David Herbert Lawrence (1885-1930) zählt seit den 1950er Jahren zu den international anerkanntesten Autoren der „britischen Literatur der klassischen Moderne“(Meinhard Winkgens). Bekannt wurde der Schriftsteller durch seine Romane „Söhne und Liebhaber“(1913), „Liebende Frauen“(1920) und insbesondere durch seinen vom puritanisch geprägten Publikum als Skandal empfunden Werk „Lady Chatterly“(1928). Lawrence selbst vertrat in seinen Schriften einen „vitalistisch-lebensphilosophischen Existentialismus“(Winkgens), den er mit einer von Friedrich Nietzsche inspirierten radikalen Kritik abendländischer Wertesysteme verband. Auch wenn Lawrences Erzählungen und Kurzromane in zahlreichen Anthologien zur englischen Literatur verstreut liegen, sind sie im Unterschied zu seinem Romanwerk in der Öffentlichkeit weniger bekannt.
Zahlreiche Motive seiner Romane lassen sich in den Schriften der im Jahre 2007 bei „Diogenes“ erschienenen zweibändigen Ausgabe seiner „Gesammelten Erzählungen und Kurzromane“ nachweisen. Der erste Band beginnt mit der 1910 publizierten Debüt-Erzählung „Gänsemarkt“. Von Feministen rezipiert wurde die Erzählung „Die Fahrscheine, bitte!“(1919), in welcher ein Frauenaufreißer, der Fahrkartenkontrolleur John Thomas Raynor, die Rache der von ihm hereingelegten Frauen erfährt. In dieser Erzählung charakterisiert Lawrence den männlichen Schürzenjäger folgendermaßen: „John Thomas beabsichtigte, ein nächtlicher Begleiter zu bleiben; er dachte nicht im entferntesten daran, ihr zuliebe ein richtiges Individuum zu sein.“(S. 459I)
Zu den klassischen Erzählungen der britischen Moderne zählt Lawrences Erzählung „Verliebt“(1927), welche zugleich ein Meisterwerk britischen Humors ist. Hester steht kurz vor der Eheschließung mit Joe, als sie erfährt, dass dieser sie wirklich liebt. Hester reagiert schockiert und äußert gegenüber ihrer Schwester: „ Henrietta, weißt du, was das bedeutet, getätschelt und geknutscht zu werden? Es ist zu furchtbar albern und lächerlich.“(S. 415II) Auch in seinen anderen Erzählungen und Kurzromanen thematisiert Lawrence auf eine zum Teil ironisch-komische Weise die Beziehung zwischen Mann und Frau. Im Vordergrund aller Schriften Lawrences steht das Verhältnis von Leib und Seele bzw. Körper und Geist. So sagt die reiche Amerikanerin Ethel, die dem animalischen Torero Cuesta und seinen Mitstreitern zum Opfer fällt, in der Erzählung „Nichts dergleichen“ (1928): „Wenn mein Körper stärker als mein Geist ist, töte ich mich“(S. 563II).
Auch wer Lawrences animalistisches, sexualisiertes Menschenbild nicht teilt, wird manchen - nicht allen - Erzählungen eine gewisse Problemtiefe nicht absprechen können.
Fazit: Die neue zweibändige Ausgabe der „Gesammelten Erzählungen und Kurzromane“ aus dem „Diogenes-Verlag“, herausgegeben von Daniel Keel und Daniel Kampa, ist ein Muss für alle Lawrence-Verehrer.

Dr. Marcel Remme, für lehrerbibliothek.de

Ein großer Erzähler und Meister der englischen Kurzgeschichte ist wiederzuentdecken. Die Spannungen zwischen Mann und Frau, Zivilisation und Natur, Gesellschaft und Individuum, Geist und Materialismus – D.H. Lawrence’ Erzählungen sind so modern wie seine Themen.

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