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Das Verbrechen und die Gesellschaft
Das Verbrechen und die Gesellschaft




Fritz Bauer

Ernst Reinhardt Verlag
EAN: 9783497032655 (ISBN: 3-497-03265-4)
266 Seiten, kartoniert, 13 x 22cm, Januar, 2024

EUR 33,00
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Siehe Verlagsinformation.
Rezension
Wer war der Hauptinitiator des Frankfurter Auschwitz-Prozesses? Welcher ehemalige jüdische Stuttgarter Richter, der seit 1920 SPD-Mitglied war, wurde 1933 von den Nationalsozialisten im KZ Heuberg und im KZ Oberer Kuhberg inhaftiert? Wer emigrierte 1936 nach Dänemark und später nach Schweden, wo er u.a. mit Willy Brandt die Zeitschrift ”Sozialistische Tribüne” gründete? Wer hat sich um den sozialen und demokratischen Rechtsstaat der jungen Bundesrepublik in besonderem Maße verdient gemacht? Fritz Bauer (1903-1968), der seit 1956 bis zu seinem Tode der hessische Generalstaatsanwalt in Frankfurt am Main war. Der Jurist hielt zahlreiche Vorträge und veröffentlichte eine Vielzahl von Beiträgen, in denen er die Justiz, Gesellschaft und Politik der deutschen Nachkriegszeit kritisch reflektierte. Zu seinen bekanntesten Büchern zählt sein Klassiker ”Das Verbrechen und die Gesellschaft” aus dem Jahre 1957.
Diesen hat der Ernst Reinhardt Verlag, in dem das Werk ursprünglich auch erschien, 2024 in einem Reprint neu aufgelegt. In der Monographie räumt Bauer mit einigen in der (damaligen) Jurisprudenz und in der Öffentlichkeit verbreiteten Mythen auf, zum Beispiel mit Cesare Lombrosos vertretener Theorie vom ”geborenen Verbrecher” oder mit der Vorstellung, ein verschärftes Strafrecht reduziere automatisch die Zahl der Verbrechen. Der Intellektuelle plädiert in seinem Buch für ein ”realistisches Kriminalrecht”, das interdisziplinär ausgerichtet die Erkenntnisse der Anthropologie, Psychologie, Soziologie, Biologie, Medizin und Pädagogik berücksichtigt und im engen Konnex zur Kriminal- und Sozialpolitik steht. Der Generalstaatsanwalt fordert zudem eine Reform des damals geltenden Strafrechts. Eine humane Strafrechtspraxis habe in ihr Zentrum die Resozialisierung von Täter:innen – nicht die Generalprävention - zu stellen und sich an Artikel 1 des Grundgesetzes von der Unantastbarkeit der Würde des Menschen zu orientieren.
Bauers Kritik an einem - aus seiner Perspektive - seinerzeit geltenden philosophisch geprägten deutschen Strafrecht, dem er ein wissenschaftsbasiertes angelsächsisches Strafrecht gegenüberstellt, basiert allerdings auf einem verkürzten Verständnis von Philosophie. Die Monographie von Bauer kann trotz seiner Heranziehung von zahlreichen kriminalsoziologischen Studien seiner Zeit für seine Argumentationen im Kern als eine hochreflektierte rechtsphilosophische Abhandlung, in der er auch zentrale anthropologische, moral- und sozialphilosophische Positionen rezipiert und kritisiert, angesehen werden. Zurecht formulierte der Jurist die Erkenntnis: ”Es gibt kein Strafgesetz, keine Strafrechtslehre und -praxis, denen nicht bestimmte Vorstellungen vom Menschen und der Welt, in der er lebt, vorausgingen.”(S. 246)
Lehrkräfte der Fächer Politik, Geschichte und Ethik werden durch Bauers Buch motiviert, sich mit grundlegenden Fragen der Kriminologie problemorientiert auseinanderzusetzen. Einzelne Passagen aus dem Band können produktiv für unterrichtliche Diskussionen herangezogen werden, zum Beispiel über Willensfreiheit, über das Verhältnis von Recht und Moral, über die Orientierung an Schuld und Sühne im Strafrecht, über die Verbrechen bedingenden Faktoren, über die Legitimität der Todesstrafe, über unterschiedliche Strafrechtstheorien oder über die Notwendigkeit eines humanen Strafrechts.
Fazit: Das Reprint von Fritz Bauers juristischem Klassiker ”Das Verbrechen und die Gesellschaft” kann allen an der (Geschichte der) Kriminologie Interessierten nur zur Lektüre empfohlen werden. Manche Erkenntnisse des Juristen aus dem Jahre 1957 verdienen heutzutage besondere Beachtung, insbesondere seine Forderung von zwei Säulen der Verbrechensbekämpfung, nämlich Verbrechen nicht nur juristisch zu verurteilen, sondern diesen auch durch sozialpolitische Maßnahmen zu begegnen. Der Rekurs auf Bauers Monographie könnte in Politik und Gesellschaft zur Versachlichung von Debatten und zur juristischen Aufklärung beitragen.

Dr. Marcel Remme, für lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Der Jurist Dr. Fritz Bauer (1903 – 1968) war ein Verfolgter des Nazi-Regimes. Seit 1956 Generalstaatsanwalt in Hessen, war er der Hauptinitiator des Frankfurter Auschwitz-Prozesses (ab 1963). Im Jahr 1957 veröffentlichte Fritz Bauer im Ernst Reinhardt Verlag das Buch „Das Verbrechen und die Gesellschaft“. Der Verfasser ringt darin um grundsätzliche Erklärungen für verbrecherisches Verhalten der Menschen. Er greift hierzu wissenschaftliche Ergebnisse und Positionen der 1950er Jahre auf. In seinem Plädoyer für eine neue Ausrichtung im Strafrecht fordert Fritz Bauer, Anthropologie, Psychologie, Soziologie, Medizin und Biologie sowie die Pädagogik einzubeziehen. Die Breite seines Ansatzes war für einen Juristen ungewöhnlich.
Der vorliegende Reprint macht dieses historische Werk von 1957 den heutigen Leserinnen und Lesern wieder zugänglich – ein spannendes, zeitgeschichtliches und zeitgebundenes Dokument: Fritz Bauers Suche nach der Wahrheit über Verantwortung und Tragik.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung 7
URSACHEN DES VERBRECHENS
1. Kausalität oder freier Wille 17
2. Zur Vererblichkeit krimineller Neigungen 35
3. Anthropologische Untersuchungen, Körperbau und
Charakter 42
4. Drüsenstörungen 46
5. Lebensalter 48
6. Die Geschlechter 53
7. Homosexualität 58
8. Körperliche Erkrankungen 62
9. Seelische Erkrankungen (»Psychosen«) 65
10. Psychopathien 69
11. Intelligenzmängel 76
12. Affekte und Neurosen 79
13. Alkoholmißbrauch 88
14. Das Klima 91
15. Zeit und Ort 93
16. Wirtschaftliche Verhältnisse 97
17. Literatur, Presse, Film 105
18. Religion und Konfession 110
19. Familie und Heim 114
20. Die Ehe 120
21. Der Umgangskreis des Menschen 122
DIE VERTEIDIGUNG DER GESELLSCHAFT
1. Zur Geschichte der Verbrechensbekämpfung 127
2. Theorien der Verbrechensbekämpfung 134
3. Die Gesetzgebung von heute 155
4. Schuld und Sühne 168
5. Die Abschreckung zukünftiger Täter 181
6. Das Prinzip der Resozialisierung 188
7. Das Grundgesetz, die Grundrechte und das Verbrechen 205
8. Die Todesstrafe 212
9. Die Freiheitsstrafe 221
10. Pädagogische und ärztliche Maßnahmen 232
Zur Reform des deutschen Strafgesetzbuchs 246
Register 257