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Familie(n) heute Entwicklungen, Kontroversen, Prognosen
Familie(n) heute
Entwicklungen, Kontroversen, Prognosen




Dorothea Krüger, Holger Herma, Anja Schierbaum (Hrsg.)

Juventa Verlag , Beltz
EAN: 9783779928355 (ISBN: 3-7799-2835-3)
416 Seiten, paperback, 15 x 23cm, Januar, 2013

EUR 34,95
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Neues über Familie(n) heute: Der Band zeigt aktuelle Entwicklungen und greift familien- sowie paarsoziologische Diskurse und Kontroversen auf. Er informiert über Familienrealitäten, Geschlechterverhältnisse, Leitbildwandel und Alltagspraxen in Familie und Paar. Die Beiträge bieten dem Fachpublikum sowie Studierenden Überblick über den aktuellen Diskussionsstand und laden ein zur vertiefenden (Eigen-)Forschung.

Was definiert Familie(n) heute? Konstellationen der Familie verändern und erweitern sich – gibt es Universalien oder eher Diversifizierung, gar Auflösung? Dieser Band zeigt die Vielfalt familialer Lebensformen und bietet sozialgeschichtliche Überblicke. Auch die Paarbeziehung als eigengesetzliche Realitätsebene kann mit Familie verschränkt sein und erfordert ebenso Solidarität und Kooperation.

Themen sind: Familienideal und Familienrealität, das Kind im ‚doing family‘, prekäre Lebenslagen, Gleichheit und Differenz in Familie, Wandel der Geschlechterverhältnisse und Familienmilieus; ebenso Rechtsreformen, gleichgeschlechtliche Familien und die Zukunft der Familie.
Rezension
Lehrerinnen und Lehrer haben es mit Kindern zu tun, die aus ganz unterschiedlichen familiären Kontexten stammen und die "Familie", in der das Kind aufwächst, spielt eine entscheidende Rolle als Ansprech-Adresse für Lehrkrafte und ist für die schulischen Leistungen des Kindes/Jugendlichen wesentlich mitverantwortlich. Familie aber verändert sich z.Zt. in vielfältiger Hinsicht bedingt durch gesellschaftlichen und kulturellen Wandel und Migration und Globalisierung. Dieser Band fragt in erhellender Weise nach "Familie(n) heute" (Titel) und konfrontiert lesende Lehrer/innen mit neuen Familien-Realitäten in "Entwicklungen, Kontroversen, Prognosen" (Untertitel). Das traditionelle bürgerliche Familienideal in Deutschland ist jedenfalls in weiten Teilen passé ...

Dieter Bach, lehrerbibliothek.de
Inhaltsverzeichnis
Familie(n) heute – Entwicklungen, Kontroversen, Prognosen.
Eine Einführung in die Thematik 9

Kapitel I
Entwicklungslinien von Familie: sozialhistorische Bezüge


Rosemarie Nave-Herz
Eine sozialhistorische Betrachtung der Entstehung und Verbreitung des Bürgerlichen Familienideals in Deutschland 18

Karl Friedrich Bohler
Die traditionelle Bauernfamilie und das Ende eines Entwicklungspfads 36

Anja Schierbaum
Eine Minimalskizze der Entwicklung von Familie, Familienleitbildern und Familienformen 51

Dorothea Christa Krüger
Gleichstellung in der Differenz oder Differenz in der Gleichstellung?
Zum Verhältnis der Geschlechter in Partnerschaft und Familie seit der Nachkriegszeit 71

Kapitel II.1
Familie(n) heute: Konstellationen, Rechtsformen, Familienpolitik


Karl Lenz
Was ist eine Familie? Konturen eines universalen Familienbegriffs 104

Sonja Bastin, Michaela Kreyenfeld und Christine Schnor
Diversität von Familienformen in Ost- und Westdeutschland 126

Doris Mathilde Lucke
Jenseits von Ehestand und Geschlechtsklasse. Familienrechtliche Reformen als Grundlage für die Egalisierung und Pluralisierung privater Lebensformen 146

Barbara Thiessen
Vom Versuch private Care-Arbeit öffentlich zu steuern. Entwicklungen und Herausforderungen der Familienpolitik 175

Kapitel II.2
Familie(n) heute: Prekarität, Kinder und gleichgeschlechtliche Familien


Bruno Hildenbrand
Die Familie und die précarité. Fragestellungen, Methoden, Fallbeispiele 190

Meike Sophia Baader
Kinder und ihre Familien. Kinder im „doing family“, Familienerziehung und „family care“ als Desiderate der Familienforschung 220

Dorett Funcke
Familiale Beziehungsgestaltung unter der Bedingung von Gleichgeschlechtlichkeit und Fremdsamenspende. Die „Idee der Gleichheit“ und ihre Grenzen 244

Kapitel III
Paarbeziehungen – Binnenstrukturen und Wandlungstendenzen


Holger Herma
Modernisierte Biografien und traditionale Beziehungsvorgaben. Das ‚Skeptisch-Bleiben‘ gegenüber dem Paar 276

Waltraud Cornelißen und Nina Bathmann
Doppelkarrierepaare – gleichgestellt oder doch in der „Illusion der Emanzipation“? 304

Kai-Olaf Maiwald
Solidarität in Paarbeziehungen – Eine Fallrekonstruktion 324

Michael Hofmann
Ostdeutschland als Konservenbüchse traditioneller Männlichkeit 343

Kapitel IV
Ein Ausblick auf die Zukunft von Familien und Paaren


Cornelia Koppetsch
Wiederkehr des bürgerlichen Familienmodells? Die Zukunft der Geschlechter in der Klassengesellschaft von morgen 360

Heike Kahlert
Familie und Gleichstellung. Thesen zur gesellschaftlichen Zukunftsfähigkeit 378

Günter Burkart
Konsequenzen gesellschaftlicher Entwicklungstrends für Familie und private Lebensformen der Zukunft 392

Die Autorinnen und Autoren 413



Leseprobe:

Rosemarie Nave-Herz
Eine sozialhistorische Betrachtung der Entstehung und Verbreitung des Bürgerlichen Familienideals
in Deutschland

Abstract: Das Thema meines Beitrages ist die Klarstellung der Unterscheidung zwischen
Familienidealen und den in der Realität gegebenen Familienmodellen. Ebenfalls möchte ich
an einigen Beispielen die Probleme aufzeigen, die hervorgerufen werden durch die Differenzen
zwischen anerkannten Familienidealen und den gelebten Realitäten. Als Soziologin, die
der Tradition Max Webers folgt, habe ich jedoch nicht zu bewerten bzw. vorzugeben, wie
Ehe und Familie gestaltet werden sollten, sondern familiale Ideale sowie konkrete Familienformen
zu analysieren, d. h. zu beschreiben, nach den verursachenden Bedingungen ihrer
Entstehung und ihres Bestehens sowie ihrer Verbreitung, Anerkennung usw. zu „fahnden“.

Einleitung
Familien sind nicht als eine „naturhafte Gemeinschaft“ aufzufassen. Ehe
und Familie haben sich in unserem Kulturkreis immer wieder gewandelt.
Wichtig ist es, in einer Diskussion über familiale Veränderungen stets zu
bedenken, dass zwischen Familienidealen bzw. Familienleitbildern und der
konkreten familialen Realität zu unterscheiden ist. Beide Dimensionen werden
leider allzu oft miteinander vermischt. Zuweilen werden sogar gesellschaftlich
besonders anerkannte Familienformen, also Familienideale, als
die „normalen Familienmodelle“ und die am häufigsten vertretenen Lebensformen
angesehen. Dagegen existierten in der sozialen Realität immer – wie
heutzutage – stets verschiedene Daseinsformen nebeneinander, von denen
aber nur eine bestimmte Lebensform als Ideal galt; doch nur wenige Menschen
konnten diese Existenzform für sich wählen.
Im ersten Teil meines Beitrages möchte ich auf die Vorläuferin des Bürgerlichen
Familienideals eingehen, auf die Institution des Ganzen Hauses,
die in der vorindustriellen Zeit als Ideal in Deutschland galt. Nur auf diesem
Wege kann die Besonderheit, die Neu- und Andersartigkeit des Bürgerlichen
Familienideals deutlich gemacht werden. Der Rückbezug auf die Geschichte
ist außerdem notwendig, weil wir durch das Eingebundensein in
die gegenwärtige Gesellschaft häufig nicht in der Lage sind, die historische
Bedingtheit heutiger Lebenslagen und ebenso ihrer Probleme zu erkennen –
eine Vorbedingung zur Lösung gegenwärtiger gesellschaftlicher Spannungen
und sozialer Konflikte.
Der zweite Teil widmet sich dann der eigentlichen Frage nach dem Bürgerlichen
Familienideal, nach den Bedingungen, die für die Ausprägung
dieses Familienmodells verursachend waren und nach seiner realen Verbreitung.
Hier zeige ich, dass das Bürgerliche Familienideal, obwohl es jahrhundertelang
als Ideal gepriesen sowie als naturbedingt und gesellschaftlich
funktional von Wissenschaftlern etikettiert wurde, in der sozialen Realität
für die Mehrzahl der Bevölkerung nur für ca. zwei Jahrzehnte faktische
Gültigkeit besaß. Dennoch hat das Bürgerliche Familienideal bis heute kaum
(vor allem in Westdeutschland) bzw. nur in einigen Dimensionen an normativer
Kraft eingebüßt. Diese Diskrepanz zwischen dem in der Bevölkerung
noch vielfach als erstrebenswert anerkannten, aber antagonistischen familialen
Idealbild und der heutigen sozialen Lebensrealität kann nicht nur zu
gesellschaftspolitischen Konflikten, sondern auch zu individuellen psychischen
Problemen führen.
Der Begriff „Familie“ bezieht sich im folgenden Beitrag nicht nur auf
die Kernfamilie, sondern auch auf die Mehrgenerationen-Familie. Konstitutives
Merkmal von Familie ist gerade die Generationendifferenzierung; ein
Ehesubsystem kann gegeben sein, muss aber nicht. Zudem besteht ein besonderes
Kooperations- und Solidaritätsverhältnis zwischen ihren Mitgliedern,
das auf Tradition, Sitte oder Gesetz beruht (vgl. ausführlicher Nave-
Herz 2008: 279; 2012). Für die Beschreibung von familialem Wandel ist es
zwingend, eine Definition von Familie zu wählen, die gekennzeichnet ist
durch ein hohes Abstraktionsniveau, um nicht von vornherein durch die Begrifflichkeit
genau das auszublenden, was man untersuchen will, z. B. die
Entstehung neuer Familienformen oder das gewandelte Verhältnis zwischen
den Herkunftsfamilien und den neu gegründeten Kernfamilien.
Der Begriff der Bürgerlichen Familie hat sich in der Soziologie durchgesetzt,
obwohl mit ihm nicht deutlich wird, auf welche Gruppe von Bürgern er
sich bezieht: nämlich nur auf das sog. Hoch- bzw. Bildungsbürgertum, nicht
aber auf die Mehrzahl der Kleinbürgerlichen Familien, die vom Einkommen
ihres kleinen Kaufladens oder Handwerksbetriebes, ihrer Gaststätte oder von
den Einkünften aus anderen Gewerben oder Dienstleistungen lebten.
In Alltagsvorstellungen wird mit dieser Familienform häufig nicht nur
das Zusammenfallen von Wohnen und Arbeiten assoziiert, sondern auch eine
hohe Personenzahl. Diese sei bestimmt worden durch die im Haushalt lebenden
und arbeitenden Knechte bzw. Gesellen, Lehrlinge sowie Mägde,
eine hohe Kinderschar und durch das Vorherrschen der Drei-Generationen-
Familie. Selbstverständlich gab es derartige Haushalte mit zwölf und mehr
familienfremden Personen und zuweilen auch die mit einer Drei-Generationen-
Familie, aber diese waren sehr selten (vgl. ausführlicher Nave-Herz
2006: 37 ff.). Sie bildeten eine Minorität. Es handelte sich hierbei lediglich
um wenige sehr wohlhabende Familien, die allerdings das dörfliche Leben
bestimmten. Ihre Lebensform genoss deshalb eine besondere Anerkennung
und somit galt dieses – von wenigen Menschen praktizierte – Familienmodell
damals als Familienideal.
Die Mehrzahl der Familien in jener Zeit bestand jedoch lediglich aus
den engsten Familienmitgliedern. Zu bestimmten Jahreszeiten oder während
des ersten Familienzyklus, wenn die eigenen Kinder noch sehr klein waren
und keine arbeitsfähigen Großeltern mehr lebten, wurde besonders in den
kleinbäuerlichen Familien evtl. noch ein Knecht und eine Magd in den
Haushalt aufgenommen (Gestrich 2008: 82). Neben den Familien mit Produktionsfunktion
gab es viele Familien, die eigentumslos waren und somit
zu den unteren Schichten zählten. Ihnen wurde nur der Status eines „minderen
Rechts“ zugebilligt, bezogen z. B. auf Schutz- und Bürgerrechte. Ihre
Familienmitglieder gingen einer außerhäuslichen Erwerbsarbeit nach.
In den Städten arbeiteten gegen Arbeitslohn die Gerichtsdiener, Nachtwächter,
Türsteher und andere untere Bedienstete. Zuweilen besaßen einige
dieser Familien zusätzlich einen Acker, einen Garten und/oder Vieh. Auf
dem Lande zählten zu ihnen die Häusler-, Inwohner- und Tagelöhnerfamilien.
Ihre Kinder mussten sie so früh wie möglich (spätestens mit zehn Jahren)
aus wirtschaftlicher Not außer Haus geben. Diese arbeiteten als Hilfskräfte,
Hütejungen, Mägde usw. in fremden Haushalten. Alle Frauen und
Mütter dieser Familien, sowohl in der Stadt als auch auf dem Land, halfen
in „fremden“ Haushalten aus und verdingten sich z. B. als Waschfrauen und
Näherinnen oder als Küchenhilfen bei bestimmten Anlässen (Hochzeiten,
Taufen usw.). Auf dem Land beteiligten sie sich zudem bei der Feldarbeit.
Ihre Mithilfe wurde sporadisch abgerufen und ihre Entlohnung bestand
überwiegend aus Naturalien.
Bis ca. Anfang des 18. Jahrhunderts waren also Frauen und Mütter aller
sozialen Schichten (mit Ausnahme des Adels) an der Erwerbsarbeit mitbeteiligt,
im eigenen Betrieb eingebunden oder sie gingen einer außerhäuslichen
Erwerbstätigkeit nach. „Keiner verlangte, dass ein Mann seine ‚eigene‘
Familie im Alleingang finanzierte.“ (Coontz 2011: 35) Die Säuglinge
und Kleinstkinder nahmen die Mütter zuweilen mit, z. B. zur Feldarbeit, ließen
sie zu Hause allein oder in der Obhut von älteren Geschwistern oder
von alten bzw. kranken Familienmitgliedern (Shorter 1977).
In Bezug auf die Zusammensetzung des Kreises der engsten Familienmitglieder
und somit im Hinblick auf die Familienformen gab es damals
zudem eine größere Vielfalt als heute (vgl. ausführlicher Nave-Herz 2009).
So war die Zahl der Stief-, der Adoptions- sowie der Patchworkfamilien
hoch. Ferner lebten Großeltern bzw. ein Großelternteil mit Enkeln zusammen.
Der Anteil alleinerziehender Mutter- und Vaterfamilien war ebenfalls
groß. Häufig zählten zu den Familienmitgliedern „Zieh“- und Pflegekinder.
Diese damalige Pluralität von Familienformen war das Resultat der in jener
Zeit gegebenen geringen Lebenserwartung der Menschen infolge von Hungersnöten,
Seuchen, medizinischer Unkenntnis, Unfällen und Kriegsereignissen.
In den Unterschichten waren aus ökonomischen Gründen Wiederverheiratungen
von Witwern und Witwen selten, in Familien mit Produktionsfunktion
jedoch häufig sogar betriebsnotwendig, weil die Familienrolle
zusammenfiel mit einer Berufsrolle, die eine auf Vertrauen und Ehrlichkeit
basierende Schlüsselposition im Hinblick auf den Besitz und die Einnahmen
war. Daher waren in jener Zeit nicht selten völlig andere Alterskonstellationen
zwischen den Ehepaaren gegeben als heute: „Bis ins 18. Jahrhundert
begegnet man im städtischen wie im ländlichen Raum sehr häufig dem
Phänomen altersungleicher Paare. Es kommen nicht nur Männer mit Frauen
vor, die um Jahrzehnte jünger sind, sondern auch Frauen mit weitaus jüngeren
Männern.“ (Mitterauer 1989: 185)
In den Familien mit Produktionsfunktion bedingte zudem neben der Variabilität
in Bezug auf die personale Zusammensetzung die jeweilige Produktionsweise
(Landwirtschaft/Handwerk/Handel) unterschiedliche Lebensweisen.
Doch galt gleichermaßen für alle Familien in der vorindustriellen
Zeit, dass sie Haushaltsfamilien waren, d. h. der Haushalt bzw. das Haus
(selbstverständlich in sehr unterschiedlicher Größe und Ausstattung) stand
im Mittelpunkt des Familienlebens. Mitterauer bezeichnet dieses Familiensystem
deshalb als „domozentrisch“ (Mitterauer 2003: 358).
Zwischen den Haushaltsmitgliedern gab es in jener Zeit wie heute individuelle/
persönliche Beziehungen, die Nähe, Intimität und Geborgenheit
vermittelten. Doch diese waren nicht zwischen bestimmten Personengruppen
festgeschrieben, wie z. B. heute zwischen den Ehepartnern, zwischen den
Eltern und ihren Kindern. Die Liebe zwischen den Ehepartnern (nicht im
Sinne des „romantischen Liebesideals“) war zwar ein altes biblisches Gebot,
spielte aber jahrhundertelang für die Eheschließung eine untergeordnete
Rolle. Das eheliche Bündnis sollte vor allem nicht auf Leidenschaft, sondern
auf Zuverlässigkeit und Achtung des Partners beruhen sowie gegenseitige
Unterstützung garantieren. Letzteres galt trotz gesetzlich abgesicherten
patriarchalischen Ehestrukturen.
Zudem war die Ehe in der vorindustriellen Zeit der Herkunftsfamilie untergeordnet.
Deshalb galten damals auch andere Partnerwahlkriterien als
heute: das Arbeitsvermögen eines Partners oder einer Partnerin, die Gesundheit,
bestimmte Persönlichkeitsmerkmale (Fleiß, Zuverlässigkeit, Inte-
grationsvermögen) und die Höhe der Mitgift. Vor allem in den besitzenden
Schichten herrschten (wegen dieser Mitgift) die arrangierten Ehen vor. So
wurde zwischen den beiden Herkunftsfamilien die Partnerauswahl und die
Abstimmung über die materielle Ausstattung der Kinder bei Eheschließung
getroffen, was jedoch keineswegs eine Zwangsheirat bedeutete. Die Zustimmung
der Töchter und Söhne zu einer Heirat war in unserem Kulturkreis
(mit Ausnahme der adligen Familien) immer notwendig.
Die Kinderzahl war in den vorindustriellen Familien, entgegen weit verbreiteter
Meinung, wegen der hohen Säuglings- und Kindersterblichkeit gering.
In Bezug auf diese Zeit ist es deshalb besonders wichtig, zwischen Geburten-
und Kinderzahl explizit zu unterscheiden. Die Geburtenzahlen waren
hoch (acht bis zehn), die Kinderzahl pro Familie war dagegen gering,
nämlich durchschnittlich drei bis vier.
Aus der Diskrepanz zwischen hoher Geburtenzahl bei gleichzeitiger hoher
Säuglingssterblichkeit leitet z. B. Shorter (1977) die sachlichere Beziehung
zwischen Müttern und ihren Säuglingen in der vorindustriellen Zeit
ab – ein Sachverhalt, der uns heute unverständlich erscheint. Die emotionslosere
Zuwendung der Mutter zu ihren Kindern wurde zudem dadurch bedingt,
dass die Schwangerschaft, die Geburt und das Wochenbett durch das
sog. Kindbettfieber für die Frauen aller sozialen Schichten, aber überproportional
für die unteren, mit einem Lebensrisiko verbunden war. Ebenso
trugen die materiellen Existenzbedingungen bzw. die Existenznot der breiten
sozialen Schichten dazu bei, dass Schwangerschaften nicht immer „willkommen“
geheißen wurden: Kinder stellten eine ökonomische Belastung
dar, bis sie selbst zum Familienunterhalt etwas beitragen konnten.
Eine sachlichere Beziehung, also nicht die starke affektiv-emotionale,
wie sie heute von der Mutter in Hinwendung zu ihrem Säugling erwartet
wird, darf jedoch nicht mit Vernachlässigung oder völliger Gefühlsarmut
assoziiert werden.
Was die Drei-Generationen-Familie anbetrifft, so war diese in unserem
Kulturkreis sehr selten gegeben, eine Folge der im 17. und 18. Jahrhundert
gegebenen Heiratsverbote für Personen, die nicht über eine „Vollstelle“ verfügten
(d. h. die nicht in der Lage waren, eine Familie zu ernähren). Dies waren
z. B. Gesellen, Knechte, die also kinderlos blieben. Ferner war die Zahl
der Großeltern gering wegen der sehr geringen Lebenserwartung damals und
eines relativ hohen Heiratsalters in den besitzenden Schichten. Man heiratete
– von epochalen, regionalen und berufsbedingten Schwankungen abgesehen
(Mitterauer 2003: 357; Gestrich 2008: 85) – im Alter von 25 bis über 30 Jahren
(ähnlich wie heute), weil damit die Hof- bzw. Betriebsübergabe verbunden
war. Diese schob man möglichst lange hinaus, insbesondere aus wirtschaftlichen
Gründen oder infolge des geltenden Erbrechtes (z. B. Jüngsten-
Erbrecht; vgl. zum Erbrecht den Beitrag von Bohlen in diesem Band), aber
auch wegen des damit verbundenen Verlustes der Anweisungsbefugnisse an
die nächste familiale Generation und evtl. vorhandenem Personal.