lehrerbibliothek.deDatenschutzerklärung
Günter Grass  3., aktualisierte und erweiterte Auflage 2010
Günter Grass


3., aktualisierte und erweiterte Auflage 2010





Volker Neuhaus

Verlag J. B. Metzler
EAN: 9783476131799 (ISBN: 3-476-13179-3)
288 Seiten, paperback, 12 x 19cm, 2010

EUR 14,95
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Das klassische Grundlagenwerk der Grass-Forschung in umfassend überarbeiteter und aktualisierter Neuauflage: Nach einer Einführung in die von der Bildenden Kunst, der Lyrik und dem Theater geprägten Anfänge Grass' stellt dieser Band die schulrelevanten Bücher vor (z.B. Die Blechtrommel, Katz und Maus und Im Krebsgang) sowie neuere Werke wie Beim Häuten der Zwiebel bis hin zu Grimms Wörter (2010). »Ein für die Deutung des Gesamtwerks und seiner Forschungsgeschichte unentbehrlicher Orientierungskompaß« (Manfred Durzak).
Rezension
Die "Sammlung Metzler - Realien zur Literatur" umfasst mehrere hundert Titel zu Literatur, Sprachwissenschaft und Philosophie. In komprimierter Form wird in Taschenbuch-Format der jeweilige Sachverhalt von ausgewiesenen Autor/inn/en aufbereitet. Die Titel haben nicht selten eine lange Auflagen-Dauer, weil sie wesentliche Grundinformation in verständlich-kompakter Weise bieten. So sind knappe biographische Übersichten, Literaturverzeichnisse, Personen-, Sach- und Werkregister im Regelfall vorhanden. So auch in diesem gelungenen Titel zum 1999 mit dem Literatur-Nobelpreis geehrten Günter Grass. Die Darstellung geht strikt entlang der Werke vor, dabei kommt der "Blechtrommel" zu Recht eine Schlüsselstellung zu und sie wird mit ca. 40 S. auch am umfassendsten bearbeitet. Die 1. Aufl. war 1979 erschienen, die 2. Aufl. 1993, die jetzige 3. Aufl. 2010
bedeutet also eine mehr als 30-jährige Darstellungsgeschichte. Die Auflage geht also über "Unkenrufe" hinaus, bietet Kapitel zu "Ein weites Feld" und "Im Krebsgang" sowie zu autobiographischen Texten wie "Beim Häuten der Zwiebel", die für die Deutung des Gesamtwerks von großer Bedeutung sind.

Jens Walter, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Vollständig überarbeitet und um neue Forschungsergebnisse ergänzt
Schwerpunkte: „Die Blechtrommel“, „Katz und Maus“ und „Im Krebsgang“
Idealer Überblicksband für Studium und Schule

„(…) ein für die Deutung des Gesamtwerks und seiner Forschungsgeschichte unentbehrlicher Orientierungskompaß“, charakterisierte Manfred Durzak die erste Ausgabe dieser Einführung. Auch die aktualisierte und erweiterte dritte Auflage wird diesem Anspruch gerecht: Der Band führt in die von der Bildenden Kunst, der Lyrik und dem Theater geprägten Anfänge Günter Grass’ sowie in Sprache, Stil und Symbolgebrauch des Autors ein. Behandelt werden die schulrelevanten Bücher, wie Die Blechtrommel oder Katz und Maus, sowie neuere Werke in chronologischer Reihenfolge bis ins Jahr 2010.


Volker Neuhaus ist Professor für Neuere deutsche Literatur und Vergleichende Literaturwissenschaft i. R. an der Universität zu Köln. Von 1987 bis 2007 war er Herausgeber aller Grass-Werkausgaben.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur dritten Auflage V

1. Autobiographisches und Biographisches 1

2. Die 50er Jahre – das Jahrzehnt des Bildhauerpoeten 3

3. Das lyrische Werk 6

4. Das dramatische Werk als Gestaltung des Grass’schen Existenzialismus 9

Überblick und Phaseneinteilung 9 Absurdes Theater und Camus-Rezeption 10 Beritten hin und zurück 12 Noch 10 Minuten bis Buffalo 13 Hochwasser 14 Onkel, Onkel 15 Die bösen Köche 16 Zweiunddreißig Zähne 18 POUM oder die Vergangenheit fliegt mit 19 Die Plebejer proben den Aufstand 20 Davor 24

5. Das epische Werk 25

Erzählperspektive 25 Sprache und Stil 26 Sprachliche Besonderheiten 28 Rhetorische Figuren 30 Zitate 32 Dinglichkeit und Bildlichkeit 35 »Objektives Korrelat« 37 Inhalt und Form 40

6. Die »Danziger Trilogie« 42

Schauplatz Danzig 43 Das kleinbürgerliche Personal 44

7. Die Blechtrommel 47

Zur Entstehung 47 Zeitverhältnisse des Erzählens 49 Der Erzähler 51 Die Blechtrommel als Pikaroroman 54 Die Blechtrommel im Verhältnis zum Bildungsroman 58 Die Blechtrommel als Künstlerroman 59 Trommeln als Erzählen 62 Geschichte und Zeitgeschichte 63 Objektive Korrelate in der Blechtrommel 70 Spielkarten 71 »Der weite Rock« 72 Trommelstöcke und Verwandtes, Aale, Särge 73 Das »Dreieck« 74 Krankenschwester 75 »Karfreitagskost« 75 Die »Schwarze Köchin« 77 Mythologische und literarische Anspielungen 78 Zur Bewertung Oskars 82

8. Katz und Maus 88

»Eine Novelle« 88 Die Ich-Perspektive 90 Der Erzähler Pilenz 91 Adamsapfel, Katz und Maus 94 Clown und Erlöser 96 Geschichte und Zeitgeschichte 97 Vater, Kirche, Schule 99 Mahlkes Ende 101

9. Hundejahre 104

Entstehung 104 Die Erzählfiktion 105 Amsel und Matern 110 Tulla und Jenny 117 Die Hunde 119 Zahlensymbolik 122 Gegenwart und Vergangenheit 123

10. örtlich betäubt 127

Entstehung 127 Die Erzählfiktion 127 Starusch – Seifert – Scherbaum – Vero 130 Starusch und der Zahnarzt 131

11. Aus dem Tagebuch einer Schnecke 135

Die Erzählfi ktion 135 Zweifel und Augst 139 Schnecke und Pferd 141

12. Literatur und Politik bei Günter Grass 143

13. Der Butt 155

Die Erzählfiktion 155 Der Butt als Märchen 158 Geschichte – Gegengeschichte 159 Der Schluss 166

14. Das Treffen in Telgte 169

15. Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus 176

16. Die Rättin 182

Zur Entstehung 182 Die Form der Apokalypse 184 »Die Neue Ilsebill« 190 Oskars Wiederkehr 191 Grimms Wälder 193 Malskats Fälschungen 194 Die Rättin als Fabel 196

17. Zunge zeigen – Totes Holz – Brief aus Altdöbern 198

Zunge zeigen 198 Totes Holz. Ein Nachruf 201 Brief aus Altdöbern 203

18. Unkenrufe 204

19. Ein weites Feld 210

Die Entstehung 210 Fonty und Hoftaller 212 Geschichte – Gegengeschichte 216 Das Geschichtsbild 219

20. Tagebuch und Jahrbuch: Fundsachen für Nichtleser und Mein Jahrhundert 221

Fundsachen für Nichtleser 221 Mein Jahrhundert 222

21. Im Krebsgang 227

Zur Entstehung 227 Die Erzählfiktion 229 »Eine Novelle« 231 Schuld und Versagen 235 Geschichte und Schuld 237

22. Drei autobiographische Texte 240

Beim Häuten der Zwiebel 240 Die Box. Dunkelkammergeschichten 248 Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung 250

Kurzbiographie 254
Literaturverzeichnis 258
Personenregister 275
Sachregister 280


Leseprobe:

1. Autobiographisches und Biographisches
Gerade auf dem Gebiet der Grass’schen Biographie hat sich die
Material- und Forschungslage gegenüber den frühen 90er Jahren
erheblich geändert. Bis dahin war die Neugier des Publikums, sei
es nach entstehungsgeschichtlichen Details der Werke oder den
Lebensumständen ihres Autors, auf sporadische autobiographische
Mitteilungen in Aufsätzen, Reden und Interviews angewiesen. In
der Werkausgabe von 1987 ermöglichten sie immerhin die Zusammenstellung
einer 25-seitigen Vita aus Selbstaussagen (Bd. X).
1991 veröffentlichte Grass erstmals ein autobiographisches Werk: In
Vier Jahrzehnte. Ein Werkstattbericht, 2004 fortgeschrieben zu Fünf
Jahrzehnte, legte Grass eine annalistische Werkbiographie, eine Art
reich bebilderter Version von Goethes Tag- und Jahresheften vor. In
ihr werden die Werke und ihre Entstehungsumstände ausführlich
behandelt, Privates wird höchstens gestreift. Anschaulich illustriert
wird das Ganze mit Skizzen, Entwürfen, Fragmenten und generell
bislang Unveröffentlichtem aus den Zeichen-, Manuskript- und
Fotomappen. Gleichzeitig übergab Grass sein Berliner Privatarchiv
der Akademie der Künste, wo seitdem die Materialien seit 1950 der
Forschung zugänglich sind; weitere Archivalien zur Pariser Zeit 1956
bis 1960, vor allem maschinenschriftliche Vorstufen zu einzelnen
Kapiteln der Blechtrommel, befi nden sich, fl ankiert von der wichtigen
Korrespondenz mit Walter Höllerer, zusammen mit dessen Nachlass
im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg. Eine weitere Arbeitsbiographie
stellt die Video-Dokumentation Lübecker Werkstattbericht. Sechs
Vorlesungen an der Medizinischen Universität Lübeck von 1998 dar.
2006 legte Grass nach den autobiographischen Skizzen in Mein
Jahrhundert, in denen das Autor-Ich von sich erzählt (1927, 1937,
1953, 1959, 1965, 1975-77, 1987-90, 1996, 1998, s. S. 224) seine
Autobiographie Beim Häuten der Zwiebel vor, eine äußere und
innere Beschreibung seines Lebens bis Anfang 1960. Über dem Getöse
des Medienechos, das die Offenlegung seiner Mitgliedschaft in
der Waffen-SS auslöste, ging der Rang des Buchs als Grass’ eigene
Einführung in sein Leben und sein Werk unter (s. Kap. 21). 2008
legte Grass mit Die Box. Dunkelkammergeschichten einen weiteren, in
vielfach prismatischer Brechung autobiographisch gefärbten Text vor,
in dem sich, eingeleitet durch das »Es war einmal...« des Märchens,
»ein Vater [...], weil alt geworden«, Gespräche seiner Kinder über das
2 Autobiographisches und Biographisches
Leben mit ihm ausdenkt: der vier Kinder aus erster Ehe mit Anna,
der beiden außerehelichen Töchter und der beiden Söhne, die Ute
Grunert 1979 mit in die Ehe gebracht hat.
Während die Werkstattbände Vier bzw. Fünf Jahrzehnte die »vielen
leiblichen Kinder« als »Werkstattprodukte begreifen« (5Jz, 203),
erscheinen hier die Werke wie nebenbei als befremdliche Absonderungen
eines für die Kinder meist abwesenden Vaters. An der titelgebenden
Agfa Box, die der langjährigen Freundin Maria Rama (1911-
1997) gehört und die, wunderbar aus dem im Krieg ausgebrannten
Atelier gerettet, Gegenwärtiges, Vergangenes und Zukünftiges auf
den Film bannen kann, verdeutlicht Grass zugleich seine Poetik der
» Vergegenkunft« (s. S. 178). Einen eigentümlich komplementären
Blick zur Beichte eines weitgehend abwesenden und daher eigentlich
versagenden Vaters auf die Grass-Familie in den späten 60er Jahren
werfen die 2007 erschienenen Erinnerungen der damaligen Haustochter
Margarethe Amelung: Fünf Grass’sche Jahreszeiten.
Einzelheiten zur Entstehung von Unkenrufe und Ein weites
Feld enthält, neben stellenweise überraschend intimen Einblicken
in Grass’ Privatleben, der 2009 erschienene Band Unterwegs von
Deutschland nach Deutschland. Tagebuch 1990, in dem Grass seine
scharfe – und anhaltende – Kritik an einer in seinen Augen übereilten
Wiedervereinigung (s. S. 151ff.) aus der damaligen Nahsicht des
Tagebuchschreibers dokumentiert. Ähnlich eindringliches Material
zur Lebens- und Werkgeschichte bietet der Briefwechsel mit Helen
Wolff 1959-1994 (Hermes 2003) und, in geringerem Maße, der von
Anna und Günter Grass mit Uwe Johnson (Barnert 2007). Das auf
Grass’ Seiten nie freundliche, seit dem offenen Brief an Anna Seghers
(14, 49f.) von 1961 und dem »deutschen Trauerspiel« Die Plebejer
proben den Aufstand von 1966 aber völlig zerrüttete Verhältnis zur
DDR dokumentiert Kai Schlüter 2010.
Eine Proto-Biographie auf der Grundlage eines Langzeitinterviews
bietet Vormweg (1992/2002), eine Darstellung von Leben
und Werk Neuhaus (1997). Eine auf Leben und politisches Wirken
konzentrierte Biographie hat Jürgs (2002) vorgelegt, eine Leben und
Werk berücksichtigende Bildbiographie Mayer-Iswandy (2002); eine
Chronik der Grass’schen Werke und seiner öffentlichen Auftritte im
Spiegel der veröffentlichten Meinung bietet Zimmermann (2006).
3
2. Die 50er Jahre – das Jahrzehnt
des Bildhauerpoeten
Da aufgrund der Vertreibung der Familie aus Danzig nach Grass’ eigenem
Bekunden keine »Schulzeugnisse und Frühprodukte [...] kein
Nachlaß aus Jugendjahren zur Hand ist« (Zwiebel 19, 58f.), wird für
uns Grass’ außerordentliche künstlerische und literarische Produktivität,
die nach des Autors eigenen vielfältigen Aussagen schon dem
Pennäler zu eigen war, erst durch die veröffentlichten Skulpturen,
Bilder und Texte und vor allem durch die Archivalien der Akademie
der Künste in Berlin aus den 50er Jahren greifbar.
Der Student und spätere Meisterschüler des Bildhauers Karl
Hartung orientierte sich, wie Neuhaus mehrfach plausibel gemacht
hat (zuletzt Neuhaus 2007), an den deutschsprachigen Maler- und
Bildhauerdichtern der klassischen Moderne, Ernst Barlach (1870–
1938), Alfred Kubin (1877–1959), Oskar Kokoschka (1886–1980)
und Hans resp. Jean Arp (1886–1966). Sie alle verstanden sich –
und gelten im öffentlichen Bewusstsein bis heute – als bildendende
Künstler, die im Zuge des der Moderne eigenen Strebens zum
gattungsüberschreitenden Gesamtkunstwerk auch literarische Texte
schufen, in Teilhabe an spezifi sch modernen Strömungen wie Symbolismus,
Surrealismus, Dadaismus und Phantastik.
Wie bei den Genannten stehen in Grass’ Frühwerk neben Werken
der Bildenden Kunst skurrile Dramen, Ballettlibretti, experimentelle
Prosa und spielerische bis hermetische Lyrik, in Grass’ eigenen
Worten »Prosa, die, von Kafka gespeist, an Magersucht krankte;
Theaterszenen, in denen die Sprache sich ins Versteckspiel verliebte,
Wortspiele, die lustvoll weitere Wortspiele heckten« (Beim Häuten
der Zwiebel, 19, 426). Seine erste Buchveröffentlichung Die Vorzüge
der Windhühner (1956) ist in ihrer Konzeption vom selbstgestalteten
Umschlag über den lyrischen Klappentext bis zu den als selbständige
Werke im Inhaltsverzeichnis zwischen den Gedichten und Prosaskizzen
aufgeführten Zeichnungen wie Kokoschkas Träumende Knaben
oder die Erstdrucke von Barlachs Dramen nur als Gesamtkunstwerk
adäquat zu würdigen. In der Deutung des Grass’schen Frühwerks als
Fortschreibung der frühen Moderne über den bis heute fortwirkenden
Einschnitt des ›Dritten Reichs‹ hinweg bietet sich der zukünftigen
Forschung noch ein weites Feld.
Wie bei seinen Vorbildern – hier vor allem Kokoschka und Arp
– teilt dabei der bildkünstlerische Teil dem wortkünstlerischen seine
4
Eigenart in einem gleichsam autonomeren Verhältnis zu ›Sinn‹ und
›Bedeutung‹ mit: Jedes gemalte, gezeichnete oder plastisch gestaltete
Werk ist in erster Linie es selber, referiert auf den dargestellten Gegenstand,
darüber hinaus aber höchstens sekundär auf einen ›Sinn‹.
Picasso hat einmal beklagt, dass man immer frage, was ein Kunstwerk
bedeute – man frage doch auch nicht beim Lied eines Vogels,
was es bedeute. Diese Selbstgenügsamkeit des bildnerisch Dargestellten
ist auch an den Texten Kokoschkas, Arps, Barlachs, Kubins und
eben auch des jungen Grass zu beobachten.
Aufgrund seiner frühen ausgeprägten Doppelbegabung im bildnerischen
wie im sprachlichen Bereich mag Grass auch gar nicht
differenzieren – in beiden Bereichen hantiert er mit Zeichen, und »in
Praxis überschreitet die zeichenhafte Vorstellung die Grenzen künstlerischer
Gattungsbestimmung, so irritierend verschieden jeweils das
Handwerk und seine Materialien sind« (15, 505). Hinzu kommt,
dass für Grass sprachliche Zeichen ebenso eindeutig sind wie graphische
– die Erfahrung von Hofmannsthals Lord Chandos hat Grass
nie gemacht, ihm sind nie »die abstrakten Worte, deren sich die
Zunge naturgemäß bedienen muß, [...] im Munde wie modrige Pilze
« zerfallen, stets repräsentierten sie für ihn die Dinge so ungefragt
und plastisch wie Zeichnung oder Skulptur.
Diese tiefe Ureinheit der Künste betont Grass schon für die
künstlerischen Anfänge der Menschheit. Das Ich im Butt, Künstler,
unsterblicher Märchenheld und Erzähler in Personalunion, muss von
Anfang an »zwanghaft überall Zeichen setzen«; »Aal und Reuse« werden
ihm »als Wortpaar Begriff« und von ihm zugleich »mit scharfem
Muschelrand« »ins Bild gebracht« (8, 31). Und noch in Beim Häuten
der Zwiebel zwingt Grass den Gegenstand wie seine schriftliche oder
bildkünstlerische Repräsentation in eine Formel: »In ganz eigener
und dinglicher Weltsicht fl ossen Wort und Zeichen aus einer Tinte«
(19, 425).
Für diese »bildnerische Begabung, de[n] zwanghafte[n] Drang,
Zeichen, Ornamente, Figuren in den Sand zu ritzen« (8, 51), bietet
das Altgriechische ein und dasselbe Wort an – graphein: ›ritzen‹,
und das heißt eben gleichermaßen ›zeichnen‹ wie ›schreiben‹. Auf
diese Urbedeutung scheint Grass zurückzugreifen, wenn er im Gespräch
mit Klaus Stallbaum am 16. September 1990 erklärt, der
Ursprung seiner künstlerischen Bemühungen sei »der vitale und
vulgäre Wunsch« gewesen, »Künstler werden zu wollen, der nicht
differenziert, der nur eins im Sinn hat, mit den Händen etwas zu
tun« (Neuhaus/Hermes 1991, 12). In seiner Autobiographie nennt
Grass »diese Turnübung« zwischen »Tongeruch und Gipsstaub« einerseits
und Satzfi ndungen andererseits »Spagat« – »Der Tänzer auf
Die 50er Jahre – das Jahrzehnt des Bildhauerpoeten
5
zwei Hochzeiten« (19, 427; am ausführlichsten äußert sich Grass zu
den Gemeinsamkeiten von Schreiben und Zeichnen in den Interviews
mit Boie und Wertheimer in Wertheimer 1999).
Erst 1959 wurde mit dem Erscheinen der Blechtrommel aus dem
Bildhauer, der auch skurrile Dichtungen schreibt, der Epiker, der
auch Gedichte schreibt und zeichnet – Grass’ Bild in der Öffentlichkeit
bis heute. Der ungeheure epische Schub – in nur fünf Jahren
entsteht die »Danziger Trilogie« mit weit über anderthalbtausend
Seiten –, führt für zwei Jahrzehnte zur Aufgabe der bildhauerischen
Arbeit; sie sei tagfüllend wie die Epik, hat Grass einmal gesagt.
Neuhaus (2007) entwirft eine Systematik der künstlerischen
Dreifelderwirtschaft bei Grass: Immer wenn der Epiker verstummt,
meldet sich der Graphiker, ab 1980 auch wieder der Bildhauer; beide
assistieren dann dem Lyriker. Gedicht, Zeichnung und Skulptur
werden für Grass in den fünfzig Jahren seit der »Danziger Trilogie«
zu den Rückzugs- und Aufmarschräumen des Epikers. So liegt zwischen
Aus dem Tagbuch einer Schnecke (1972) und dem Butt von
1977 eine graphische und lyrische Phase, zwischen Kopfgeburten
(1980) und Rättin (1986) entstehen ausschließlich Zeichnungen,
Tonskulpturen und später auch Gedichte, zwischen der Rättin
(1986) einerseits und Unkenrufe und Ein weites Feld (1992/95) andererseits
Zeichnungen, das indische Tagebuch und ein Langgedicht,
zwischen dem Weiten Feld und Mein Jahrhundert (1999)
Aquarelle und Gedichte, zwischen Im Krebsgang (2002) und Beim
Häuten der Zwiebel (2006) Zeichnungen, Skulpturen und Gedichte.
Vor dem unvorstellbaren internationalen Medienrummel um
die Autobiographie (vgl. Kölbel 2007) fl üchtet sich Grass in die
Gedichte und Zeichnungen des Dummen August und die aus Zeichnungen
und Dunkelkammergeschichten montierte Box (2008) und
die aus Gedichten und Prosaerzählung bestehenden Grimms Wörter.
Eine Liebeserklärung (2010).
Eine diese Abfolge darstellende Schautafel (Neuhaus 2007, 224)
veranschaulicht so, dass zwar im Lebenswerk von Grass Bildende
Kunst, Lyrik und Epik koexistieren, aber in klarer zeitlicher Differenzierung.
Plastik, Graphik und Lyrik oder experimentelle Skizzen fi nden
sich fast stets zur selben Zeit, und zwar in der Regel in Inkubationszeiten
späterer Großwerke: 1954 bis 1959, 1972 bis 1977, 1980
bis 1986, 1987 bis 1991, 1990 bis 2000, 2006 bis 2010. Grass kennt
keine Phasen des Verstummens, wie sie sonst fast allen großen Autoren
zu eigen sind. Wo Grass dichterisch wortwörtlich verstummt,
wird er regelmäßig künstlerisch beredt, greift zum Zeichenstift oder
zur Tonerde, so lange, bis aus der Materie wieder Wörter erwachsen
– Stillstand oder Leerlauf gibt es für ihn im Schöpferischen nicht.
Die 50er Jahre – das Jahrzehnt des Bildhauerpoeten
6
3. Das lyrische Werk
Marcel Reich-Ranicki hat Grass einmal einen großen Lyriker genannt,
der als Epiker immer wieder scheitere. Aber nur Große scheiterten,
kleinen Geistern gelänge, was sie sich vornähmen (Neuhaus
1996, 224f.). In der Tat bildet die Lyrik in Günter Grass’ Werk eine
durchgehende Konstante. Sie ist nicht nur zusammen mit den
Bildhauerarbeiten und der Graphik seine früheste künstlerische
Ausdrucksform, Grass hat sie auch bis hin zu den jüngsten Gedichtbänden
nie aufgegeben; entsprechend umfangreich ist sein lyrisches
OEuvre. Neben Einzelveröffentlichungen und der Lyrik in epischen
Texten wie Aus dem Tagebuch einer Schnecke, dem Butt, der Rättin,
Zunge zeigen, Grimms Wörter und Fünf Jahrzehnte hat Grass 12
selbstständige Lyrikbände veröffentlicht: Die Vorzüge der Windhühner
(1956), Gleisdreieck (1960), Ausgefragt (1967), Mariazuehren
(1973), Liebe geprüft (1974), Mit Sophie in die Pilze gegangen (1976),
Ach Butt, dein Märchen geht böse aus (1983), Novemberland 1993,
Fundsachen für Nichtleser, Letzte Tänze (2003) und Dummer August
(2007) sowie den Auswahlband Lyrische Beute (2004).
Zugleich ist die Lyrik für Günter Grass die Gattung, zu der er
die engste Beziehung hat, sie ist die Keimzelle der Dramen und der
epischen Werke. »Alles, was ich bisher geschrieben habe, ist aus lyrischen
Momenten entstanden, gelegentlich [...] mit Ausweitungen
bis zu 700 Seiten« (Rudolph 1971, 64). Für die Dramen hat Grass
diese Entwicklung aus der Gedichtform direkt beschrieben (s. S. 9),
für seine Romane hat er, ebenfalls im Gespräch mit Rudolph, auf
die Gedichte »Polnische Fahne« (1, 31) und »Die Vogelscheuchen«
(1, 78f.) als Komplexvorformen von Blechtrommel und Hundejahren
hingewiesen, und die Mappe Mit Sophie in die Pilze gegangen enthält
in den in die Lithographien eingeschriebenen Gedichten bereits alle
Themen des Butt (Neuhaus 1995).
Lyrik wie Graphik sind dabei in ihrer Funktion zunächst ausschließlich
auf ihren Urheber bezogen. Während das Drama ein
Publikum voraussetzt, vor dem es abläuft, und das Erzählen einen
Zuhörer fordert, dem man erzählt – bei Grass wird das an der häufi g
miterzählten Kommunikationssituation deutlich –, sind die Gedichte
in ihrer Mehrzahl nicht kommunikativ gemeint. Das Gedicht ist
für Grass »immer noch das genaueste Instrument, mich neu kennenzulernen
und neu zu vermessen« (WA X, 171). Für die Mehrzahl der
7
Grass-Gedichte gilt daher, dass sie im Grunde nur von ihrem Autor
adäquat verstanden werden können. So hat Cunliffe (1969, 30) mit
Recht von »a purely personal imagery« gesprochen.
Dem Leser und Interpreten erschließen sie sich nur in dem Maße,
wie sich der Autor ihnen mehr und mehr erschließt. Im 1956
veröffentlichten Gedicht »Lamento bei Glatteis« (I, 35f.) wird der
Passus »Der Duft um Kerne / aufgetan, das Bittre deutlich, / so als
wär der Kern die Summe / und Beweis, daß Obst schon Sünde« über
ein gewagtes Vermuten hinaus deutbar erst durch das 16 Jahre später
erschienene Aus dem Tagebuch einer Schnecke: »Franz sagte: ›Magste
Backpfl aumen?‹ – Später knackte ich Kerne: diese gelinde Spur Blausäure
... Doch dann kam Bruno, und das Leben begann wieder« (7,
125, s. auch 174: »80 bittere Mandeln enthalten die tödliche Dosis
von 60 mg Blausäure. (Die Mandel als Metapher: Celan-Zitate) [...]
Bittermandelgeruch«). Der so entschlüsselte Hinweis auf den Tod ermöglicht
es dann, eine Beziehung zu »Sünde« herzustellen über Römer
6, 23 »Der Tod ist der Sünde Sold« und zu Grass’ Bildern vom
Sündenfall als dem Ur-Sprung der gefallenen Schöpfung (s. S. 72).
Während die Gedichte in Aus dem Tagebuch einer Schnecke und
Der Butt durch ihre Einbettung ins Prosawerk von vornherein in
ihren eigenen Verständnishorizont eingezeichnet erscheinen, werden
die früheren Gedichte erst dadurch verständlich, dass das, was sie als
Komplexvorform enthalten, an anderer Stelle vom Autor diskursiv
entfaltet wird. Geschieht dies nicht, bleiben die im Gedicht genannten
Dinge vielfach völlig stumm. Der Kommentar in der »Werkausgabe
« von 1987 sah deshalb eine wichtige Aufgabe im Nachweis von
Parallelstellen bei Grass’ Bildgebrauch und führt auch Bezüge zum
graphischen Werk auf.
Leichter zugänglich sind die Gedichte, die den Bezug von der
Bild- zur Sinnebene selbst herstellen, etwa das Gedicht »König Lear«
durch den Namen Kortner (1, 160, vgl. die Interpretation von Hinderer
1978). Solche Gedichte, die den Weg vom Konkreten zum
Abstrakten andeuten oder selbst gehen, haben bevorzugt Interpreten
gefunden; wie beispielhaft die Interpretationen von Metzger-
Hirt (»Askese«, 1965), Riha (»Annabel Lee«, 1965) und Forster
(»Kirschen«, 1966) zeigen, sind auch solche Gedichte befriedigend
nur zu interpretieren, wenn man die Bildlichkeit des Gesamtwerks
einbezieht.
Es war für die weitere Forschung richtungweisend, dass Theodor
Wieser 1968 in der Einleitung zu seiner Gedichtauswahl eine
Zusammenstellung der für Grass wichtigsten Bildbereiche und
Motivkomplexe unternommen hat. Ansätze bei Rothenberg 1976
(162ff.) wurden in der Folgezeit aufgegriffen und fortgeführt: Ange-
Das lyrische Werk
8
lika Hille-Sandvoß hat in ihrer Dissertation (1987) den Zusammenhang
zwischen der graphischen und der sprachlichen »Bildlichkeit«
untersucht, Klaus Stallbaum 1989 die wichtigsten Bildkomplexe im
»Frühwerk« (bis zu den Hundejahren) gedeutet und durch Register
erschlossen, Dieter Arker 1989 eine materialreiche Studie zur Bildlichkeit
im Blechtrommel-Umfeld vorgelegt. Als weitere Beispiele für
Interpretationen Grass’scher Gedichte unter Berücksichtigung der
spezifi schen ›Ikonographie‹ dieses Autors seien die Aufsätze von Frizen
1992 und Neuhaus 1985 genannt. Eine äußerst umfängliche, die
bisherige Forschung aufgreifende und weiterführende Analyse des
gesamten lyrischen Werks bis hin zu Ach Butt bietet Stolz 1994, 23-
159. Zum Verhältnis von sprachlichen und bildkünstlerischen ›Zeichen‹
bei Grass vgl. auch Hoesterey 1988; Jensen in Arnold 1988,
58-72; Thompson in Hermes/Neuhaus 1990, 115-126; Mayer 1985,
179-195.
Alle diese Ansätze fasst in Fortschreibung der kommentierten
Werkausgabe von 1987 Frizen 2010 zusammen und bildet somit
die unerlässliche Grundlage für jede weitere Beschäftigung mit dem
Lyriker Grass: Eine ausführliche »Einführung« ›Lyrische Beute‹ aus
fünf Jahrzehnten stellt, zusammen mit vielen Einblicken in die Berliner
Archivbestände, der Chronologie der Gedichtbände folgend das
Gesamtwerk vor; ein weit über 300-seitiger Stellenkommentar weist
neben Sacherläuterungen genau jene Parallelen nach, die uns letztlich
das Grass’sche Bildlexikon erschließen. Der Band ist gleichzeitig
die beste Übersicht über Grass’ Kurzprosa aus seinen Anfängen wie
über die Geschichten, die Grass als Mystifi kation unter dem Namen
eines in Ersten Weltkrieg gefallenen Onkels, Artur Knoff, in einer
Edition des Literarischen Colloquiums Berlin 1968 vorlegte.
Das lyrische Werk
9
4. Das dramatische Werk als Gestaltung
des Grass’schen Existenzialismus
Überblick und Phaseneinteilung
Wie bildende Kunst und Lyrik reichen auch Grass’ Arbeiten für die
Bühne weiter zurück als das erzählerische Werk, das ihn berühmt
gemacht hat. Grass hat einmal mitgeteilt, der Weg
»von der Lyrik zum Theaterstück« habe sich »so vollzogen, daß Gedichte, die
in Dialogform geschrieben waren, sich erweiterten. Das war kurz nach dem
Krieg. Dann kamen langsam, nach und nach, Regieanweisungen dazu, und
so habe ich nebenbei, neben meinem damaligen Hauptberuf, der Bildhauerei,
das erste Theaterstück entwickelt. Darum habe ich in verhältnismäßig
kurzer Zeit, von 1954 bis 1957, vier Theaterstücke und zwei Einakter geschrieben,
die genau wie die Lyrik und die Prosa phantastische und realistische
Elemente in sich haben, die sich aneinander reiben und kontrollieren
[...]« (zit. bei Tank 1974, 35).
Dieter Stolz’ Kommentar- und Materialienband (Stolz 2010) macht
zusammen mit Weyers Ausführung zu Grass und die Musik (Weyer
2007, 114–144) deutlich, in welch stupendem Umfang Theaterentwürfe
im weitesten Sinne Grass’ literarisches Hauptgeschäft in den
späteren 50er Jahren sind, kommen diese Dramenskizzen, Dramen,
Ballettlibretti und -entwürfe doch seinem damaligen Konzept vom
Gesamtkunstwerk am nächsten. Schon die von Stolz im Faksimile
reproduzierten Skizzen aus damals geführten Arbeitstagebüchern verbinden
Text und Bild, warten auf zukünftige Vertonung, Choreographie
und tänzerische Verkörperung (Stolz 2010, 236f.).
Als »geistige Ahnen« nennt Grass » Büchner, Büchner, immer
wieder Georg Büchner! Von ihm kommt alles her. Die Becketts, Ionescos,
Adamovs haben alle von ihm gelernt« (X, 6, zum Büchner-
Einfl uss vgl. Stallbaum 1989, 45ff.). Grass hat die erste Phase seines
dramatischen Schaffens, – Beritten hin und zurück (UA 1959, ED
1958), Hochwasser (UA 1961, ED 1960), Onkel, Onkel (UA 1958,
ED 1965), Noch 10 Minuten bis Buffalo (UA 1959, ED 1958), Die
bösen Köche (UA 1961, ED als Bühnenmanuskript 1957), Zweiunddreißig
Zähne (UA als Hörspiel 1959 SR, ED als Bühnenmanuskript
1958), Beton besichtigen (auch Mystisch barbarisch gelangweilt) (UA
1963, ED in Die Blechtrommel (1959) – deutlich von einer zweiten
Phase abgegrenzt, die mit dem Einakter in der hundertsten »Ma10
terniade« der Hundejahre (UA 1964, ED 1963) beginnt und über
Die Plebejer proben den Aufstand (UA und ED 1966) zu Davor (UA
und ED 1969) führt. Die erste Phase ordnet er selbst dem »absurden
Theater« und dem »poetischen Theater« zu, die »neue Phase der
Theaterarbeit« steht im Zeichen einer neuen Dramaturgie, für die er
an Brechts Weg vom »epischen zum dialektischen Theater« anknüpft
(Rudolph 1971, 65f.),
»weg von der dramatischen Handlung in die dialektische Auseinandersetzung
hinein, die Ambivalenz der Wahrheit zeigen, den Zwiespalt einer Situation,
und daraus eine Spannung ziehen. Das habe ich in zwei Stücken
unternommen: ›Die Plebejer proben den Aufstand‹ und ›Davor‹. In beiden
Stücken wechselt dauernd die Position. Man fragt sich: Wer ist hier im
Recht? Wer ist der eigentliche Motor des Geschehens? Die Handlung, die
sonst ein Theaterstück bis zum dramatischen Höhepunkt treibt, erscheint
dann sekundär« (X, 188).
Gemeinsam ist den Stücken beider Phasen ein Zug, den Schultheis
(1976) als »Drama der Verhinderung« bezeichnet hat: »Bis auf eine
Ausnahme (›Hochwasser‹) wird die Struktur in Grass’ Dramen vom
Prinzip der Retardation bestimmt« (ebd., 881). »Vom Schaukelpferd
zum Zahnarztstuhl«, vom ersten bis zum letzten Stück leben die
dramatischen Arbeiten davon, dass letztlich nicht gehandelt wird.
Eine gründliche Darstellung des gesamten dramatischen Komplexes
bei Grass, die jedes Stück unter Diskussion der bisherigen Forschung
deutet, fi ndet sich bei Stolz 1994, 160-252.
Absurdes Theater und Camus-Rezeption
Das absurde Theater, in dessen weiterem Zusammenhang die erste
Phase von Grass’ Theaterschaffen steht, demonstriert mit dem »Fehlen
jeglicher Aussage« ein Selbstverständnis, dem die Welt stumm
und bedeutungslos bleibt:
»Das Leben sagt ja auch nichts aus.« »So wird das Theater des Absurden
quasi zur Stätte eines symbolischen Zeremoniells, bei dem der Zuschauer
die Rolle des Menschen übernimmt, der fragt, und das Stück die Welt darstellt,
die vernunftwidrig schweigt, das heißt in diesem Falle: absurde Ersatzantworten
gibt, die nichts anderes zu besagen haben, als die schmerzliche
Tatsache, daß es keine wirkliche Antwort gibt« (W. Hildesheimer: Erlanger
Rede über das absurde Theater; vgl. dazu insgesamt Esslin 1964; Spycher in
Geißler 1976, 62-65).
So entspringt Grass’ Phase des absurden Theaters zwei Wurzeln:
Zum einen sind neben den frühen Gedichten die Lustspiele sicht-
Das dramatische Werk
11
barster Ausdruck seiner Lust am Spiel, seiner surrealistischen Spiellust,
zelebrieren nach Lautréamonts berühmter Formel »die zufällige
Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem
Seziertisch«. Gemäß dem Shakespeare-Motto, das Büchner Leonce
und Lena vorangestellt hat, geht der »Ehrgeiz« des Autors dabei auf
nichts Ernsteres oder Wichtigeres als »eine bunte Jacke«.
Zugleich aber verkündigen sie wie die Stücke Ionescos oder Hildesheimers
als ernste Seite derselben Medaille die Botschaft von der
Absurdität der Welt. Spycher (Geißler 1976, 62) hat Camus’ Mythe
de Sisyphe geradezu als ›Bibel‹ der absurden Bewegung bezeichnet.
Grass war nach eigenem Bekunden (Kg 10, 84) nach dem Totalverlust
des katholischen Glaubens seiner Kindheit und der nationalsozialistischen
Ideologie seiner Jugend für die Camus’sche Weltsicht
geradezu prädisponiert. Katholizismus und Nazismus hatten beim
jungen Grass wie bei vielen jungen Menschen seiner Generation
durchaus koexistiert: »Und aufgewachsen bin ich zwischen / dem
Heilgen Geist und Hitlers Bild« (1, 198). Der frühere Messdiener
muss sogar ein besonders fanatischer Jungnazi gewesen sein, sonst
wäre er wohl kaum trotz seiner ›slawischen Abstammung‹ und seines
nicht gerade sehr germanischen Aussehens in die engere Auswahl für
eine SS-Junkerschule für Führungsnachwuchs genommen worden
(Zwiebel 19, 181f.). In dem Vakuum, das entstand, als ihm lange
nach dem 8. Mai 1945 das Verbrecherische des Nationalsozialismus
schmerzlich bewusst wurde, als »das Zweifeln« ihn »gründlich befähigte,
jedweden Altar abzuräumen und [s]ich jenseits vom Glauben
zu entscheiden«, entzündeten sich ihm keine neuen »Hoffnungsfeuer
«. Sein »unterkühltes Gemüt« wärmte weder wie bei Christa Wolf
der Marxismus als »das Verlangen nach dauerhaftem Frieden und
Gerechtigkeit für alle« noch, wie im Westen meist üblich, der banale
Zukunftsoptimismus und das »Konsumglück des ›American way of
life‹« (19, 86f.). Grass hielt dieses Vakuum aus, ohne jedoch dem
Absurdismus zu verfallen und zynisch zu werden. Die Lektüre von
Camus’ Mythos des Sisyphos öffnete ihm nicht etwa die Augen – die
waren schon weit offen –, sondern half ihm eher, seine noch unklare
neue Sicht der Welt in Worte zu fassen. »Doch vorher schon, ohne
Kenntnis des sogenannten Absurden, dumm, wie mich der Krieg
entlassen hatte, war ich, der Zwanzigjährige, mit allen Seinsfragen
und also mit dem Existenzialismus auf du« (Kg 10, 84).