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Geschichte des Westens Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert
Geschichte des Westens
Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert




Heinrich August Winkler

Verlag C. H. Beck oHG
EAN: 9783406644375 (ISBN: 3-406-64437-6)
1343 Seiten, paperback, 14 x 22cm, 2013, Klappenbroschur

EUR 24,00
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
"Geschichtsschreibung auf höchstem Niveau."

Volker Ullrich, Tages-Anzeiger

In einem grandiosen Panorama erzählt Heinrich August Winkler zum ersten Mal überhaupt die Geschichte des Westens – und damit auch die Geschichte unserer eigenen Identität.

Heinrich August Winkler, geb. 1938 in Königsberg, ist einer der bedeutendsten deutschen Historiker. Bis 2007 war er Professor für Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Bei C.H.Beck ist von ihm zuletzt erschienen: Geschichte des Westens. Die Zeit der Weltkriege 1914–1945 (2011) und Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (2012).
Rezension
Wer die eigene Welt verstehen will, muss ihre (Entstehungs-)Geschichte verstehen. Das gilt auch für den Teil der Welt, in dem wir leben; denn unsere "westliche" Weltwahrnehmung ist nicht zwingend deckungsgleich mit Weltwahrnehmungen aus anderen Kulturkreisen, sei es nun aktuell (März 2014) die Krim-Krise oder das "Verschwinden" eines großen Passagier-Flugzeugs wie in Malaysia ... Das hier anzuzeigende voluminöse Werk mit (netto) 1200 S., das als preisgünstige Jubiläums-Edition anläßlich des 250. Geb. des C.H.Beck-Verlags aus München in dieser Form neu aufgelegt wird, bietet erstmals eine umfassende "Geschichte des Westens" (Titel) "von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert" (Untertitel) und damit eine kompakte Zusammenfasung all der vielfältigen geschichtlichen Entwicklungen (vgl. das umfangreiche Inhaltsverzeichnis!), die für unseren eigenen Kulturkreis von zentraler Bedeutung sind. (Gegenüber der Leinen-Ausgabe von 2009, ISBN 9783406592355, mit einem Preis von 39,95 € ist diese Ausgabe fast Preis-halbiert).

Oliver Neumann, lehrerbibliothek.de
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung 13

Einleitung 17

1. Die Entstehung des Westens: Prägungen eines Weltteils

Monotheismus als Kulturrevolution: Der östliche Ursprung des Westens 25
Das frühe Christentum: Ein religiöser Schmelztiegel 30
Ein Gott, ein Kaiser 35
Zwei Kaiser, ein Papst 40
Translatio imperii: Der Reichsmythos 46
Christianisierung und Kreuzzüge 47
Geistliche versus weltliche Gewalt: Die Papstrevolution und ihre Folgen 52
«Stadtluft macht frei»: Die Entstehung des Bürgertums 61
Feudalismus und beginnende Nationalstaatsbildung: Der Geist des Dualismus 64
Verhinderte Weltherrschaft: Krise und Niedergang des Reiches 72
Individualität versus Institution: Beginnende Selbstsäkularisierung des Christentums 75
Im Zeichen des Schismas: Der Verfall der kirchlichen Einheit 78
Europa im Umbruch (I): Binnen- und Außengrenzen des Okzidents 83
Europa im Umbruch (II): Renaissance und Humanismus 93
Judenverfolgung und Hexenverbrennungen: Die Widersprüche der spätmittelalterlichen Gesellschaft 104

2. Der alte und der neue Westen: Von Wittenberg nach Washington

Luthertum und Calvinismus: Das neue Staatskirchentum 111
Dreißigjähriger Krieg und europäischer Friede 119
Nachdenken über den Staat: Vom Humanismus zu Hobbes 126
Von der puritanischen Revolution zur Glorious Revolution 142
Der Absolutismus und seine Grenzen 154
Hegemonie und Gleichgewicht nach 1648 157
Gewaltenteilung und allgemeiner Wille: Von Locke zu Rousseau 175
Kritik des Bestehenden: Die Aufklärung und ihre Grenzen 226
Aufgeklärter Absolutismus: Anspruch und Wirkung 235
Absolutismus in der Krise: Frankreichs Weg in die Revolution 244
Wirtschaftliche Umwälzung: Die Industrielle Revolution in England 254
Politische Umwälzung: Die Amerikanische Revolution 259
Europa am Vorabend der Französischen Revolution 310

3. Revolution und Expansion: 1789–1850

1789: Das Ende des Ancien régime und der Beginn der Französischen Revolution 315
Radikalisierung (I): Von der konstitutionellen Monarchie zur Republik 322
Gespaltenes Echo: Die Rezeption der Revolution in Deutschland und England 338
Radikalisierung (II): Die Revolution zwischen Krieg und Schreckensherrschaft 350
Prekäre Stabilisierung: Thermidor und Direktorium 367
Vom Ersten Konsul zum Kaiser: Napoleon Bonaparte 374
Das Grand Empire und das Ende des Alten Reiches 385
Lernen aus der Niederlage: Die preußischen Reformen 393
Fichte, Jahn, Arndt: Die Entstehung des deutschen Nationalismus 398
Großbritannien, die USA und die Kontinentalsperre 408
Napoleon im Niedergang: Von der spanischen «guerilla» zum Rußlandkrieg 412
Vom Tauroggen bis Elba: Napoleons erster Sturz 420
Die «Charte» und die «Hundert Tage»: Napoleons endgültiger Sturz 425
Konservative, Liberale, Sozialisten: Die nachrevolutionäre Ideenwelt 431
Rückkehr zum Gleichgewicht: Der Wiener Kongreß 443
Unterdrückung und Wandel: Die großen Mächte nach 1815 451
Revolutionen im Mittelmeerraum: Spanien, Portugal, Italien, Griechenland 469
Die Befreiung Lateinamerikas 484
Großmacht USA: Von Monroe bis Jackson 492
Tocqueville in Amerika: Das Zeitalter der Gleichheit 502
Die französische Julirevolution von 1830 508
Folgerevolutionen: Europa in den frühen 1830er Jahren 515
Reform statt Revolution: Großbritannien 1830–1847 530
Wandel in Preußen: Zollverein und Thronwechsel 539
Orient und Rhein: Die Doppelkrise von 1840 542
Hungry fourties: Die Entstehung des Marxismus 545
Europa am Vorabend der Revolution von 1848 552
Das Ende der Julimonarchie 560
Die Märzrevolutionen in Deutschland 570
Revolution und Konterrevolution im östlichen Mitteleuropa 580
Die Revolution in Italien 591
Ordnung vor Freiheit: Frankreichs Zweite Republik bis zum Frühjahr 1849 595
Weder Einheit noch Freiheit: Die deutsche Revolution von 1848/49 606
Die Niederwerfung der Revolutionen in Italien und Ungarn 628
Wandel ohne Revolution: Nord- und Nordwesteuropa 634
Verselbständigung der Exekutivgewalt: Frankreich auf dem Weg ins Zweite Kaiserreich 640
Von Erfurt nach Olmütz: Preußens gescheiterte Unionspolitik 647
Rückblick auf die Revolution (I): Deutschland 654
Rückblick auf die Revolution (II): Europa 660
Wandernde Grenzen: Die Westexpansion Amerikas im internationalen Vergleich 672

4. Nationalstaaten und Imperien: 1850–1914

Materialismus versus Idealismus: Die geistige Wende in der Mitte des 19. Jahrhunderts 687
West versus Ost: Der Krimkrieg und die Folgen 690
Der Westen in Asien: Indien, China, Japan 699
Von der Reaktionszeit zur «Neuen Ära»: Der Regimewechsel in Preußen 710
Ein Nationalstaat entsteht: Die Einigung Italiens 714
Kursänderungen: Die deutschen Großmächte 1859–1862 725
Reform und Expansion: Rußland unter Alexander II 733
Sezession: Der amerikanische Bürgerkrieg 740
Revolution von oben: Das Ende des deutschen Dualismus 757
Bonapartismus in der Krise: Frankreichs Zweites Kaiserreich 1866–1870 781
Anpassung durch Reform: England in den 1860er Jahren 789
Vom Norddeutschen Bund zur Reichsgründung: Deutschland 1867–1871 798
Nach der Niederlage: Die Anfänge der Dritten Republik in Frankreich 817
Kulturkampf: Staat und Kirche im Widerstreit 825
Ein gespaltener Nationalstaat: Italien nach der Einigung 829
Kampf den Reichsfeinden: Deutschland nach der Reichsgründung 833
Der Alpdruck der Koalitionen: Bismarcks Europa 852
Imperialismus (I): Von Disraeli zu Gladstone 860
Imperialismus (II): Die Aufteilung Afrikas 873
Befestigungsversuche: Deutschland in den 1880er Jahren 895
Die opportunistische Republik: Frankreich zwischen Reform und Krise 906
Rechtsruck und Anarchismus: Das Italien der Ära Crispi 913
Reaktion, Radikalismus, Revolution: Rußland 1881–1906 919
Pionierland der Moderne: Amerika vor und nach der Jahrhundertwende 939
Transnationale Moderne: Die Ungleichzeitigkeit des Fortschritts (I) 983
Zerreißproben: Die innere Entwicklung der Donaumonarchie 1017
Der Fluch des Epigonentums: Das wilhelminische Deutschland 1890–1909 1029
Abschied von der «splendid isolation»: Großbritannien 1886–1914 1049
Die radikale Republik: Frankreich zwischen Antisemitismus und Laizismus 1069
Demokratisierung und Expansion: Italien in der Ära Giolitti 1099
Von Barcelona bis Basel: Die Ungleichzeitigkeit des Fortschritts (II) 1111
Repression und Avantgarde: Rußland 1906–1914 1131
Krieg als Krisenlösung? Das wilhelminische Deutschland 1909–1914 1148
Sarajewo und die Folgen: Von der Julikrise zum Ersten Weltkrieg 1163
Der Westen zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Rückblick und Ausblick 1189

Anhang

Abkürzungsverzeichnis 1203
Anmerkungen 1205
Personenregister 1287
Ortsregister 1323


Einleitung
Nicht nur Bücher, auch Begriffe haben ihre Schicksale. Der Begriff
«Westen», wenn er politisch oder kulturell gemeint ist, macht da keine
Ausnahme: Er hat zu unterschiedlichen Zeiten Unterschiedliches bedeutet.
Das klassische Griechenland bedurfte der Erfahrung der Perserkriege
in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts vor Christus, um eine
Vorstellung vom kulturellen und politischen Gegensatz zwischen Griechen
und «Barbaren», Abendland (dysmaí oder hespéra) und Morgenland
(anatolé), Okzident und Orient zu entwickeln. Im christlichen
Europa meinte Okzident oder Abendland den Bereich der Westkirche,
das lateinische im Unterschied zum griechischen, das heißt byzantinischen
Europa. Vom «Westen» als einer transatlantischen Einheit war
vor 1890 kaum je die Rede. Erst die Erfahrung der kulturellen und politischen
Gleichrangigkeit Europas und Nordamerikas ließ diesen Begriff
um die Jahrhundertwende vor allem in der angelsächsischen Welt zum
Schlagwort aufsteigen. Es mußte damals noch mit einem anderen, häufiger
gebrauchten Begriff, dem der «weißen Rasse», konkurrieren, war
aber zugleich enger und weiter als dieser: enger, weil der «Westen» den
als rückständig empfundenen russischen und balkanischen Osten Europas
ausschloß, weiter, weil die Zugehörigkeit zur «westlichen Zivilisation
» nicht an rassische Merkmale gebunden wurde.1
Für die tonangebenden Intellektuellen eines westlichen Landes,
Deutschlands, unter ihnen Thomas Mann in seinen «Betrachtungen eines
Unpolitischen» von 1918, wurde der Begriff «Westen» im Ersten Weltkrieg
zu einem negativ besetzten Kampfbegriff.2 Der Westen in Gestalt
Frankreichs, Großbritanniens und, seit ihrem Kriegseintritt im Jahre
1917, der Vereinigten Staaten von Amerika, stand für das, was sie ablehnten,
nämlich demokratische Mehrheitsherrschaft und eine vermeintlich
rein materialistische Zivilisation. Deutschland hingegen vertrat aus
der Sicht seiner geistigen Verteidiger die höheren Werte einer Kultur der
Innerlichkeit – einer Kultur, die sich auf die Macht eines starken Staates
stützen konnte. Die deutschen «Ideen von 1914» gegen die westlichen
«Ideen von 1789»: In vielen Köpfen überlebte dieser Gegensatz die Niederlage
von 1918. Erst nach der abermaligen Niederlage des Deutschen
Reiches im Jahre 1945 vollzog sich im westlichen Teil Deutschlands jene
Entwicklung, in der der Philosoph Jürgen Habermas 1986, auf dem
Höhepunkt des «Historikerstreits» um die Einzigartigkeit des nationalsozialistischen
Judenmordes, die größte intellektuelle Leistung der zweiten
deutschen Nachkriegszeit sah: «die vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik
gegenüber der politischen Kultur des Westens».3
Im Zeichen des Kalten Krieges wurde der «Westen» zur Kurzformel
für das atlantische Bündnis: die Allianz der beiden großen Demokratien
Nordamerikas, der USA und Kanadas, mit anfangs zehn, später vierzehn
Staaten auf der anderen Seite des Atlantiks, darunter seit 1955 die
Bundesrepublik Deutschland. Nicht alle Mitglieder der NATO waren
zu jeder Zeit Demokratien. Portugal war bis 1974 eine rechtsautoritäre
Diktatur; Griechenland und die Türkei wurden zeitweise unmittelbar
oder mittelbar vom Militär regiert. Trotz solcher Abweichungen von
der Regel sah sich der Atlantikpakt stets als Bündnis zur Verteidigung
der Menschen- und Bürgerrechte gegenüber der Bedrohung durch die
Sowjetunion und die Staaten des Warschauer Pakts – also nicht nur als
Militärallianz, sondern als Wertegemeinschaft.
Nach der Epochenwende von 1989/91 änderte sich die Bedeutung
des Begriffs «Westen» erneut. Das Ende der kommunistischen Diktaturen
machte den Blick frei für geographische und historische Tatsachen,
die in der Zeit des Ost-West-Konflikts weithin in Vergessenheit geraten
waren. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wäre kaum jemand auf den
Gedanken gekommen, Polen, die Tschechoslowakei (beziehungsweise
die in diesem Staat zusammengeschlossenen Gebiete) oder Ungarn
«Osteuropa» zuzurechnen; «Mitteleuropa» oder, genauer, «Ostmitteleuropa
» waren und sind die zutreffenden Bezeichnungen. Der Begriff
«Osteuropa» war Rußland bis zum Ural,Weißrußland und der Ukraine
vorbehalten. Historisch gehören das östliche Mitteleuropa, das Baltikum
und der Westen der Ukraine zum «Okzident» oder «Abendland»,
also zu jenem Teil des Kontinents, der seinen gemeinsamen geistlichen
Mittelpunkt bis zur Reformation in Rom gehabt hatte und der sich
eben dadurch vom orthodox geprägten Ost- und Südosteuropa unter-
18 Einleitung
schied. Es ist dieser historische Westen, der im Mittelpunkt unserer Betrachtung
steht.
«Europa ist nicht (allein) der Westen. Der Westen geht über Europa
hinaus. Aber: Europa geht auch über den Westen hinaus»: Auf diese
knappe Formel hat der Wiener Historiker Gerald Stourzh das Verhältnis
zwischen Europa und dem Westen gebracht.4 Was den außereuropäischen
Teil des Westens betrifft, so gehören unstrittig die Vereinigten
Staaten, Kanada, Australien und Neuseeland, also die ganz oder überwiegend
englischsprachigen Demokratien, und, seit seiner Gründung
im Jahr 1948, der Staat Israel dazu. In Europa liegen die Dinge komplizierter.
Die Frage, wie es dazu kam, daß nicht ganz Europa dem
Westen zuzurechnen ist, führt zurück in die Zeit, die der historischen
Spaltung in eine West- und eine Ostkirche vorausging. Diese Frage ist
nicht bloß von historischem Interesse. Denn sie zielt auf kulturelle Prägungen,
die Europa einmal verbunden haben und von denen noch vieles
nachwirkt.
Die stärkste dieser gemeinsamen Prägungen ist religiöser Natur: die
christliche. Im Zuge der fortschreitenden Entkirchlichung und Entchristlichung
Europas ist eine solche Feststellung alles andere als selbstverständlich.
Erklärten Laizisten könnte sie sogar als ein Versuch erscheinen,
die Säkularisierung in Frage zu stellen und ihr Einhalt zu gebieten.
In Wirklichkeit ist es gerade der spezifische, ja weltgeschichtlich
einzigartige Charakter des westlichen Säkularisierungsprozesses, der
uns veranlassen sollte, den religiösen Bedingungen dieser Entwicklung
nachzugehen.
Vom christlichen Erbe Europas und des Westens läßt sich aber nicht
sinnvoll reden, wenn wir nicht zuvor vom jüdischen Erbe des Christentums
gesprochen haben. Zum jüdischen Erbe gehört zentral der Monotheismus.
Dieser hat eine Vorgeschichte, die über das Judentum hinausweist:
in das Ägypten des 14. Jahrhunderts vor Christus. Mit der Entstehung
des Monotheismus müssen wir also einsetzen, wenn wir wissen
wollen, wie derWesten zu dem wurde, was er heute ist. Von diesem Ausgangspunkt
gilt es fortzuschreiten zu jener spezifisch christlichen Unterscheidung
zwischen göttlicher und weltlicher Ordnung, in der die Säkularisierung
der Welt und die Emanzipation des Menschen bereits angelegt
sind. Der klassische Beleg dieser Unterscheidung ist das Wort von
Jesus: «Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.»5
Von diesem Aufruf bis zur ansatzweisen Trennung von geistlicher
Einleitung 19
und weltlicher Gewalt im Investiturstreit des späten 11. und frühen
12. Jahrhunderts verging über ein Jahrtausend. Die Unterscheidung
zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt erscheint im historischen
Rückblick als Keimzelle der Gewaltenteilung überhaupt, als Freisetzung
von Kräften, die sich erst durch diese Trennung voll entfalten und
weiter ausdifferenzieren konnten. Der ersten Gewaltenteilung folgte,
beginnend mit der englischen Magna Charta von 1215, eine zweite: die
Trennung von fürstlicher und ständischer Gewalt, wobei die letztere in
der Folgezeit von Adel, Geistlichkeit und städtischem Bürgertum ausgeübt
wurde. Beide mittelalterlichen Gewaltenteilungen blieben auf den
Raum der Westkirche beschränkt. Im Bereich der Ostkirche fehlte der
Dualismus zwischen Papst und Kaiser beziehungsweise König; die
geistliche Gewalt blieb der weltlichen untergeordnet; es gab keine Trennung
von fürstlicher und ständischer Gewalt; es entwickelte sich, anders
als im Westen, kein wechselseitiges Treueverhältnis zwischen Landesherr
und Feudaladel, keine Stadtfreiheit und kein selbstbewußtes
städtisches Bürgertum und infolgedessen auch keine Tradition individueller
und korporativer Freiheit.
Die Geschichte des Westens ist keine Geschichte des ununterbrochenen
Fortschritts in Richtung auf mehr Freiheit. Die Reformation des
16. Jahrhunderts brachte einerseits einen gewaltigen Zugewinn an Freiheit,
indem sie das Gewissen des Einzelnen zur höchsten moralischen
Instanz erhob. Andererseits brachte sie in Gestalt des lutherischen und
des anglikanischen Staatskirchentums erhöhten obrigkeitlichen Zwang,
ja einen Rückfall hinter die bereits erreichte ansatzweise Trennung von
geistlicher und weltlicher Gewalt und hinter die religiöse Toleranz, für
die sich die Humanisten eingesetzt hatten. Im anglikanischen England
rief die FreiheitsbeschränkungWiderstand hervor: den protestantischen
Protest calvinistischer Nonkonformisten. Aus ihm entwickelte sich eine
demokratische Bewegung, die auf der anderen Seite des Atlantiks, in
den amerikanischen Kolonien der britischen Krone, so stark wurde,
daß der neue Westen, Amerika, schließlich die Revolution gegen das
Mutterland wagen konnte.
Im alten Westen war England freilich immer noch das freieste unter
den größeren Ländern Europas. Hier wurde die mittelalterliche Gewaltenteilung
zwischen fürstlicher und ständischer Gewalt weiterentwickelt zur
modernen Gewaltenteilung, der Trennung von gesetzgebender, vollziehender
und rechtsprechender Gewalt – der Gewaltenteilung, die 1748 in
20 Einleitung
Montesquieus «Geist der Gesetze» ihren klassischen Ausdruck fand. Zusammen
mit den Ideen von den unveräußerlichen Menschenrechten, der
Herrschaft des Rechts und der repräsentativen Demokratie gehört die Gewaltenteilung
zum Kernbestand dessen, was wir als das normative Projekt
des Westens oder die westliche Wertegemeinschaft bezeichnen können.
Dieses Projekt war keine reine Neuschöpfung des Zeitalters der
Aufklärung. Vielmehr hatte es, wie die Aufklärung selbst, Wurzeln, die
tief in die Geschichte des Westens, bis ins Mittelalter und die Antike,
zurückreichen. Das Projekt des Westens war auch kein rein europäisches
Werk, sondern das Ergebnis transatlantischer Zusammenarbeit:
Die ersten Menschenrechtserklärungen wurden, beginnend mit der
Virginia Declaration of Rights vom 12. Juni 1776, auf britischem Kolonialboden
in Nordamerika beschlossen und verkündet. Sie beeinflußten
auf das stärkste die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte
durch die französische Nationalversammlung am 26. August
1789. Seit den beiden atlantischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts,
der Amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen
Revolution von 1789, war das Projekt des Westens im wesentlichen
ausformuliert. Der Westen hatte einen Maßstab, an dem er sich
messen konnte – und messen lassen mußte.
Bis sich der gesamte Westen zu diesem Projekt bekannte, vergingen
zwei Jahrhunderte. Die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts bestand
zu einem großen Teil aus Kämpfen um die Aneignung oder Verwerfung
der Ideen von 1776 und 1789. Es gab viele Auflehnungen
westlicher Länder gegen die Ideen der Amerikanischen und der Französischen
Revolution, geboren aus dem Geist des Nationalismus, der in
vieler Hinsicht selbst ein Phänomen der westlichen Moderne war, darunter
die radikalste dieser Auflehnungen, die deutsche, die im Nationalsozialismus
gipfelte. Und es gab die Länder Ostmitteleuropas, die
erst nach dem Zusammenbruch des Kommunismus 1989/90 wieder die
Möglichkeit erhielten, sich im westlichen Sinn zu entwickeln. Die Verwestlichung
des Westens war mithin ein Prozeß, dessen hervorstechendes
Kennzeichen die Ungleichzeitigkeit bildet.
Nicht minder markant ist ein anderes Merkmal der Entwicklung des
Westens seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert: der Widerspruch zwischen
dem normativen Projekt und der politischen Praxis. Unter den
Verfassern der ersten Menschrechtserklärungen und der amerikanischen
Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 waren Sklavenbesit-
Einleitung 21
zer. Hätten die Gegner der Sklaverei auf deren Abschaffung bestanden,
wäre die erstrebte Loslösung der 13 Kolonien vom englischen Mutterland
daran gescheitert. Das Gründungsversprechen aber war ein revolutionäres:
Wenn die Unabhängigkeitserklärung allen Menschen bescheinigte,
sie seien frei geboren und von ihrem Schöpfer mit gewissen
unveräußerlichen Rechten ausgestattet worden, dann wurde die Sklaverei
erst recht zum Skandal und der Kampf um ihre Aufhebung und das
Verbot des Sklavenhandels zur historischen und normativen Notwendigkeit.
In diesem langwierigen Kampf zeigte sich, daß das Projekt am
Ende stärker war als die Praxis: So zynisch der Westen sich gegenüber
der nichtwestlichen Welt meist verhielt, so besaß er doch die Fähigkeit
zur Selbstkritik, zur Korrektur seiner Praxis und zurWeiterentwicklung
seines Projekts.
Die afroamerikanischen Sklaven waren nicht die einzige Gruppe,
der unveräußerliche Rechte vorenthalten wurden. Die Ureinwohner
Nordamerikas und Australiens wurden an den Rand der physischen
Ausrottung getrieben. Aber auch Teile der weißen Bevölkerung waren
anhaltender Diskriminierung ausgesetzt. Es dauerte lange, bis die volle
Gleichberechtigung der Frauen durchgesetzt war, und auch bei den Arbeitern
waren staatsbürgerliche Rechte und ein menschenwürdiges Dasein
erst das Ergebnis schwerer, oft gewaltsam ausgetragener Konflikte.
Beide, die Frauen und die Arbeiter, konnten sich bei dem, was sie forderten,
auf die Verheißungen von 1776 und 1789 berufen: Ideen, aus
denen sich Waffen im Kampf gegen eine widerstrebende Wirklichkeit
schmieden ließen.
Die Entstehung des westlichen Projekts, die Ungleichzeitigkeit seiner
Verwirklichung, die Widersprüche zwischen Projekt und Praxis:
Mit diesen Stichworten sind die Leitlinien der vorliegenden Darstellung
umrissen. Sie will keine «histoire totale», sondern eine Problemund
Diskursgeschichte sein: ein Versuch, die Hauptprobleme der europäischen
und der nordamerikanischen Geschichte sowie das Nachdenken
über sie in ihrem atlantischen oder westlichen Zusammenhang zu
erörtern. Von den nichtwestlichen Ländern bezieht die Darstellung
Rußland am stärksten mit ein: Das Zarenreich und später die Sowjetunion
wurden durch den Westen ebenso beeinflußt, wie sie ihrerseits
den Westen beeinflußten. Je mehr westliche Mächte im Zeitalter des
Imperialismus die übrige Welt ihrer formellen oder informellen Herrschaft
unterwarfen, desto mehr müssen auch diese anderen Teile der
22 Einleitung
Erde ins Blickfeld rücken. Eine «Globalgeschichte» erwächst daraus
aber nicht, höchstens ein Beitrag zu einer solchen.
Als Max Weber 1920 seine berühmte Vorbemerkung zu den Gesammelten
Aufsätzen zur Religionssoziologie verfaßte, arbeitete er bestimmte
Kulturerscheinungen heraus, die er nur im Okzident vorfand
und als typisch westlich charakterisierte: eine empirisch vorgehende
Wissenschaft, die rationale harmonische Musik, den strengen Schematismus
des okzidentalen Rechts, das Fachmenschentum, die schrankenlose
Erwerbsgier des modernen Kapitalismus, die Trennung von
Haushalt und Betrieb, die rationale Buchführung, das abendländische
Bürgertum, die Organisation freier Arbeit und die Entstehung eines
rationalen Sozialismus. Der gemeinsame Nenner war der spezifisch okzidentale
Rationalismus, der sich in einer praktisch-rationalen, namentlich
in einer wirtschaftlich rationalen Lebensführung niederschlug.6
Webers Analyse erfaßte bestimmte Facetten des Modernisierungsprozesses,
den alle von Industrie und Bürokratie geprägten Gesellschaften
desWestens durchlaufen hatten und zum Teil noch durchliefen. Von
den normativen und politischen Errungenschaften des Westens aber
war bei ihm bemerkenswerterweise nicht die Rede: weder von den
Menschen- und Bürgerrechten noch von der Gewaltenteilung, der
Volkssouveränität oder der repräsentativen Demokratie. Diese Kulturerscheinungen
bildeten nach Webers Meinung offenbar keine typischen
Merkmale des Okzidents – eine sehr deutsche und damals schon nicht
mehr zeitgemäße Sichtweise. Heute gibt es erst recht gute Gründe, die
Entwicklung der normativen Maßstäbe, einer selbstkritischen politischen
Kultur und einer pluralistischen Zivilgesellschaft in den Mittelpunkt
einer Geschichte des Westens zu rücken. Das geschieht in dieser
Darstellung, während manche andere der von Weber aufgeführten Kulturerscheinungen
in den Hintergrund treten. Die Entscheidung für eine
Problem- und Diskursgeschichte erfordert eine Schwerpunktbildung,
deren notwendiges Gegenstück mehr oder minder weitgehende Ausblendungen
sind.
Der vorliegende Band endet mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges.
...