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Das deutsche Alibi
Mythos Stauffenberg-Attentat - wie der 20. Juli 1944 verklärt und politisch instrumentalisiert wird
Ruth Hoffmann
Goldmann Verlag
ISBN: 9783442317227
400 Seiten, hardcover, 15 x 22cm, April, 2024
EUR 24,00 alle Angaben ohne Gewähr
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Umschlagtext
Ein Datum im Dienst der Politik
Der Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 scheint bestens erforscht. Und doch ist nur wenigen bewusst, dass ein breites Bündnis von rund 200 Menschen unterschiedlicher Couleur am sogenannten "Stauffenberg-Attentat" beteiligt war.
Ruth Hoffmann unternimmt eine längst überfällige Rekonstruktion des legendenhaft überhöhten Anschlags auf Hitler. Sie lenkt den Blick auf die gesellschaftliche Breite der Verschwörung und zeigt, wie der 20. Juli seit Gründung der Bundesrepublik instrumentalisiert wird; mal um sich gegen die DDR abzusetzen, mal um ehemaligen Nationalsozialisten eine Nähe zum Widerstand anzudichten, oder, wie die AfD, um die eigene Demokratiefeindlichkeit mit einem angeblichen Widerstandsgeist in der Tradition Stauffenbergs zu kaschieren.
Der profund recherchierte Beitrag zu einem schicksalhaften Tag in der deutschen Geschichte
Rezension
Zum 80. male jährt sich in 2024 das Attentat auf Hitler am 20. Juli. Bekannt ist es als "Stauffenberg-Attentat". Der Anschlag missglückte und bereits am selben Abend im Jahre 1944 verkündete das NS-Regime, dass es sich bei den Verschwörern lediglich um eine "ganz kleine Clique" gehandelt habe.
Dass es sich hierbei um eine bewusste Fehldarstellung der Bevölkerung gegenüber handelte, dürfte mittlerweile bekannt sein, lassen sich dem Kreis der Verschwörer doch insgesamt mehr als 200 Personen zuordnen. Der heutigen Öffentlichkeit bekannt ist allerdings nur eine sehr kleine Zahl von Namen, allen voran Claus Graf Schenk von Stauffenberg, der den Sprengstoff versteckt in einer Aktentasche ins Führerhauptquartier nach Rastenburg geschmuggelt hatte.
Genau hier setzt das vorliegende Buch von Ruth Hoffmann an und beschäftigt sich mit eben dieser Frage, warum vor allem die beteiligten Offiziere der Wehrmacht ins Rampenlicht der Widerstandsgruppe gerückt wurden, weniger oder gar nicht die zahlreichen weiteren Mitglieder, vor allem aus den Kreisen der entschiedenen politischen Gegner der Nationalsozialisten.
Einer einleitenden Einordnung des Kernthemas folgen insgesamt 10 Kapitel, die sich mit der jeweiligen politischen Sicht in verschiedenen (Nachkriegs-) Epochen auf das Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 befassen. Ruth Hoffmann stützt die jeweiligen Erkenntnisse und Thesen auf eine beachtliche Zahl moderner historischer Erkenntnisse. Die jeweiligen Quellen sind (ungewöhnlich, aber durchaus interessant) über einen QR-Code abrufbar.
Die Darstellung des Attentats, dessen Gedenken und Würdigung in der Öffentlichkeit, werden chronologisch geordnet und ein Überblick über die jeweilige Darstellung in der Öffentlichkeit gegeben. Es wird offensichtlich, dass es einen (politisch begründeten) Unterschied in der Sichtweise, vor allem zwischen der alten Bundesrepublik und der DDR gab.
In Westdeutschland setzte sich eine traditionelle, konservative Sicht durch. Die Autorin beschreibt die jeweiligen Hintergründe, belegt hierdurch den Fakt, dass es stets die Offiziere der Wehrmacht waren, die in den Mittelpunkt gestellt wurden, während das Gros der "Anderen" unbekannt blieb, oftmals erst gar nicht genannt wurden.
Es wird jedoch insgesamt ersichtlich, dass es im Laufe der Nachriegs-Dekaden einen Wandel in der Sicht auf den Anschlag des 20. Juli gab, der sich zeitlich allerdings sehr langsam einstellte. Diese Entwicklung zeigt Ruth Hoffmann anhand zugänglicher Belege auf, beschreibt und kommentiert sie.
Hitler war im Laufe seines Lebens einer Vielzahl von Attentaten ausgesetzt, die er allesamt mehr oder weniger unbeschadet überstanden hatte. Das Attentat des 20. Juli 1944 ist mit Abstand das bekannteste und gilt daher quasi als Symbol für den deutschen Widerstand während des Nazi-Regimes.
Völlig zu recht betrachtet die Autorin eben diesen Fakt und ordnet das Geschehen neu ein. Nach 80 Jahren ist es an der Zeit gerade zu rücken, dass Graf Stauffenberg ohne Zweifel als ausführendes "Organ" des Anschlags fungierte und sein Name alleine schon deswegen zuerst genannt wird. Er konnte sich auf ein großes Netzwerk stützen. Das Stauffenberg-Attentat wurde zum Mythos, das sich auf verklärende Darstellungen seitens der Politik zurückführen lässt und teilweise gar politisch instrumentalisiert wurde, wie Ruth Hoffmann darlegt.
Den Blick weiten: ein mehr als berechtigtes Anliegen wie ich meine. Stauffenberg als zentrale Figur bliebe im Fokus, ohne sein Ansehen geschmälert würde. Gleiches gilt auch für weitere bekannte Namen, die vor allem dem Kreis hoher Offiziere zuordnen sind. Es geht darum, die Mitwirkung einer großen und außergewöhnlichen Allianz darzustellen. Deren gemeinsames Ziel lautete: Das Nazi-Terrorregime muss ein Ende finden!
"Dabei war gerade das Gegenteil, nämlich die Überwindung ideologischer Grenzen, das Besondere an dieser Verschwörung. Keiner der Beteiligten hätte den Plan für sich in Anspruch genommen, auch Stauffenberg nicht,. Jeder wusste, dass sie nur vereint eine Chance haben würden (...)" (siehe Buch S. 395).
Wäre die Autorin doch nur eben diesem Leitfaden gefolgt, politisch (um den Begriff ideologisch an dieser Stelle einmal zu vermeiden) unbefangen nachzugehen. Es ist ihr an gar einigen Stellen schlecht, oder auch gar nicht gelungen. Hätte ich nicht weitere Literatur zur neueren Sicht auf das Attentat gelesen, wüsste ich weiterhin sehr wenig über die Namen weiterer Beteiligter, von deren beeindruckenden Biografie einmal ganz zu schweigen. Gerade das erscheint mir essenziell, wenn es doch gilt, den Blick auf den Widerstand zu weiten. Natürlich: auch hier kann es sich lediglich um eine Auswahl handeln und ist in einem Überblickswerk auch nur ansatzweise zu leisten. Chance vertan!
Um die Leistungen des nationalsozialistischen Widerstands anhand neuer Erkenntnisse auch in ein berechtigtes, neueres Licht zu rücken, bedarf es der Erläuterungen und Kommentierungen aus der heutigen Sicht , keine Frage. Ich halte es jedoch für problematisch, wenn die Sicht der Bevölkerung und der Politiker in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht ebenfalls eingeordnet und erläutert wird. Eine Reihe historischer Erkenntnisse lag bereits auch kurz nach Kriegsende vor, weitere Erkenntnisse kamen jedoch sukzessive hinzu und begründen einen Wandel, selbst wenn man den Ursprung auf eine politische Vereinnahmung hin interpretieren möchte. Diese (im historischen Sinne) sachlichen Erläuterungen hätte ich in einem Werk, dass sich mit einem Schlüsselereignis der deutschen Geschichte befasst, ebenfalls erwartet. Von der Umsetzung bin ich offen gestanden enttäuscht.
Zusammenfassend: den Kern des Buches halte ich für richtig und wichtig. Die inhaltliche Umsetzung allerdings bewerte ich kritisch.
Dietmar Langusch, Lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Ein Datum im Dienst der Politik
Zum 20. Juli 1944 scheint alles gesagt. Wir wissen, wie Claus Schenk Graf von Stauffenberg die Bombe platzierte, warum der Anschlag misslang und dass es trotzdem aller Ehren wert ist. Dass aber in Wirklichkeit rund 200 Personen, ein breites Bündnis von Menschen aller sozialer Schichten und unterschiedlichster politischer Couleur am sogenannten »Stauffenberg-Attentat« beteiligt waren, ist nur wenigen bewusst. Noch heute gilt der 20. Juli 1944 als »Aufstand des Gewissens« einer kleinen Gruppe konservativer Militärs, noch heute verstellt diese legendenhafte Überhöhung unseren Blick auf die Ereignisse und die gesellschaftliche Vielfalt der Verschwörung. Die Journalistin Ruth Hoffmann unternimmt eine umfassende und längst überfällige Dekonstruktion des Mythos »Stauffenberg-Attentat« und zeichnet nach, wie der 20. Juli seit Gründung der Bundesrepublik politisch instrumentalisiert wird: mal um sich gegen die DDR abzusetzen und kommunistische Widerständler zu diffamieren; mal um Politikern, die mit dem NS-Regime kollaboriert hatten, eine Nähe zum Widerstand anzudichten; oder, wie neuerdings die AfD, um die eigene Demokratiefeindlichkeit mit einem angeblichen Widerstandsgeist in der Tradition Stauffenbergs zu kaschieren.
Das deutsche Alibi ist der profund recherchierte Beitrag zu einem schicksalhaften Datum, in dem sich bis heute das schwierige Verhältnis zu unserer eigenen Geschichte spiegelt.
Ruth Hoffmann, geboren 1973 in Hamburg, hat Ethnologie, Neuere Geschichte und Politik studiert und ist Absolventin der Henri Nannen-Journalistenschule. Von 2004 bis 2006 war sie Redakteurin beim Stern, seitdem arbeitet sie als freie Journalistin für verschiedene Medien, u.a. Geo, Stern, P.M. History, und Spiegel Geschichte. Sie ist Mitbegründerin des Journalistenverbunds Plan 17 und von :Freischreiber, dem Berufsverband freier Journalistinnen und Journalisten. 2012 erschien ihr Buch Stasi-Kinder. Aufwachsen im Überwachungsstaat über die Kinder hauptamtlicher Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung 9
1. Friede. mit den Tätern (1945-1952)
Das große Verdrängen 15
2. Kalter Krieg um das Gedenken (1953-1959)
Die Grenze in den Köpfen 55
3. Vergessene Anfänge (1933-1938)
Die Nation im Taumel, die Gegner im KZ 89
4. Das gescheiterte Wunder (1939-1944)
Der lange Weg zum 20. Juli 1944 125
5. Erinnerungskampf (1960-1969)
Das Ende der Seelenruhe 171
6. Aufbruch (1969-1979)
Der Mut, Verantwortung zu übernehmen 209
7. Rolle rückwärts (1980-1989)
Die entsorgte Vergangenheit 249
8. Wieder vereint, wieder getrennt (1989-1993)
Die verpasste Chance 295
9. Kult der Gerechten (1994-1999)
Der selbstgefällige Schlussstrich 325
10. Routiniertes Gedenken (2000 bis heute)
Der geplünderte Mythos 361
Dank 397
Empfehlungen zum Weiterlesen 399
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