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Ethik des Lebendigen
Elisabeth List
Velbrück Wissenschaft
EAN: 9783938808702 (ISBN: 3-938808-70-5)
208 Seiten, Festeinband mit Schutzumschlag, 15 x 23cm, 2009
EUR 24,90 alle Angaben ohne Gewähr
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Umschlagtext
Die Kontingenzen des Lebendigseins sind die Möglichkeitsbedingung für Freiheit. Das ist die zentrale These einer Philosophie des Lebendigen, die es unternimmt, die Verfassung des Menschlichen in ihren materialen und leiblichen Wurzeln zu beschreiben. Sie entdeckt Signaturen der Kontingenz nicht nur in den biologischen Gegebenheiten des Organismus und in den elementaren Erfahrungen existenzieller Leibhaftigkeit, von Lust und Schmerz, sondern auch im lebendigen Selbst, das den leer gewordenen Platz des wiederholt totgesagten »Vernunftsubjekts« einzunehmen verdient. Denn alle Vermögen von Sprach- und Denkfähigkeit, die diesem zugesprochen wurden, sind wesentlich leibgebunden. Auch die Fähigkeit, »ich« zu sagen, erwächst aus den Potentialen des Lebendigen, die der homo sapiens mit anderen lebenden Wesen teilt.
Die allem Lebendigen gemeinsame Eigentümlichkeit ist die Fähigkeit zu spontaner Selbstbewegung, aus der sich evolutionär Empfindungsfähigkeit und Orientierungsfähigkeit entwickeln. Sie transformiert sich zur Gestalt eines »Subjekts vor dem Cogito«, das in der menschlichen Lebensform durch Sprache und Reflexion in »exzentrischer Positionalität« zum Ich und zur Person wird. Alle diese Fähigkeiten und das Potential an Freiheit, das sie verkörpern, verdanken sich der hochkomplexen Konfiguration des Organismus, die störbar und verletzbar ist durch Krankheit und Behinderung. Die Kehrseite der Freiheit und Offenheit des Lebendigseins sind die Grenzen und die Unwägbarkeiten organischen Lebens.
Die Ambitionen der Biotechnologie gehen dahin, diese Grenzen zu überwinden. Doch bevor man beginnt, Lebendiges technisch zu reparieren oder herzustellen, sollte man seine Vielfalt, seinen Reichtum und seine Potentiale zur Kenntnis nehmen. Seine Kontingenzen zu respektieren und die Autonomie des Lebendigen zu verteidigen muss das Anliegen einer Kultur, einer Ethik und Politik des Lebendigen sein. Es bedarf vor allem der Kritik einer Technokultur, die Lebendiges restlos verfügbar und kontrollierbar machen will durch die Beseitigung all der Signaturen von Kontingenz, die der Spielraum, ja die Möglichkeitsbedingung seiner Freiheit sind. Noch mehr bedroht ist das lebendige Individuum, wenn es in die Reichweite biopolitischer Ambitionen der Normierung, der Selektion und Eliminierung gerät, die ihm das Recht verweigern, anders, das heißt nach geltenden Normen »imperfekt« zu sein und sein Leben zu leben, so wie es ist, mit dem Körper, den es hat, auch wenn er geltenden politischen und ökonomischen Standards nicht genügt.
Die Denkvoraussetzung der zeitgenössischen Biotechnologien ebenso wie der Biopolitiken ist die Metaphysik des Dualismus von Geist und Körper, die seit Descartes die Autonomie des Lebendigen als Lebensform dementiert und es zum willenlosen Objekt der Verfügung degradiert. Es nimmt, gemeinsam mit dem Weiblichen, den untersten Wert in der Hierarchie kultureller Werte ein. Aber das kreatürlich Lebendige ist es, das uns leben lässt. So geht es letztlich nicht nur darum, das Lebendige als Wert zu würdigen, sondern zu verstehen, dass seine Störung und Zerstörung unsere eigenen Existenzgrundlagen gefährdet.
Rezension
Die Biowissenschaften scheinen durch die Fortschritte der Biomedizin das Leben immer besser im Griff zu haben - aber was ist überhaupt das Leben und das Lebendige? Die Grenzen menschlichen Lebens z.B. verschwimmen immer stärker zu Anfnang und Ende: Wann und wie beginnt menschliches Leben? Und wann, wo und wie endet menschliches Leben? Angesichts von Pränatalbiologie und -medizin und Hirntod- und Sterbehilfedebatte geraten die bislang geltenden Kriterien ins Wanken. Die Grundthese dieses Buchs lautet: Die Kontingenzen des Lebendigseins sind die Möglichkeitsbedingung für Freiheit. Die Kehrseite der Freiheit und Offenheit des Lebendigseins sind die Grenzen und die Unwägbarkeiten organischen Lebens.
Jens Walter, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Eine Lizenzausgabe dieses Titels finden Sie in digitaler Form als PDF-Datei im Verlag «Humanities Online» (www.humanities-online.de) zum Preis von EUR (D) 12,-
Elisabeth List
Studium der Philosophie, Geschichte und Soziologie in Graz, Konstanz und Berlin, Habilitation in Philosophie 1981, Professorin am Institut für Philosophie der Universität Graz. Gastprofessuren in Bergen (Norwegen), Klagenfurt, Innsbruck. Seit 1995 Leiterin der Arbeitsgruppe »Theorie, Kultur und Kritik« – Theorie der kulturwissenschaften unter Berücksichtigung der interdiszipliären Kulturforschung am Institut für Philosophie. Seit 1998 Leiterin der Arbeitsgruppe Kulturwissenschaften der Geisteswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Graz. – Forschungsschwerpunkte: Biotechnologie, Wissenschaftstheorie
und Gesellschaftstheorie, Feministische Theorie und Wissenschaftskritik, Theorien des Körpers im kulturellen Kontext, Theorien des Lebendigen, Kultur-theorie und Theorie der Kulturwissenschaften. – Bei Velbrück
Wissenschaft hat sie veröffentlicht: Vom Darstellen zum Herstellen. Eine Kulturgeschichte der Naturwissenschaften
(2007).
Inhaltsverzeichnis
I Die Wiederentdeckung des Lebendigen 7
ERFAHRUNGEN DES LEBENDIGEN
II Bilder vom Leben in den Biowissenschaften 25
III Existenzielle Leibhaftigkeit. Lust und Leben, Schmerz und Tod 40
IV Das lebendige Selbst 57
KULTUR, ETHIK UND DIE POLITIK DES LEBENDIGEN
V Die Ethik und das Lebendige 79
VI Optimierung des Lebens?
Die Biotechnologien und die Frage nach der Verfassung des Menschlichen 98
VII Eingriffe, Transformationen, Überschreitungen.
Technikvisionen zwischen Neuerschaffung und Abschaffung des Menschen 110
VIII Normieren, Ausgrenzen, Ausmerzen. Biopolitik des Hyperrassismus 125
IX Die Freiheit, nein zu sagen. Von der sanften Subversivität des Lebendigen 137
X Hass auf das Lebendige. Sexuelle Gewalt und ihre Ursachen 150
KONTINGENZEN
XI Leben, eine Kunst 165
XII Grenzen des Lebens 172
Literaturverzeichnis
Namenregister
Sachregister
Leseprobe:
I Die Wiederentdeckung des Lebendigen
Viele der Themen, die die Philosophie, die Wissenschaften und darüber hinaus die weitere
Öffentlichkeit an der Wende zum 21. Jahrhundert bewegen, kreisen um das Phänomen Leben,
genauer gesagt, um die elementaren Gegebenheiten der menschlichen Existenz in ihrer
konkreten leibhaften Form.
Die Frage, was denn Leben, das Lebendige, das die Biowissenschaften durch die
Fortschritte der Biomedizin immer besser im Griff zu haben meinen, überhaupt ist, steht
hinter all den großen Themen der metaphysischen Tradition, hinter allem philosophischen
Fragen nach dem Woher und Wohin des menschlichen Daseins, hinter den großen Abenteuern
der Ideen, die die geistige Welt bewegen. Die Antworten der großen metaphysischen Denker
besagen, dass die wahre Bestimmung menschlichen Daseins erst dort beginnt, wo es über die
kreatürlichen Gegebenheiten körperlichen Lebens hinausgeht: im Leben des Geistes. Doch die
Entdeckung des Geistes als Reich menschlicher Freiheit verdeckt ein anderes – allmählich
verdrängtes – Wissen um die Gewissheit leibhafter Existenz und um die Grenzen, die sich aus
ihr ergeben.
Es geht also bei der Frage nach dem, was es heißt, lebendig zu sein, um die
Wiederentdeckung eines Verdrängten. Sehr viele Menschen konfrontieren sich mit dieser
Tatsache erst angesichts von Krankheit, Beschwerden, Gebrechen, Alter und Tod. Es ist oft
erst die durch den Lauf der Dinge auferlegte bewusste Auseinandersetzung mit den Grenzen
und Beschränktheiten des physischen, leibhaftigen Daseins, die einem die Augen öffnet für
das, was nur innerhalb solcher Grenzen möglich ist, das Leben eben. Große Theoretiker in
den zwanziger und dreißiger Jahren des vergangen Jahrhunderts, Ärzte und Forscher, die sich
in ihrer klinischen Arbeit und in ihren theoretischen Schriften mit dem kranken Menschen
beschäftigen und nicht primär mit pathologischen Zellstrukturen, betonen immer wieder, dass
man an den Störungen des Organismus und an seinen Weisen, mit solchen Störungen
zurechtzukommen, begreifen kann, was das gesunde Funktionieren des Organismus
ausmacht. Sie lenken auf diese Weise ihre Aufmerksamkeit auf die unverzichtbaren
Voraussetzungen für das, was man seit Aristoteles ein gutes Leben nennt: Gesundheit und
Wohlbefinden.1
1 Kurt Goldstein, Der Aufbau des Organismus, Den Haag 1934; Viktor v. Weizsäcker, Der Gestaltkreis. Die
Einheit von Wahrnehmen und Bewegen, 1. Aufl. Stuttgart 1939.
Wie gelangen wir überhaupt zur Wahrnehmung des Lebendigen? Wir entdecken es zuerst
am Neuankömmling im Leben. Das Neugeborene ist für uns Inbegriff von Leben, Kinder sind
quicklebendig und die Jugend strotzt vor Übermut und Lebenslust. Aber sie alle wissen nichts
davon. Die physischen Gegebenheiten des Lebendigseins haben die Eigenart, dass sie
außerhalb der Aufmerksamkeit bleiben, solange sie unproblematisch und selbstverständlich
gegeben sind. Ein Nachdenken über den Körper als notwendige Bedingung des Lebendigseins
setzt meist erst ein, wenn er als Grenze spürbar wird. Das Erleben dieser Grenze kann
schmerzhaft, ja sogar tödlich sein, aber es ist eben auch Anlass zur Wahrnehmung dessen,
was es heißt, lebendig, und was es heißt, gesund zu sein. Gesundheit lässt sich nicht durch
Fragebögen ermitteln, denn gesund zu sein ist mehr als die Summe physiologischer
Einzelbefunde. Es ist die Fähigkeit, mit seinem Organismus auf die Gegebenheiten der
Umwelt angemessen zu antworten – eine Fähigkeit und eine Leistung, die sich als Ausdruck
der Vitalität des Individuums ergibt, aber auch als seine subjektive Leistung und Einstellung
zum eigenen Leben.
Wie steht es nun mit der Wahrnehmung des Lebendigen auf der zivilisatorischen Ebene, das
heißt im Bereich der Wissenschaften vom Leben, im Bereich von Humanmedizin und
Biologie? Ohne Zweifel sind es die wissenschaftlichen Entwicklungen der Biotechnologie,
die in letzter Zeit besonderes Interesse auf sich ziehen. Mit dem Fortschreiten dieser
Entwicklungen hat sich eine materialistische und mechanistische Sichtweise von Phänomenen
des Lebens durchgesetzt, die mit Descartes ihren Anfang nimmt, aber keineswegs das ganze
Spektrum theoretischen Denkens in der Biologie abdeckt. In der Biologie insgesamt sind es in
erster Linie die Ideen von Darwins Theorie der Evolution, die gegenwärtig neben dem
mechanistischen als leitendes Modell biologischer Theorie Anerkennung finden und die
Vorstellungen von Leben bestimmen. Aber die Biotechnologien liefern Instrumente, die im
konkreten Umgang mit allen Formen des Lebens einsetzbar sind.
Sind die Biotechnologien eine neue Weise der Wahrnehmung, eine Neuentdeckung des
Lebendigen oder doch eher das, was ihre Kritiker vermuten: Versuche der »Eroberung des
Lebens«2 oder, wie Paul Virilio es ausdrückt, der Kolonisierung des Körpers?3 Unüberhörbar
ist die Kriegs- und Unterwerfungsrhetorik solcher Formulierungen, die keineswegs von den
Kritikern erfunden wurden, sondern von Pionieren der modernen Biowissenschaften selbst zu
hören waren und noch sind. Freilich geht es den beteiligten Akteuren nicht ausdrücklich um
»Eroberung«, sondern um experimentelle »Erfassung« und technische »Modellierung« von
organischen Lebensformen.
Lassen wir die Frage der Bewertung zunächst einmal beiseite und fragen nach der Art und
Weise der Beziehung zum Leben, die die Biotechnologien, und die Technik allgemein mit
sich bringen. Ist es eine Liebesbeziehung, ein kommerzieller Kontrakt oder ein
werkzeuglicher, wie man sagt, ein »instrumenteller Bezug« zum Leben, eine Form der
Beherrschung und Kontrolle? Und wenn es sich um Kontrolle handelt, müsste auch gefragt
werden, wer wen unter welchen Bedingungen kontrolliert. Der technische Umgang mit dem
Lebendigen hat eine lange Geschichte. Er nimmt mit der Übernahme des mechanistischen
2 Vgl. Lisbeth Trallori (Hg.), Die Eroberung des Lebens. Technik und Gesellschaft an der Wende zum 21.
Jahrhundert, Wien 1996.
3 Paul Virilio, Die Eroberung des Körpers. Vom Übermenschen zum überreizten Menschen, Wien /München
1994.
Weltbilds für die Beschreibung des Lebendigen in den Biowissenschaften der Moderne eine
neue Form an, die der Entwicklung der modernen Biologie die Richtung vorgibt. Descartes’
Bild von der Körpermaschine bestimmt bis ins 21. Jahrhundert die Entwicklung der Biologie
als Naturwissenschaft.
Biotechnologien setzen die experimentelle Erforschung von Organismen voraus. Das
Experiment am Organismus ist im Regelfall eine im wörtlichen Sinn des Wortes
»einschneidende« Maßnahme – Sektion, wie auch die Operation, Implantation,
Transplantation, Amputation. Keine Studentin der Biologie kann ein Diplom in ihrem Fach
erwerben, ohne die Grundtechniken des Sezierens zu erlernen. Lange Zeit galt in manchen
Bereichen der Biowissenschaft, dass nur der tote Organismus ein vollständig erforschter
Organismus sein kann. Diese Feststellung wäre in solcher Pauschalität falsch, denn nicht jeder
Eingriff in den Organismus ist tödlich. Im Gegenteil, er kann in vielen Fällen sogar Leben
retten. Ebenso offensichtlich gibt es aber auch vorsätzlich tödliche Formen von
Biotechnologie. Etwa biologische chemische Waffen, Giftgase, die bewusst zur Tötung
eingesetzt werden und die natürlich jeder vernünftige Biotechnologe strikt verurteilen würde.
Schon lange bevor die Biologie den Kenntnisstand erreicht hat, der uns heute
selbstverständlich erscheint, wusste man, dass und wie man Lebendiges technisch vernichten
kann. Totschlag und Krieg sind in gewisser Weise als Tötungsstrategien erste brachiale
Biotechnologien. Mit anderen Worten, schon lange weiß der Mensch, dass es bestimmte
organisch-physische Bedingungen gibt, ohne die Leben nicht möglich ist. Und vor allem, dass
Leben bedroht werden kann, wenn man diese Bedingungen stört. Ein Beispiel dafür ist die
Folter.4 Der Folterer geht in der Beschädigung des physischen Leibs hart an die Grenze der
Überlebensfähigkeit, soweit jedenfalls, dass es ihm gelingt, innerhalb dieser Grenzen die
Spontaneität und den Eigenwillen seines Opfers zu brechen.5 Ebenso wie medizinische
Heilverfahren, die sich der Sorge für die Erhaltung des Lebens verpflichtet haben, sind auch
solche Formen physischer Gewalt im strikten Sinn des Wortes Biotechnologien. Die
biomedizinische Forschung ist heute mit viel Erfolg dabei, die materiell-organischen
Voraussetzungen allen organischen Lebens biochemisch und molekularbiologisch zu
analysieren, experimentell nachzuweisen und technisch zu kontrollieren. Und dieses neue
Wissen kann natürlich dazu benutzt werden, den Lebensspielraum von Arten auszuweiten,
wie das der Mensch für sich zu tun versucht. Es kann ihn aber auch einschränken.
Es ist klar, dass technische Maßnahmen, die Entscheidungen über das Wie und Wann von
organischem Leben nach sich ziehen, politisch und ethisch verantwortet werden müssen. Aber
die Überlegung, auf die es vorerst ankommt, ist eine andere. Die organisch-physische Basis
des Funktionierens von Organismen ist zwar eine notwendige, ja unverzichtbare
Voraussetzung des Lebens, aber eben nur eine notwendige und keine hinreichende
Bedingung. Die biotechnische Forschung kann die materiell-physischen Grundlagen, die zum
Leben notwendig sind, erfassen, sie steuern und kontrollieren, aber was Leben ausmacht,
vermag sie deshalb noch nicht zu sagen.
Unter dem Eindruck der Hochkonjunktur biowissenschaftlicher Forschung und ihrer
technischen Anwendung dominiert freilich genau die umgekehrte Sichtweise: Wenn sich
überhaupt etwas wissenschaftlich Haltbares über Leben sagen lasse, so heißt es, dann in den
4 Elaine Scarry, Der Körper im Schmerz, Frankfurt am Main 1992.
5 Ebd.
Begriffen der molekularen Biotechnik. Junge Menschen, die Schulen besucht haben, in denen
der Wissenskanon der neuen »life-sciences« vermittelt wird, sind nicht mehr in der Lage, die
Frage nach dem Leben in einem anderen Denkzusammenhang zu stellen.
Die bio-technische Sicht von Lebensphänomenen hat den Charakter einer alternativlosen
wissenschaftlichen Weltsicht angenommen. Das ist aber keineswegs die Folge
»unabweisbarer Evidenzen«, sondern ein Ergebnis kulturell gewachsener Überzeugungen.
Die Gründe dafür liegen historisch weit zurück in der Geschichte der modernen
Biowissenschaften, deren Anfänge schon am Beginn der Neuzeit im Zeichen der
Verdrängung von Formen des Wissens über das Lebendige standen, die sich den
mechanistischen Doktrinen der wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts nicht
fügten. Das bedeutete vor allem die Eliminierung der organischen Sicht des Lebendigen, wie
sie in der hermetischen Tradition, der Alchemie und im Wissen der weisen Frauen über
Jahrhunderte tief verankert gewesen war. Im ausgehenden 18. Jahrhundert, am deutlichsten
beim Philosophen Immanuel Kant in seiner »Kritik der teleologischen Urteilskraft« wird
allerdings deutlich, dass die Eliminierung des Lebendigen aus dem intellektuellen Universum
dieser Epoche nicht gelungen war.6 Obwohl Anhänger der Physik Newtons, für Kant das
Vorbild aller Wissenschaft, sah er klar, dass Lebensphänomene mechanisch nicht zu fassen
sind. Wenn wir Natur beschreiben, so Kant, können wir nicht umhin, ihre eigentümliche
Zweckhaftigkeit und Gerichtetheit als ihr Wesensmerkmal zur Kenntnis zu nehmen. Eben
deshalb ist für Kant zu seiner Zeit die Lehre von der Natur nicht Wissenschaft, sondern
»Naturgeschichte«, und noch lange Zeit hieß das Fach so in den Lehrplänen der höheren
Schulen. Der Gedanke, der bei Kant anklingt, ist der der Subjekthaftigkeit des Lebendigen,
der im Modell des Vitalismus eine metaphysische Form annimmt. Einer der Kritiker des
Vitalismus, Philipp Frank, ein Anhänger des Wiener Kreises und seines Programms
wissenschaftlicher Weltanschauung, liefert dazu den entscheidenden Hinweis. In seinem
Kommentar zum Vitalismus und zum Konzept der Teleologie, das Zweckgerichtetheit zum
Wesensmerkmal der Natur erklärte, stellt er zu Recht fest, die Rede von Zwecken mache nur
da einen Sinn, wo auch ein Subjekt gegeben sei.7 Tatsächlich ist es die Frage nach dem Ort
des Subjekts und seiner organischen Vorstufen, an der sich Theorien des Lebendigen
scheiden.
Bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs im vergangen Jahrhundert kreisten die Debatten um
die wissenschaftliche Erfassung des Lebendigen um die Frage, ob Lebendiges auf
physikalisch-mechanische Phänomene reduzierbar ist oder nicht. Die großen Theoretiker der
Biologie der Zwischenkriegszeit, etwa Jakob v. Uexküll oder später Viktor v. Weizsäcker,
vertraten den Standpunkt, dass lebendige Organismen Subjekte sind, wenn auch eine Form
von »Subjekten vor dem Cogito«, diesseits und vor jeder symbolischen Artikulation und
Reflexion. Die Organismen, von denen v. Uexküll spricht, sind meist höhere Tiere, nahe
Verwandte des Menschen, ausgestattet mit einem komplexen Nervensystem und einem
reichen Verhaltens- und Ausdrucksrepertoire, das man in der Tat nicht anders beschreiben
kann als in Begriffen von Subjekthaftigkeit – Spontaneität, Sensitivität, Aktivität,
Umweltgerichtetheit.
6 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Akademie Textausgabe Bd.#5, Berlin 1968
7 Philipp Frank, Das Kausalgesetz und seine Grenzen, 1932, Neuaufl. Frankfurt am Main 1988, 130.
Ohne auf die Einzelheiten dieser Kontroversen einzugehen, lässt sich resümieren, dass
schließlich das mechanistische Modell der Reduktion von Lebensphänomenen auf
biophysikalische Strukturen und Prozesse den Sieg davontrug. Die Gründe dafür liegen auf
der Hand. Es handelt sich nicht nur um ein Denkmodell, sondern um ein Handlungsmodell,
eine Anweisung zur Herstellung, das sich in den Biotechnologien in vielen Einzelheiten als
höchst brauchbar erweist. Auf der Ebene theoretischen Denkens meinte man, solchen Erfolg
durch die Ausklammerung von Subjektivität sichern zu können. So zielte das Bestreben der
Verwissenschaftlichung der Biologie lange auf die Eliminierung des Subjektiven aus ihrem
Gegenstandsbereich. Dass diese Eliminierung auch den Biowissenschaften des 20.
Jahrhunderts niemals vollständig gelang, lässt sich im Einzelfall demonstrieren, etwa am
Beispiel der Theorien der Selbstorganisation – ein heute sehr populäres, aber auch
umstrittenes Paradigma biologischer Theorie, oder im Fall der Thermodynamik, die häufig
Subjektmetaphern in Anspruch nahm,8und ebenso an der Entwicklung der ersten Prototypen
von Computern. Metaphern des Subjekts und Modelle von Intentionalität gehören auch noch
heute zur Sprache der Biologie.
Es sind aber letztlich ökonomische und politische Gegebenheiten, die die
wissenschaftlichen Innovationen als Techniken des Herstellens in den Biowissenschaften
vorantrieben.9 So erklärt sich die heute dominierende Form wissenschaftlich-technischen
Zugriffs auf das Lebendige. Warum verdient er so viel Glaubwürdigkeit und Kredit? Gibt es
nicht andere Weisen zu verstehen, was es heißt, lebendig zu sein?
Vom Biotischen zum Lebendigen
Eine solche andere Sichtweise bietet eine Phänomenologie des Lebendigen. Ihr geht es darum
zu verstehen, was es aus der Perspektive lebendiger Erfahrung heißt, lebendig zu sein, und
nicht um Leben als einem in der raum-zeitlichen Ordnung des Kosmos eingefügten Stücks
Materie mit einer spezifischen Organisation. Mit Helmuth Plessner, dessen Theorie des
Lebendigen erst in letzter Zeit gebührend Beachtung findet, kann man die Differenz zwischen
diesen beiden Standpunkten so präzisieren: Die Frage nach dem Lebendigsein als Erfahrung
ist gestellt aus der Perspektive des Lebendigen, die Frage nach dem Leben als spezifisch
organisierter Materie aus einer Perspektive der »Ex-zentrizität«. Anders formuliert: Einmal ist
sie gestellt aus der Innensicht, der Positionalität des lebendigen Wesens, zum anderen aus der
Position eines »Außen«, die beansprucht, das Lebendige als ein Ding, als einen materiellen
Gegenstand neben anderen objektiv zu erfassen.
Für Plessner ist Positionalität ein Wesensmerkmal des Lebendigen, und die exzentrische
Positionalität des Menschen verweist auf den Doppelaspekt seiner Seinsverfassung. Gewiss
ist »exzentrische Positionalität«, das heißt die Fähigkeit, sich ein Bild von sich selbst zu
machen, eine der besonderen Fähigkeiten des Menschen.10 Aber kein menschliches Wesen,
8 Evelyn Fox Keller, Das Leben neu denken. Metaphern der Biologie im 20. Jahrhundert. München 1998.
9 Lilly Kay, The Molecular Vision of Life. Caltech, the Rockefeller Foundation and the Rise of the New
Biology, New York 1993.
10 Helmuth Plessner, Gesammelte Schriften IV, »Die Stufen des Organischen und der Mensch«, Frankfurt
auch keine Biowissenschaftlerin, kann, so Plessner, eine Perspektive totaler Exzentrizität
einnehmen, denn das würde heißen, dass sie aufhörte, selbst ein lebendes Wesen zu sein, weil
sie als lebendes Wesen durch ihre Situiertheit und Leiblichkeit bestimmt ist. Mag die
Wissenschaftlerin noch so eindrucksvoll objektivierte Bilder und Modelle des Lebens
entwerfen, solange sie lebt, bleibt sie durch ihren Leib situiert auf ihre Welt bezogen.
Eine Phänomenologie des Lebendigen gründet nicht auf Phantasien vom technisch
Machbaren, sondern stellt die Frage nach der Erfahrung des Lebendigseins, also nach dem,
was Lebendigsein für uns lebende, denkende und fühlende Wesen, bedeutet. Es ist darüber
hinaus ihr Bestreben, die Autonomie des Lebendigen als die Möglichkeitsbedingung für das
zu verteidigen, was wir sein und bleiben wollen: spontane, freie, handlungsfähige Individuen.
Dass Lebendigsein die elementare Voraussetzung für das Subjektsein darstellt, wird
deutlicher, wenn man sich die Eigentümlichkeiten des Lebendigen an einigen seiner
Merkmale vor Augen führt.
Selbstbewegung und Spontaneität
Viktor v. Weizsäcker, Neurologe, Arzt und einer der bedeutenden Medizinphilosophen des
vergangenen Jahrhunderts, hat in einer gründlichen theoretischen Studie mit einer Fülle von
Beobachtungen belegt, dass dem Lebendigen im Wesentlichen zwei Merkmale eigentümlich
sind: Spontaneität und Selbstbewegung.11 Stellen Sie sich vor, Sie sehen im Garten eine
Katze reglos im Gras liegen. Es ist ein warmer Sommertag und Sie werden denken, sie
genießt die Wärme der Sonne. Wenn sie näher hinkommen, werden Sie erwarten, dass sie
aufspringt und davonläuft. Wenn sie liegen bleibt und kläglich wimmert, werden Sie denken,
dass sie verletzt ist, werden vielleicht versuchen, ihr zu helfen. Wenn sie sich aber nicht mehr
rührt, wenn Sie sie vom Boden aufheben, dann werden Sie wissen, dass sie tot ist. Denn das
uns allen vertraute Kriterium des Lebendigen ist Selbstbewegung, in Bewegung sein.
In seinem Buch Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen zeigt
v. Weizsäcker, dass die eigentümliche Spontaneität des Organismus, die vor allem in seiner
Fähigkeit besteht, sich seinen Lebensbedürfnissen entsprechend in seine Umwelt einzufügen
und sie sich anzueignen, nicht aus neurophysiologischen oder neuroanatomischen
Gesetzmäßigkeiten oder Zusammenhängen abgeleitet werden kann. Die Selbstbewegung des
Lebendigen, ist die ihm eigentümliche, von Spezies zu Spezies verschiedene Weise, sich in
seiner Welt zu bewegen und sich zu ihr zu verhalten. Sie ist das Ergebnis einer beständigen
Interaktion von Umwelt und Organismus und nicht »errechenbar« aus den materiellen
Funktionen des Organismus allein.
Die unter dem Schlagwort »Artificial Life« – »Künstliches Leben« bekannt gewordenen
Entwicklungen in der Robotik versuchen, lebendige, umwelttüchtige Organismen
»nachzubauen«, ihre Interaktion mit der Umwelt zu »errechnen«. Die Erfolge dieser Versuche
sind bislang eher bescheiden, und die Frage, ob eine wissenschaftliche »Errechnung«
am Main 1981.
11 Viktor v. Weizsäcker, Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen, Frankfurt am
Main 1973, 23#f.
tierischen oder menschlichen Verhaltens möglich ist, kann man getrost verneinen. Denn
beide, das Individuum, der Organismus einerseits und die Umwelt andererseits haben eine
Geschichte, eine Geschichte der sich dialektisch wandelnden Beziehungen zu und
Wechselwirkungen mit dieser Umwelt. Jedes Ereignis dieser Wechselwirkungen verändert
notwendig beide. Diesem Prozess bleibt die Biotechnologie, die mit einem sich
gleichbleibenden Organismus und einer sich gleichbleibenden Umwelt rechnet, äußerlich. Die
Frage, was es heißt, lebendig zu sein, ist mit den Mitteln der Physik nicht zu beantworten. Das
ist nur möglich, wenn man das Lebendige als die Weise der Vernetztheit des Organismus im
Gefüge seiner Überlebensbeziehungen versteht und beginnt, der eigenen Erfahrungen dieses
Lebendigseins gewahr zu werden.
Empfindungsfähigkeit und Orientierungsfähigkeit
Selbstbewegung ist die elementare Form des lebensnotwendigen Austausches mit der
Umwelt, von der das Lebendige ein Teil ist, und sie ist zugleich Ausdruck seiner Spontaneität.
Für komplexere Formen des Lebendigen ebenso fundamental ist seine Sensitivität, seine
Empfindungsfähigkeit. In der Empfindung nimmt die Bezogenheit des lebenden Individuums
ihre erste Gestalt an. Die Empfindung ist die Reaktion auf ein Affiziertwerden, und schon in
solcher Reaktion ist ein Moment von Aktivität enthalten, ein Moment der Investition von
Energie. Lebendigsein, am Leben sein verdankt sich den vitalen Antrieben, die zu unserer
Ausstattung als lebende Organismen gehören, und sie bekunden sich in Lust und Schmerz und
allen Zwischenstufen des Spürens und Leidens, schließlich auch in den höheren
Bewusstseinsleistungen. Wilhelm Reich, der geniale und rebellische Renegat der
psychoanalytischen Bewegung, ist überzeugt, dass Lust die Grundbefindlichkeit des
Lebendigen ist oder sein sollte. Mit dieser Überzeugung ist er ungeachtet seiner Obsession
mit Sexualität der platonischen Lehre vom Eros näher, als er weiß.12 Der Antipode der Lust –
der Schmerz – ist, sofern er nicht von außen zugefügt wird, eine nicht weniger vitale Regung.
Eine der entscheidenden Fähigkeiten lebender Organismen ist ihre Orientierungsfähigkeit.
Sie ist notwendig für ihr Überleben in ihrer Umwelt. Sie erfordert das Gewahrwerden der
Differenz von Selbst und Nichtselbst, beides als Voraussetzung für zielgerichtetes Agieren
auf die Umwelt hin. Das ist die Basis für all die Erkenntnisleistungen der spezifisch
menschlichen Form des Lebendigseins, für ihre besonderen kognitiven Leistungen wie
Wissenschaft und Kultur.
Kreativität, Subversivität, Monstrosität
Die drei genannten Merkmale – Spontaneität als Ausdruck der Autonomie,
Empfindungsfähigkeit und Orientierungsfähigkeit – sind unstrittig die Voraussetzung dafür,
dass wir handlungsfähig, fähig zu Freiheit und Vernunft sind, wie es die philosophischen
Subjekttheorien wollen. Ihre Besonderheit ist aber, dass diese Merkmale inkarniert sind,
vermittels des lebendigen Körpers verfügbar vor aller Reflexion und bewusster Intentionalität.
12 Vgl. Wilhelm Reich, Die Funktion des Orgasmus, Frankfurt am Main 1972.
Das heißt, sie sind wesentlich leibliche, an ihre Materialität gebundene Potentiale. Das gilt
auch für die spezifisch menschlichen geistigen Leistungen, für den gestischen Ausdruck, die
Sprache, die künstlerische Gestaltung. Das Repertoire vorbewusster Kompetenzen und
Fähigkeiten bleibt auch in der Phase des Symbolgebrauchs eine unverzichtbare Ressource.
Ihre Leiblichkeit bedeutet, dass wir nie vollständig über sie verfügen, aber sie bedeutet auch,
dass sie sich geben und ergeben, als Intuition, im Einfall.
Kurz, sie sind die Wurzel von Kreativität. Das Unbewusste ist nicht nur, wie Freud es
versteht, ein Speicher für verdrängte und immer wiederkehrende Wünsche, sondern auch
vorbewusster Ort für das Entstehen von Neuem. Der Leib als der uns gegebene Ort des
Lebens und Träger unserer Fähigkeiten verkörpert aber nicht nur ein Potential der Innovation,
sondern auch des Widerstands. Er vermag sich der Regulierung seines Tuns zu widersetzen,
auch wenn der Körper zugleich die Sedimentierung vergangener Prägungen und
Einschreibungen erleidet. Der Ordnung schaffenden Kraft der Orientierungsfähigkeit und
Bindungsfähigkeit des Lebendigen stehen Valenzen der Widerständigkeit gegenüber, die sich
unter den Bedingungen seiner Domestizierung und Disziplinierung bemerkbar machen.
Die diskursiven und politischen Ordnungssysteme nehmen die elementaren Fähigkeiten des
Lebendigen für sich in Anspruch. Ihre Existenz verdankt sich den inkarnierten Fähigkeiten
von Individuen, die symbolische Orientierung ermöglichen und ihrer auch bedürfen. Es sind
also die lebendigen Individuen, die solche Ordnungsformen erst entstehen lassen. Diese
Ordnungsformen entfalten zuweilen gegenüber ihren Produzentinnen im Laufe der Zeit eine
Eigendynamik. Sie etablieren und verselbständigen sich und treten zuweilen den lebendigen
Individuen als kontrollierende Macht gegenüber. Diese Macht bleibt jedoch angewiesen auf
die Gefügigkeit und die Bereitschaft der Einzelnen, die sich von Sehnsüchten nach Bindung
und Sicherheit leiten lassen. Solange Zugeständnisse zur Erfüllung dieser Bedürfnisse nach
Anerkennung und Zugehörigkeit die Lust-Leid-Bilanz des individuellen Lebens nicht allzu
empfindlich stören, können sich die Ordnungsmächte der Gefügigkeit ihrer Untertanen sicher
sein. Solange aber das lebendige Individuum seine inkarnierten Befindlichkeiten
wahrzunehmen und auszudrücken vermag, bewahrt es sein Potential an Renitenz, an
Widerstand. Dieses Potential kann in Gesten, Symbolen, durch heimliches Nicht-tun oder
manifestes Handeln einen Ausdruck finden, und an der Unterseite der herrschenden Ordnung
diese durch synkopische, subversive Botschaften unterminieren. So manifestiert sich die
untergründige Subversivität und die Widerständigkeit des Lebendigen, wenn ihm die
Fähigkeit, sich zu spüren, nicht durch den Drill autoritärer Erziehung vollständig genommen
worden ist. Subversivität und schließlich auch Monstrosität sind Merkmale des Lebendigen
unter Bedingungen seiner kulturellen Disziplinierung und Kontrolle durch kollektive
Ordnungssysteme, durch Macht und Herrschaft.
Das entscheidende Mittel der Disziplinierung ist heutzutage nicht mehr physische Gewalt,
sondern die symbolische Macht von Konvention, Ritual, Sprache, Mythos, Medium,
Werbung. Das sind die weit wirksameren Formen der Normierung und Normalisierung. Sie
wirken auf die Seele, nicht auf den Körper. Nicht erst seit der Erklärung der Menschenrechte
artikuliert sich Widerstand gegen solche Normierung. Die Mythen von Monstern,
Bösewichtern und anderen Unangepassten waren seit jeher voll von Bildern imaginärer
Monstrosität, in denen sich der dem lebendigen Individuum inhärente Eigensinn, der Wunsch,
der Normierung zu entkommen, manifestierte. Die Welt der Monster, die Sagen und Mythen
bevölkerten, ist weitgehend verschwunden oder ist auf die Kinoleinwand geflüchtet. All die
sonderbaren Geschöpfe, Missgebildete, die sich durch körperliche oder geistige
Abweichungen von anderen unterscheiden, haben den Status als »Unantastbare« verloren,
sind mittlerweile pathologisiert, weggesperrt, eingesperrt.
Abweichungen, die das System der Produktion und der Profitwirtschaft stören könnten, sind
nicht mehr erlaubt: »In der medial zugerichteten Wahrnehmungssphäre unserer modern times
leben nur noch Claudia Schiffer und Arnold Schwarzenegger, Mannequins, Body-builder,
Pin-up people, Weightwatchers und Aerobic-Fans; lauter griechische Helden und Göttinnen,
deren Leiber den Normen und Maßvorstellungen unserer Kultur genügen wollen (und
genügen müssen)«.13 Krüppel, Verrückte, unheilbar Kranke sind aus dieser Welt
verschwunden. »Freilich: auf merkwürdige Weise sind auch wir selbst verschwunden. Unter
dem Diktat des Maßstabs hat sich zurückgezogen, was Hegel die ›lebendige Individualität‹
nannte; als wäre Lebendigkeit stets auch ein wenig verschwistert mit Monstrosität«.14 Gerade
in unserer Abweichung, in jeder auch noch so unauffälligen Regelwidrigkeit zeigt sich, dass
wir wirklich leben und existieren. Wir sind nicht Kopien von Ideen, sondern Einzelexemplare
– ein wenig tierisch, ein wenig göttlich, ein wenig menschlich, ein wenig monströs – kurz:
Zwischenwesen.
Verletzlichkeit und Sterblichkeit
Mit manchen seiner Eigentümlichkeiten kann das Lebendige für Ordnungshüter aller Art
zuweilen gefährlich werden. Aber noch mehr gefährdet ist das Lebendige selbst. Das ist die
Folge davon, dass es verletzbar, störbar, zerstörbar ist. Unser Leib ist ein hochkomplexes und
sensibles und damit störungsanfälliges Lebendiges. Je höher die Komplexität der lebenden
Form, umso vielfältiger die Formen seiner Verletzbarkeit. Das weiß der Folterer sehr genau.
Er geht bis an die Grenzen der Verletzbarkeit, um sein Opfer zu brechen.
Gefährdet ist die Integrität des Lebendigen nicht nur dadurch, dass ihm Verletzungen von
außen zugefügt werden. Es ist verletzbar und störbar durch Krankheit und
Beeinträchtigungen, die sich aus seiner organischen Geschichte und durch Lebensumstände
ergeben. Diese Formen der Beeinträchtigung des Lebens und das Faktum seiner
Verletzbarkeit verweisen auf eine elementare Erfahrung im Umgang mit dem Lebendigen: auf
die Erfahrung von Grenzen, Erfahrungen der Unverfügbarkeit des Lebendigen und des
Lebendigseins, Erfahrungen von Tod und Sterblichkeit. Das ist wohl der Grund dafür, dass
das Lebendigsein im Selbstbild der abendländischen Kultur eine untergeordnete Rolle spielt.
Im traditionellen Haushalt des Symbolischen findet es sich eingefügt in eine hierarchische
Ordnung kultureller Werte, in der es mit dem Weiblichen den untersten Rang einnimmt.
13 Thomas Macho, »Leichen im Keller. Zum Rückzug des Monströsen«, in: Johanna Riegler (Hg.), Puppe,
Monster, Tod. Kulturelle Transformationsprozesse der Bio- und Informationstechnologien, Wien 1996, 146.
14 Macho, a.#a.#O., 147.
Zugleich selbstverständlich und unverfügbar: Leben in Grenzen
Jemand möchte so gehen wie andere auch, so atmen, so sehen, und bemerkt: Das
Lebendigsein ist das Selbstverständlichste im Leben – und zugleich unverfügbar. Eine
geringfügige Abweichung vom Standard anatomischer oder physiologischer Ausstattung kann
dazu führen, dass sich das lange Selbstverständliche versagt, zum Unverfügbaren wird. »Es
geht nicht mehr, und es wird nie mehr gehen«. Das ist die Erfahrung von Behinderung.
Aus Erfahrungen solcher Art ist dieses Buch entstanden – eine Theorie des Lebendigen, ein
Ethos des Lebendigen aus der Erfahrung seiner Unverfügbarkeit und seiner Grenzen. Diese
Erfahrung eröffnet eine ganz besondere Sicht auf das, was es heißt, lebendig zu sein. Und von
ihr aus eröffnen sich auch Möglichkeiten, Mittel und Wege, die Situation der Behinderung,
der Krankheit, des Alters zu bewältigen. Das beweisen Körperbehinderte auf vielfältige
Weise. Sie entwickeln ein reiches Repertoire an Bewegung, an Aktivitäten, die ihnen
ermöglichen, mit den Grenzen, die ihnen gesetzt sind, zu leben, erfüllt zu leben.
Ethos des Lebendigseins
Ein Ethos des Lebendigen ist ein Lebensprogramm, das mit den Kontingenzen körperlichen
Daseins rechnet, und damit auch mit Situationen körperlicher Beeinträchtigung, die
Krankheit, Behinderung und hohes Alter bedeuten. Die organische Verfassung des
Lebendigen ist nicht starr und störungsfrei. Sie kennt viele Varianten und Besonderheiten, die
seine Eigentümlichkeit ausmachen. Das Ethos des Lebendigen ist ein Ethos der Vielfalt und
der Differenzen, ein Ethos des Respekts vor dem Lebendigen in allen seinen Formen. Es stellt
sich der Frage, was das Lebendige ausmacht und wie man mit ihm umgeht, wie es bewusst
leben kann und soll.
Zu den Erfahrungen des Lebendigseins gehören zumindest zwei Dinge: Erstens das
Gewahrsein der eigenen Spontaneität als der Freiheit, aus sich selbst heraus tätig zu sein, auf
Dinge und Menschen zuzugehen, allerhand zu tun, was einem so von der Hand geht, ohne viel
nachzudenken, zu tun, zu lassen, zu leben, zu atmen und sich daran zu freuen. Und zweitens
die Erfahrung von Grenzen, die einem die Umwelt setzt, und die man ändern möchte und
auch kann, von Grenzen in den eigenen Fertigkeiten und Fähigkeiten, die man ebenfalls
zuweilen ändern und verbessern kann, aber schließlich auch die Erfahrung von Grenzen, die
sich vielleicht verschieben, aber letztlich nicht aufheben lassen. Weniger akademisch
formuliert: die Erfahrung des Lebendigen reicht von der unbekümmerten Freude am Dasein
bis zur lähmenden Angst vor dem Tod.
Die Freude am Leben ist ein Ausdruck der Spontaneität des Lebendigen. Sie genießen kann
nur, wer auf die restlose rationale Berechnung dessen, was er, was sie bewegt, verzichtet. Das
heißt, wer meint, seiner Lage Herr zu sein, Herr sein zu müssen, der kann sich am Leben nicht
freuen. Philosophisch gewendet, steckt hinter dieser Situation ein Grundproblem jeder
Theorie des Subjekts. Das reine Vernunftsubjekt ist unlebendig. Wie Wilhelm Dilthey es
pathetisch formulierte: »In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant
konstruierten, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer
Denktätigkeit.«15 Die Fähigkeiten, die den Menschen ausmachen – Kreativität, Spontaneität,
Orientierungsfähigkeit, Empfindungsfähigkeit – verdanken sich seiner Lebendigkeit, seiner
spezifischen leiblichen Existenzweise, die ihm gegeben ist, sich aber einer vollständigen
Verfügbarkeit kraft Vernunft entzieht.
Die idealistische und rationalistische Philosophie des Subjekts ging davon aus, dass es die
Vernunft ist, die den Menschen in die Lage versetzt, mit vollem Recht »ich« zu sagen, sich
selbst zu erkennen und dieser Erkenntnis gemäß zu handeln. Die berühmte Formel von
Descartes – cogito ergo sum – bildet bis heute den Ausgangspunkt für die philosophischen
Theorien des Subjekts. In der heroischen Geste der Selbstbegründung durch Vernunft –
Vernunft allein – wirkt dar alte Wunsch der Metaphysik weiter, durch eine Doktrin vom Sein,
das allein dem Logos zugänglich ist, den Kontingenzen des menschlichen Daseins ihre
existentielle Bedeutung zu nehmen, sie durch Denken zu bewältigen.
Dass das nicht so leicht geht, wussten die großen Dichter der Antike sehr genau. Eines der
Motive der antiken Tragödie ist die menschliche Erfahrung, sich in einer Welt vorzufinden, in
sie geboren, ohne gefragt worden zu sein, um irgendwann zu sterben, ohne eine Erklärung
oder Rechtfertigung. Wir stellen die Frage, wer wir sind, wem oder was wir unser Leben
verdanken. Wir können nicht umhin, diese Frage immer wieder zu stellen, aber die Vernunft
reicht nicht aus, sie zu beantworten. Dass es sich so verhält, ist immer schon ein Skandal für
die Philosophie gewesen. Die Geschichte der Metaphysik seit Parmenides ist so gesehen die
Geschichte fortgesetzter Versuche, die Konfrontation mit der unabweisbaren Kontingenz des
menschlichen Daseins zu bewältigen, wenn schon nicht zu überwinden. In diesem Sinn hat
Martin Heidegger gemeint, dass 2000 Jahre Technik- und Wissenschaftsgeschichte nichts
anderes sind als Flucht vor dem Tod.
Auch die heute verbreitete Euphorie bezüglich neuer Versprechungen, diese Grenzen durch
neue Technologien endgültig zu überwinden, ist nicht angebracht. Denn unsterblich im
biologischen Sinn sind eigentlich nur technische Apparate – und wer will das schon sein?
Plädoyer für eine Ethik des Lebendigen
Nur wenn man bewusst die Tatsache zur Kenntnis nimmt – nicht nur intellektuell, sondern
auch existenziell –, dass unser Leben eine Fülle von Möglichkeiten bietet und dennoch nur
innerhalb unaufhebbarer Grenzen uns gegeben ist, nur dann kann man auch würdigen, was es
überhaupt bedeutet, innerhalb dieser Grenzen da zu sein, zu leben. Und im Blick auf die
ambitionierten Projekte einer Technologie des Lebendigen, wird man aus diesem Sachverhalt
Konsequenzen ziehen. Der Philosoph Alfred North Whitehead hat in einem Essay Die
Funktion der Vernunft einen sehr weisen Satz geäußert. Die Aufgabe der Vernunft, so sagt
Whitehead, ist es, der Kunst des Lebens zu dienen.16 Das gilt auch für die Errungenschaften
der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation. Sie sollten dem Leben dienen und nicht
versuchen, es restlos zu erobern. Die Souveränität des Lebendigen besteht gerade darin, dass
15 Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, in: Werke, Bd.#I, 1883, 9. unveränd. Aufl. 1990,
XVIII.
16 Alfred North Whitehead, Die Funktion der Vernunft, Stuttgart 1974.
es sich – bis jetzt – dem vollständigen technischen Zugriff entzieht. Zeitweilige Versuche der
»Eroberung« des Lebendigen, etwa als Volk, als »Rasse«, haben uns bisher historische
Katastrophen beschert.
Auch heute gibt es Tendenzen, die Grenzen des Erlaubten im Umgang mit dem menschlich
Lebendigen noch weiter hinauszuschieben. Mit den Folgen bedenkenlosen Umgangs mit
tierischem Leben sind wir im neuen Europa täglich konfrontiert, ebenso mit den ökologischen
Problemen der industriellen Nutzung von Natur. Es sind besonders die Biotechnologien am
menschlichen Körper, die Besorgnis erregen. Derlei Unternehmungen sind oft nicht nur
ethisch fragwürdig, sondern entbehren darüber hinaus letztlich auch einer intellektuellen
Rechtfertigung. Sie können sich nicht auf eine hinreichende Kenntnis des großen
planetarischen Zusammenhangs von Lebensphänomenen stützen, innerhalb dessen sie
operieren. Eine Voraussetzung dafür, dass Technologien wieder lebensdienlich werden, ist
also, das Lebendige zu respektieren, es überhaupt erst wieder zu entdecken. Die Grenzen, an
die die Technik stößt, sind Anlass zu Selbstbeschränkung. Sinn solcher Selbstbeschränkung
ist nicht das Verbieten, sondern das Bewahren dessen, was die Grundlage unserer Existenz ist
– das Lebendige und das Lebendigsein.
Das ist das Thema, um das es in den folgenden Kapiteln geht. Es geht nicht um eine
ausgearbeiteten Doktrin oder um universelle Prinzipien, sondern im Durchgang durch eine
Reihe von Themen und Problemen soll die Frage nach dem Leben gestellt werden, wie sie
sich in den realen Prozessen der Aneignung und Kontrolle dessen ergibt, was an Phänomenen
des Lebendigen wahrnehmbar, erfahrbar ist.
Eine Ethik des Lebendigen könnte jedenfalls nicht Prinzipienethik sein. Sie wäre eine Ethik
der Kontingenz, die Freiheit nicht als universelles Prinzip, sondern als bedingte Freiheit17
denkt. Denn das sind die Bedingungen, innerhalb derer allein Freiheit konkret möglich ist.
Eine Ethik des Lebendigen denkt ihr Subjekt nicht als transzendentales Vernunftsubjekt,
sondern als lebendiges Subjekt, dessen Grunderfahrungen Spontaneität und Freiheit und
zugleich die Erfahrungen von Grenzen sind, die ihm die Unwägbarkeiten seiner Existenz als
leibliches Wesen auferlegen. Damit werden Ansprüche auf Universalität und kategoriale
Geschlossenheit, die zum definierenden Merkmal der philosophischen Kerndisziplinen –
Erkenntnistheorie, Ethik, Ontologie – gehören, für sie fraglich. Die Maximen und Prinzipien,
die die Ethik entwickelt und verteidigt, haben in ihrer Geltung dieselben Grenzen wie das
Leben, das Lebendigsein selbst. Davon geht das Unternehmen einer Ethik des Lebendigen
aus, als einer Ethik der Kontingenz, die Ansprüche auf Universalität und theoretische
Geschlossenheit hinter sich lässt. Sie will die Erfahrung des Lebendigseins zu Bewusstsein
und in Erinnerung bringen, ausgezeichnete Situationen und Phasen des Lebens mit einem
Körper benennen und beschreiben, Empfehlungen und Anregungen für ein Leben in
»existenzieller Leibhaftigkeit« geben.18
Freilich gibt es Lebendiges, das sich nicht in denselben Erfahrungsweisen existenzieller
Leibhaftigkeit erschließt wie die dem Menschen eigene Weise, lebendig zu sein. Wie kann
ihnen eine Ethik des Lebendigen gerecht werden, die Leben als obersten Wert setzt? Hier
zeigt sich eine Grenze der Ethik des Lebendigen, die nicht vom Leben »an sich« spricht,
17 Peter Bieri, Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, München/Wien 2001.
18 Gernot Böhme, Ethik leiblicher Existenz, Frankfurt am Main 2008.
sondern von Erfahrungen des Lebendigseins. Ihr epistemologischer Kern ist der Begriff
»Erfahrung«, womit sie sich auf die Domäne des menschlichen Lebendigseins beschränkt,
obwohl die Grenzen zwischen dem menschlichen und nichtmenschlichen tierischen Leben
durchaus offen sind. Wenn Lust und Schmerz als Grundformen »existenzieller
Leibhaftigkeit« anzusehen sind, wenn also nicht nur Erfahrung, sondern auch das Spüren als
Weise des »Zur-Welt-Seins« ethische Relevanz hat, dann müssen auch Tiere als Subjekte
ethischer Zuschreibungen und moralischer Ansprüche gelten. Für die Epistemologie des
Lebendigen, die den Körper als Erfahrungsmedium ernst nimmt, ist das Spüren ein
grundlegender Modus der Selbst- und Welterschließung. Und Spüren ist eine Fähigkeit, die
zumindest auch höheren Tieren in einem hohen Maß zukommt. Das bedeutet, dass auch die
Tierethik wesentlicher Teil einer Ethik des Lebendigen ist.
Eines muss noch hinzugefügt werden: Die Existenz des menschlich Lebendigen ist
eingebunden in einen weiteren kulturellen und politischen Erfahrungszusammenhang. Ebenso
fügt sich die Ethik des Lebendigen in den größeren Rahmen von Ethik und Politik, dessen
Reflexion ihrerseits das Bedenken des Lebendigseins als Möglichkeitsbedingung
menschlichen Handelns einbeziehen muss. Eben deshalb ist die Ethik des Lebendigen nicht
»applied ethics«, angewandte Ethik, sondern von systematischer Relevanz, weil sie Fragen
stellt, die im Kanon der praktischen Philosophie lange nicht präsent waren und darüber hinaus
einen Beitrag zur Revision der Begründungsmodelle der praktischen Philosophie leistet. Sie
zeigt, dass das Moment der Kontingenz, das die menschliche Lebenssituation ausmacht, den
Ansprüchen eines ethischen und epistemologischen Universalismus Grenzen setzt.
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