen zu den Themen Lerntheorie, Schul- und Erwachsenenbildung sowie Lebenslanges Lernen vor.
Rezension
Dieses aus dem Dänischen übersetzte Buch des Professors für Lebenslanges Lernen an der Universität Aarhus bietet eine umfassende interdisziplinäre Einführung in den aktuellen Stand der Lerntheorie. Angesichts der zunehmenden Notwendigkeit lebenslangen Lernens wird auch für die Erwachsenenbildung eine theoretische Fundierung lebenslangen Lernens immer wichtiger. Das Buch hat den Charakter eines Lehr- und Sachbuches, das alle Teilgebiete behandelt, die für das Verständnis dafür, was Lernen ist und wie Lernen und Nicht-Lernen stattfinden, von wesentlichem Interesse sind. Der erste Teil der Darstellung befasst sich mit der Definition des Lernbegriffs, im zweiten Teil geht es um die Art und Struktur des Lernens, der dritte Teil ist den wichtigsten Barrieren gegen das Lernen gewidmet, im vierten Teil schließlich werden verschiedene Aspekte und Bereiche behandelt, die zu den wichtigsten Bedingungen gehören, die den Verlauf, die Art und die Ergebnisse des Lernprozesses bestimmen.
Oliver Neumann, lehrerbibliothek.de
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 9
1 Einleitung 11
1.1 Was ist Lernen? 11
1.2 Wie defi niert man Lernen? 12
1.3 Der Aufbau des Buches 14
1.4 Zusammenfassung 15
2 Grundlagen des Lernverständnisses 16
2.1 Die verschiedenen Quellen des Lernverständnisses 16
2.2 Lernen und Psychologie 17
2.3 Lernen, Biologie und Körperlichkeit 19
2.4 Lernen und Gehirnfunktionen 22
2.5 Unbewusstes Lernen und stilles Wissen 27
2.6 Lernen und Gesellschaft 30
2.7 Zusammenfassung 31
3 Prozesse und Dimensionen des Lernens 33
3.1 Die Prozesse der Interaktion und Aneignung 33
3.2 Die drei Dimensionen des Lernens 36
3.3 Zusammenfassung 40
4 Verschiedene Lerntypen 42
4.1 Lerntypologien 42
4.2 Die Auffassung des Lernens bei Piaget 46
4.3 Kumulatives Lernen 50
4.4 Assimilatives Lernen 51
4.5 Akkommodatives Lernen 52
4.6 Transformatives Lernen 55
4.7 Zusammenhänge und Transfermöglichkeiten 58
4.8 Zusammenfassung 60
5 Die Inhaltsdimension des Lernens 61
5.1 Verschiedene Arten von Lerninhalt 61
5.2 Kolbs Lernzyklus 62
5.3 Von der Tätigkeitstheorie zur Kulturpsychologie 66
5.4 Erwachsenenbildung, Transformation und kritisches Denken 71
5.5 Reflexion und Meta-Lernen 74
5.6 Reflexivität und Biographizität: das Selbst als Lerninhalt 78
5.7 Zusammenfassung 82
6 Die Antriebsdimension des Lernens 84
6.1 Das geteilte Ganze 84
6.2 Die Triebauffassung bei Freud 85
6.3 Inhaltsstrukturen und Antriebsmuster 87
6.4 Emotionale Intelligenz 91
6.5 Emotionen, Motivation und Wille 93
6.6 Motivation durch Störungen und Uneinigkeit 96
6.7 Motivationsprobleme in der heutigen Gesellschaft 98
6.8 Zusammenfassung 100
7 Die Interaktionsdimension des Lernens 102
7.1 Situiertes Lernen 102
7.2 Formen der Interaktion 105
7.3 Die soziale Verankerung des Lernens 107
7.4 Kritische Theorie und Sozialisation 109
7.5 Das Erbe der kulturhistorischen Tradition 112
7.6 Praxisgemeinschaften 114
7.7 Politisch orientierte Ansätze 117
7.8 Sozialkonstruktivismus und Postmoderne 120
7.9 Kollektives Lernen, kollaboratives Lernen und Massenpsychologie 123
7.10 Zusammenfassung 126
8 Ganzheitliches Lernen 128
8.1 Lernen und Erfahrung 128
8.2 Persönliche Entwicklung 133
8.3 Entwicklung von Kompetenz 135
8.4 Lernen und Identität 137
8.5 Ganzheitsorientierte Lerntheorien 144
8.6 Lernmodelle und Lernprozesse 147
8.7 Zusammenfassung 154
9 Lernbarrieren 156
9.1 Wenn Lernen nicht wie beabsichtigt stattfindet 156
9.2 Fehllernen 157
9.3 Abwehr gegen Lernen 158
9.4 Ambivalenz 166
9.5 Widerstand gegen Lernen 169
9.6 Zusammenfassung 174
10 Lernen, Veranlagungen und Voraussetzungen 175
10.1 Vererbung, Umwelt und Veranlagungen 175
10.2 Intelligenz, Fähigkeiten und Begabung 178
10.3 Lernstil 182
10.4 Lernen und Geschlecht 186
10.5 Soziales Erbe und Ethnizität 193
10.6 Zusammenfassung 195
11 Lernen und Lebensverlauf 196
11.1 Alterspsychologie 196
11.2 Kinder wollen die Welt erobern 198
11.3 Junge Leute suchen sich selbst 200
11.4 Erwachsene leben ihr Leben 203
11.5 Reife Erwachsene streben nach Sinn und Harmonie 208
11.6 Lernen in verschiedenen Lebensaltern 210
11.7 Zusammenfassung 211
12 Lernen in unterschiedlichen Lernräumen 213
12.1 Lernräume 213
12.2 Alltagslernen 213
12.3 Lernen in Schule und Ausbildung 215
12.4 Lernen am Arbeitsplatz 219
12.5 E-Lernen 224
12.6 Freizeitinteressen und Graswurzelarbeit 226
12.7 Lernen in mehreren Lernräumen 227
12.8 Zusammenfassung 229
13 Lernen, Bildung und Gesellschaft 231
13.1 Vier Missverständnisse 231
13.2 Teilnahme an organisiertem Lernen 235
13.3 Lernen und Didaktik 238
13.4 Lerninhalte und Aktivitätsformen 240
13.5 Lernen, Steuerung und Mitbestimmung 242
13.6 Inhalt, Steuerung, Erkenntnisformen und Arbeitsmuster 244
13.7 Lernen und aktuelle Ausbildungspolitik 246
13.8 Zusammenfassung 250
14 Überblick 251
14.1 Resümee der entwickelten Lerntheorie 251
14.2 Lerntheoretische Positionen 254
14.3 Perspektiven 258
Literatur 260
Abbildungen 268
Vorwort
Dieses Buch ist eine geringfügig veränderte deutsche Übersetzung des dänischen
Originaltextes, der erstmals 2006 erschien.1 Das Buch gibt es mittlerweile auch in
englischer, chinesischer, polnischer und schwedischer Übersetzung. Die englische
Ausgabe wurde um 50 Seiten erweitert und könnte daher auch für deutsche Leser,
die sich noch intensiver mit dem Inhalt und den Perspektiven des Buches befassen
möchten, von Interesse sein.
Dieses Buch zu schreiben bedeutete für mich eine große Herausforderung, gleichzeitig
aber auch eine große Befriedigung. Wenn man einerseits die Ergebnisse von
vierzig Jahren Arbeit als Forscher, Theoretiker, Autor und Diskutant im Bereich
von Lernen und Unterricht darstellen will, andererseits aber auch ein Produkt
anstrebt, das sich an eine möglichst breite Leserschaft wendet und in Kontexten
des Lernens anwendbar und herausfordernd ist, dann ergeben sich daraus ganz
spezielle Bedingungen.
Meine Intention war es, ein Buch zu schreiben, welches in fachlicher Hinsicht
so umfassend wie möglich ist, inhaltlich auf der Höhe der neuesten Entwicklungen
steht und gleichzeitig gut lesbar und fruchtbar für einen breiten Leserkreis
sein soll, der von Gymnasiasten über Studierende und künftige Lehrer auf allen
Ebenen bis hin zu Fachleuten aus Psychologie, Pädagogik und vielen anderen
Disziplinen reicht.
Genau genommen ging das Buch aus einer Revision meines Buches über Lernen
von 1999 hervor (englische Ausgabe: The Three Dimensions of Learning). Es
bezieht aber auch eine Reihe neuer Themen ein und wurde gänzlich neu strukturiert.
Aus meiner Sicht war das „alte“ Buch eine Art Entdeckungsreise, bei der ich
versuchte, ein großes, kompliziertes Gebiet zusammenhängend zu erforschen und
bei der ich anfangs selbst nicht genau wusste, was dabei herauskommen würde.
Das neue Buch dagegen ist eher der Versuch, die Essenz aus sieben Jahren weiterer
Forschung und unzähligen Diskussionen an vielen Orten der Welt in einer gut
strukturierten, übersichtlichen, verständlichen und engagierten Weise weiterzugeben.
Das Buch hat somit den Charakter eines Lehr- oder auch Sachbuches, das alle
Teilgebiete behandelt, die für das Verständnis dafür, was Lernen ist und wie Lernen
und Nicht-Lernen stattfinden, von wesentlichem Interesse sind. Aber es ist
ebenso ein Stück Forschungsarbeit, insofern als es nicht nur bereits zugängliche
Texte behandelt, sondern auch neue Inhalte, neue Erkenntnisse und neue Sicht-
1 Im Interesse der besseren Lesbarkeit wurde auf eine geschlechtsspezifische Ausgestaltung des Textes verzichtet. Begriffe, die Informationen zum sozialen Geschlecht enthalten, adressieren Frauen und Männer.
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weisen hinzufügt. Vor allem geht es darum, das Gebiet auf der Grundlage einer
Ganzheitsauffassung zu schildern, wie sie bislang noch nicht vorgestellt worden
ist und die sehr viel umfassender und nuancierter ist als die im Buch von 1999
entworfene.
Ich bin allen Studierenden, Lehrern, Forschern und vielen anderen, mit denen ich
mich bei Diskussionen, Vorträgen, per Brief, Telefon oder E-Mail über alle möglichen
Aspekte des Lernens ausgetauscht habe, zu großem Dank verpfl ichtet. Ganz
besonders natürlich meinen Kollegen an der Universität Roskilde, am „Learning
Lab Denmark“ (LLD) und an der Pädagogischen Universität Dänemarks. Hervorheben
möchte ich die sehr wichtige Unterstützung und Inspiration, die ich
von vielen ausländischen Wissenschaftlern erhalten habe, mit denen ich in den
letzten Jahren über das Lernen diskutiert habe. Vor allem seien genannt: Peter Alheit
(Göttingen), Ari Antikainen (Joensuu), Chris Argyris (Harvard), David Boud
(Sydney), Ralph Brockett (Tennessee), Stephen Brookfi eld (Minneapolis), Per-
Erik Ellström (Linköping), Yrjö Engeström (Helsinki), Phil Hodkinson (Leeds),
Peter Jarvis (Surrey), Michael Law (Hamilton, Neuseeland), Thomas Leithäuser
(Bremen), Victoria Marsick (New York), Sheran Merriam (Georgia), Jack Mezirow
(New York), Wim Nijhof (Twente), Kjell Rubenson (Vancouver), Joyce
Stalker (Hamilton, Neuseeland), Robin Usher (Melbourne), Ruud van der Veen
(New York), Etienne Wenger (Kalifornien) und Danny Wildemeersch (Leuven)
– die meisten von ihnen sind im Literaturverzeichnis des Buches erwähnt. Außerdem
wurde mein Ansatz in einer Arbeitsgruppe auf einem Seminar am Deutschen
Institut für Erwachsenenbildung – Leibniz-Zentrum für Lebenslanges Lernen
(DIE) diskutiert.
Was die konkrete Ausarbeitung und Darstellungsweise des Buches angeht, möchte
ich vor allem dem Direktor des damaligen LLD, Hans Siggard Jensen, danken,
der für Arbeitsbedingungen sorgte, die es mir erlaubten, das Buch im Laufe der
Jahre 2005 und 2006 zu schreiben. In diesem Zusammenhang gilt mein Dank
auch Henrik Nitschke vom LLD und Thomas Bestle vom Universitätsverlag Roskilde,
der sich mit viel Enthusiasmus für das Herausbringen des Buches eingesetzt
hat. Ebenfalls danke ich Thomas Vollmer vom DIE, der die deutsche Ausgabe
betreut hat.
Schließlich gilt mein besonderer Dank meiner langjährigen Partnerin Birgitte Simonsen,
mit der ich seit über 30 Jahren zusammenarbeite und stets alle fachlichen
Inhalte und Fragen diskutieren konnte. Sie hat natürlich auch das Manuskript
dieses Buches gelesen und mir wichtige Ratschläge gegeben.
Ich danke auch Elisabeth Bense, die das Buch ins Deutsche übersetzt hat.
Ich wünsche meinen Lesern eine vergnügliche und ertragreiche Lektüre!
Januar 2010 Knud Illeris
Illeris, Lernen verstehen
ISBN 978-3-7815-1763-9
VERLAG JULIUS KLINKHARDT, BAD HEILBRUNN 2010
1 Einleitung
1.1 Was ist Lernen?
Das Wort „Lernen“ lässt die meisten zunächst an ihre Schulzeit denken. Die Schule
ist die grundlegende Institution, die den Lernprozess der Bürger sichern soll,
der für das Funktionieren und die Weiterentwicklung der Gesellschaft notwendig
ist. Die allermeisten Jugendlichen und Erwachsenen in unserem Teil der Welt
haben mehr als 10.000 Stunden ihres Lebens in der Schule verbracht – manche
sogar noch viel mehr. Dies hat unser Aufwachsen entscheidend geprägt. Die Lernsituation,
an welche die meisten denken, ist daher der gewöhnliche Unterricht in
einem Klassenzimmer.
Ein Beispiel: Wir befinden uns in einer Mathematikstunde in der Grundschule.
Die Kinder sollen dividieren lernen. Die Lehrerin steht an der Tafel und erklärt,
wie man das macht. Sie schreibt ein Beispiel an die Tafel und demonstriert, wie
die Aufgabe zu lösen ist. Von Zeit zu Zeit kann die Unterrichtsform auch gruppenorientierter
sein, dann sitzen die Kinder zusammen und helfen einander beim
Lösen der Aufgabe. Oder sie rufen die Lehrerin, wenn sie Hilfe brauchen. In
beiden Fällen nehmen die Kinder aktiv teil, so wird es von ihnen erwartet. Sie
verstehen, worum es geht und merken sich, was sie tun sollen. Einige begreifen
es sofort, anderen dagegen muss man die Sache mehrmals erklären, bevor sie es
wirklich verstehen.
Aber es gibt auch Kinder, die grundlegende Verständnisprobleme haben. Manche
können sich nur schwer konzentrieren. Vielleicht empfi nden sie das, was sie da
lernen sollen, als zu abstrakt oder langweilig. Möglicherweise sehen sie auch nicht
ein, wozu sie den Lernstoff gebrauchen könnten. Sie denken also an andere Dinge,
die ihnen näher liegen oder wichtiger sind. Es mag auch Kinder geben, denen
das Verstehen trotz aller Anstrengung schwerfällt. Vielleicht hatten sie schon das
Multiplizieren nicht richtig gelernt und haben deshalb nun auch Probleme mit
komplizierteren Gleichungen. Oder sie haben ein noch grundlegenderes Problem
im Umgang mit Zahlen und würden daher eigentlich eine Art Spezialunterricht
benötigen.
Es ist eine allseits bekannte und alte Schulerfahrung, dass nicht alle alles vorstellungsgemäß
lernen und dass viele vieles von dem Gelernten recht schnell wieder
vergessen. Auch wenn man nicht abstreiten kann, dass in der Schule gelernt wird
und auch einiges hängenbleibt, so ist doch klar, dass Unterricht und Lernerfolg
nicht automatisch zusammenfallen. Später, beispielsweise beim Prozentrechnen,
steigt die Zahl derer, die Probleme haben. Und beim Differenzial- und Integral-
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rechnen wird es für viele noch schwerer. In derartigen Situationen werden Kinder,
denen der Schulbesuch ohnehin eher schwerfällt, lernen, dass sie für das Lernen
in der Schule nicht geeignet sind. Für einen großen Teil der Kinder ist es eine
wesentliche Erfahrung ihrer Schulzeit, gerade in Mathematik schlecht zu sein.
Aber viele Kinder, die in der Schule gut sind, stärken ihr Selbstvertrauen und
bekommen Lust, noch mehr zu lernen.
Schon lange bevor Kinder in die Schule kommen, lernen sie eine Menge wichtige
Dinge, zum Beispiel eine oder manchmal sogar mehrere Sprachen. Sie wissen auch
schon viel über die sozialen Verhältnisse, in denen sie leben. Ihre ganze Schulzeit
hindurch lernen sie nebenher, beim Spielen mit anderen oder durch sonstige Aktivitäten.
Wir lernen ja unser ganzes Leben hindurch. Aber ein Teil dessen, was
wir lernen, kann falsch oder unpraktisch sein. Es mag auf Selbstverteidigung oder
Blockierungen beruhen. Ebenso kann es sich um Strategien zur Vermeidung von
Niederlagen oder von unangenehmen Situationen handeln.
Diese wenigen und kurzen Beispiele und Überlegungen sollten zeigen, dass Lernen
viele und sehr verschiedene Prozesse umfasst. Lernen kann sich positiv oder
negativ gestalten, aber es hat für jeden Einzelnen immer eine ganz bestimmte
Zielrichtung, die sich daraus ergibt, wie er sein Leben und dessen Anforderungen
meistern will. Beim Lernen handelt es sich also um ein umfassendes und sehr
kompliziertes Thema, das ich in dem vorliegenden Buch in seiner ganzen Komplexität
umreißen, analysieren, beschreiben und systematisieren will – anstatt es
zu reduzieren, so wie es einige Lerntheoretiker beim Beschreiben der einen oder
anderen wichtigen Unterrichtsform oder eines Lernprozesses getan haben (Madsen
1966).
1.2 Wie definiert man Lernen?
Das Wort „Lernen“ wird in vielen und recht unterschiedlichen Bedeutungen verwendet.
Ganz grob lassen sich vier verschiedene Hauptbedeutungen unterscheiden,
die beim nicht-speziellen Gebrauch des Wortes in der Alltagssprache ausgedrückt
werden:
• Erstens kann sich das Wort „Lernen“ auf die Ergebnisse der Lernprozesse, die
jemand durchlaufen hat, beziehen. Mit „Lernen“ bezeichnet man somit die
Änderung im Wissen, die stattgefunden hat. Es bezeichnet also das Gelernte.
• Zweitens kann das Wort „Lernen“ auf die psychischen Prozesse hinweisen, die
sich in dem lernenden Individuum abspielen und die zu den unter Punkt 1
genannten Veränderungen oder Ergebnissen hinführen können. Wir sprechen
hier von „Lernprozessen“. Es sind genau diese Prozesse, mit denen sich
die traditionelle Lernpsychologie oder die Psychologie von Lernprozessen
vorrangig beschäftigt hat.
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• Drittens können die Wörter „Lernen“ und „Lernprozesse“ auch auf den Interaktionsprozess
zwischen dem Individuum und seiner materiellen und sozialen
Umgebung verweisen, die direkt oder indirekt eine Voraussetzung für die
inneren Lernprozesse sind, die wir unter Punkt 2 genannt haben und die zu
Lernen in der Bedeutung von Punkt 1 führen.
• Schließlich werden die Wörter „Lernen“ und „Lernprozesse“ sowohl in der
Alltagssprache wie auch in der Fachsprache häufi g im Sinne von Unterricht
gebraucht, wobei man sich der ebenso verbreiteten wie kurzschlüssigen
Gleichsetzung von Unterrichtsinhalt und Lerninhalt bedient.
Während die Gebrauchsweise der Wörter „Lernen“ und „Lernprozesse“ also nicht
gerade zweckmäßig ist, sind die drei zuerst genannten Bedeutungen berechtigt
und sinnvoll. Aber es ist natürlich unpraktisch, wenn ein und dasselbe Wort in
unterschiedlichen Bedeutungen verwendet wird und dabei häufi g unklar ist, um
welche Bedeutung es sich gerade handelt. Das hängt jedoch mit der Tatsache zusammen,
dass die Faktoren, auf welche die drei Bedeutungen hinweisen, sich zwar
analytisch, aber nicht in der Praxis voneinander trennen lassen.
Daher möchte ich nun anfangs Lernen defi nieren als jeden Prozess, der bei lebenden
Organismen zu einer beständigen Veränderung ihrer Kapazitäten führt, der aber nicht
allein dem Vergessen, der biologischen Reife oder dem Alterungsprozess geschuldet ist.
Diese Defi nition ist absichtlich sehr weit und offen gewählt. Ausdrücke wie „jeder
Prozess“, „lebende Organismen“ oder „beständige Veränderung“ sollen helfen,
unnötige Einschränkungen zu vermeiden. Entscheidend ist, dass Lernen eine Veränderung
beinhaltet, die mehr oder weniger bleibend ist und bis zu dem Punkt
anhält, an dem entweder neues Lernen stattfi ndet oder Gelerntes vergessen wird,
weil der Organismus das Gelernte nicht länger braucht. Wichtig ist auch, dass es
sich bei der Veränderung nicht bloß um einen Reifungsprozess von einem dem
Organismus innewohnenden Potenzial handelt – auch wenn ein solcher Reifungsprozess
durchaus eine Voraussetzung dafür ist, dass Lernen stattfi ndet.
Das Wort „Organismen“ wurde gewählt, weil nicht nur Menschen lernen können;
viele Untersuchungen über Tiere haben für das Verständnis von Lernprozessen
eine wichtige Rolle gespielt. Aber in dem vorliegenden Buch geht es vorwiegend
um das Lernen von Menschen, das Lernen anderer Organismen wird nur hin und
wieder berührt.
Meines Erachtens ist es wichtig, von einem möglichst weitgefassten Verständnis
des Lernprozesses auszugehen. Dies geschieht aus prinzipiellen Gründen, weil es
unmöglich ist, die Grenzen zwischen Lernen und zum Beispiel Sozialisierung oder
Therapie aufrechtzuerhalten. Und aus praktischen Gründen, weil man erst, wenn
man alle relevanten Faktoren ins Auge gefasst hat, die wesentlichen Zusammenhänge
und Interaktionsmuster erkennen kann.
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Zu guter Letzt muss darauf hingewiesen werden, dass die Definition beinhaltet,
dass auch Einschränkungen oder Verdrehungen, die Fehler und Begrenzungen
des Gelernten herbeiführen, als etwas betrachtet werden müssen, was man lernt.
Und dies nicht nur, wenn man etwas nicht versteht oder wenn man einer Sache
nicht folgen kann, sondern zum Beispiel auch, wenn die Menge oder die Art der
Lernmöglichkeiten zu groß oder gar bedrohlich wird.
1.3 Der Aufbau des Buches
Die Theorie oder das Rahmenverständnis des Lernens, das in dem vorliegenden
Buch entwickelt werden soll, umfasst vier Teile.
Der erste Teil befasst sich mit der Definition des Lernbegriffs und der Grundlage
des Lernverständnisses, das sich aus der Kombination verschiedener Ansätze
psychologischer, biologischer (u.a. gehirnphysiologischer) und gesellschaftswissenschaftlicher
Provenienz ergibt. Diese Themen werden in Kapitel 1 und 2 behandelt.
Im zweiten Teil geht es um die Art und Struktur des Lernens, also um das, was
man gemeinhin unter „eigentlicher Lerntheorie“ versteht. In Kapitel 3 wird ein
Modell entworfen, das die beiden Prozesse des Lernvorgangs umfasst, nämlich die
soziale Interaktion und die individuelle Aneignung. Hinzu treten drei Dimensionen:
Inhalt, Antrieb und Interaktion. In Kapitel 4 wird eine Typologie entwickelt,
die vier grundlegende Bereiche des Lernens umfasst. Danach werden ausgehend
von den drei Dimensionen des Lernens in Kapitel 5, 6 und 7 zentrale Aspekte des
Lernens erörtert. In Kapitel 8 werden abschließend die für das Lernen allgemein
wichtigen Grundfaktoren behandelt.
Der dritte Teil ist den wichtigsten Barrieren gegen das Lernen, die wir heute antreffen,
gewidmet. Es geht also darum, was passiert, wenn ein beabsichtigter Lernprozess
nicht stattfi ndet oder wenn der Prozess anders verläuft als erwartet. Diese
Problematik wird in der Lerntheorie nur selten behandelt, aber im vorliegenden
Buch für genauso wichtig gehalten wie die Diskussion der geglückten Lernprozesse.
Dies macht den Inhalt von Kapitel 9 aus.
Im vierten Teil schließlich werden verschiedene Aspekte und Bereiche behandelt,
die zu den wichtigsten Bedingungen gehören, die den Verlauf, die Art und die Ergebnisse
des Lernprozesses bestimmen. In Kapitel 10 gehen wir auf die verschiedenen
Voraussetzungen der Lernenden ein, u.a. Veranlagung, Fähigkeiten, Intelligenz,
Lerntypus, Geschlecht und soziale Herkunft. In Kapitel 11 beschäftigen wir
uns mit den für das jeweilige Lernalter typischen Faktoren während der Kindheit,
der Jugendzeit, des Erwachsenen- und des „reiferen“ Erwachsenenalters.
In Kapitel 12 betrachten wir den Lernprozess in Relation zu den wichtigsten
verschiedenen Lernsituationen in ihrer Praxis: Lernen im Alltag, in der Schule,
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Lernen im Arbeitsleben, Lernen via Internet und Lernen durch Hobby- und Freizeitaktivitäten.
Kapitel 13 befasst sich mit dem Lernen in der Schule und in anderen
Bildungsinstitutionen in einem weiteren, gesamtgesellschaftlichen Kontext.
Und abschließend wollen wir in Kapitel 14 die Auffassung des Lernprozesses, die
diesem Buch zugrunde liegt, noch einmal kurz zusammenfassen, um dann die
vielen verschiedenen Ansätze und Autoren, die genannt worden sind, zu dem in
Kapitel 3 vorgestellten Lernmodell in Beziehung zu setzen.
Wir schließen mit einem kurzen Ausblick.
1.4 Zusammenfassung
Bei den in diesem einleitenden Kapitel vorgetragenen Aspekten ging es vor allem
darum, dass der Begriff des Lernens ein äußerst vielseitiger und komplizierter Begriff
ist, der jeden Prozess umfasst, der bei einem lebenden Organismus zu einer
bleibenden Änderung seiner Fähigkeiten führt, welche aber nicht nur auf dem
Vergessen oder dem biologischen Reife- oder Alterungsprozess beruht. Ein solches
Verständnis impliziert u.a., dass Prozesse wie Sozialisierung, Qualifi zierung, Ausbildung
und Therapie als besondere Formen des Lernens oder auch als spezielle
Blickrichtungen, aus denen heraus wir Lernprozesse betrachten, angesehen werden
können. Aus unserer Auffassung vom Lernen folgt auch, dass Begrenzungen
und andere Faktoren, die Einschränkungen oder Verfälschungen des Gelernten
herbeiführen können, als etwas betrachtet werden müssen, das man ebenfalls
lernt. Der Begriff „Entwicklung“ soll als Oberbegriff für Lernen und biologisches
Reifen verstanden werden.
Außerdem enthält das vorliegende Kapitel eine einleitende Aufteilung des Gegenstandes
Lernen in vier verschiedene Hauptgebiete:
1. Grundlagen des Lernverständnisses;
2. Struktur des Lernprozesses, Dimensionen und grundlegende Typen des Lernens;
3. Barrieren, die Lernprozesse verhindern;
4. individuelle, soziale und gesellschaftliche Faktoren, die das Lernen bedingen
und beeinflussen.
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