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Chancenspiegel Zur Chancengerechtigkeit und Leistungsfähigkeit der deutschen Schulsysteme
Chancenspiegel
Zur Chancengerechtigkeit und Leistungsfähigkeit der deutschen Schulsysteme




Bertelsmann Stiftung, Institut für Schulentwicklungsforschung (Hrsg.)

Verlag Bertelsmann Stiftung
EAN: 9783867933353 (ISBN: 3-86793-335-9)
192 Seiten, paperback, 19 x 27cm, 2012, Broschur inkl. Zusammenfassung zentraler Befunde

EUR 20,00
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Internationale Schulleistungsstudien wie PISA und IGLU belegen es seit Jahren: Die Chancen für Bildungsteilhabe und Bildungserfolg sind in den deutschen Schulsystemen ungleich verteilt. So hängt etwa der Kompetenzerwerb in Deutschland wie in kaum einem anderen Land von der sozialen Herkunft ab. Vor dem Hintergrund solcher Befunde fragt der »Chancenspiegel« nach der Leistungsfähigkeit und Gerechtigkeit der deutschen Schulsysteme und stellt hierzu theoretisch fundierte Gerechtigkeitsannahmen auf. Mithilfe von Daten aus der amtlichen Statistik und Schulleistungsuntersuchungen werden die Schulsysteme der Bundesländer vergleichend in den vier zentralen Gerechtigkeitsdimensionen »Integrationskraft«, »Durchlässigkeit«, »Kompetenzförderung« und »Zertifikatsvergabe« analysiert. Ausgesuchte Programme und Maßnahmen einzelner Bundesländer zur Sprachförderung dokumentieren, wie diese sich um mehr Chancengerechtigkeit bemühen.

Die hier aufbereiteten theoretischen Diskussionen und empirischen Befunde sind ein wichtiger Beitrag, um eine gesellschaftliche Debatte über ein gerechtes und leistungsstarkes Schulsystem anzuregen, in dem alle Kinder bestmöglich gefördert werden.

www.chancen-spiegel.de
Rezension
Die soziale Herkunft bestimmt in Deutschland noch immer weitaus mehr als in anderen europäischen Ländern den Schulabschluß und den Zugang zu Hochschulen; von Bildungs- und Chancengerechtigkeit ist das deutsche Schulsystem weit entfernt, - auch wenn das bildungspolitisch nicht gerne gehört und wahrgenommen wird; denn (nicht vorhandene) Bildungschancen sind (nicht vorhandene) Lebenschancen. Dieses Buch stellt mit Hilfe von fundierten Gerechtigkeitstheorien und den vier Gerechtigkeitparadigmen Integrationskraft, Durchlässigkeit, Kompetenzförderung und Zertifikatsvergabe die Leistungsfähigkeit und Gerechtigkeit des deutschen Schulsystems in Frage. Bildungsgerechtigkeit und Leistungsfähigkeit müssen einander dabei keineswegs widersprechen, - im Gegenteil. Der Chancenspiegel nimmt beide Perspektiven in den Blick.

Oliver Neumann, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Autoren und Autorin:
Nils Berkemeyer (IFS)
Wilfried Bos (IFS)
Veronika Manitius (IFS)

unter Mitarbeit von:
Rolf Strietholt (IFS)
Michael Kanders (IFS)
Burkhard Schwier
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 7

I Rahmenkonzept 11

1. Einleitung 11
2. Gerechtigkeitstheorien als normative Bewertungsgrundlage von Schulsystemen 17
3. Zur Bedeutung des Schulsystems für eine moderne Gesellschaft 21
3.1 Funktionen des Schulsystems und die Herausforderung seiner Gestaltung 22
3.2 Die Bedeutung der Schule für das Lernen – Schuleffektivitätsforschung 23
4. Zusammenführung der theoretischen Ansätze: Entwurf einer gerechtigkeitstheoretischen Schultheorie 25
5. Die vier Gerechtigkeitsdimensionen des Chancenspiegels 29
6. Grenzen und Perspektiven 37

II Gerechtigkeitsdimensionen schulischer Bildung im Spiegel ausgewählter Indikatoren 39

1. Zur Integrationskraft der Schulsysteme 39
1.1 Besondere Förderbedarfe und Beschulungsformen 40
1.2 Ausbau und Besuch von Ganztagsschulen 47
2. Zur Durchlässigkeit der Schulsysteme und über Anschlüsse schulischer Bildung 54
2.1 Übergänge und Durchlässigkeit 55
2.2 Anschlüsse 62
3. Zur Kompetenzförderung der Schulsysteme 69
3.1 Die Förderfähigkeit der Schulsysteme 70
3.2 Migrationshintergrund und soziale Herkunft 78
4. Zur Zertifikatsvergabe der Schulsysteme 86
4.1 Erworbene Abschlüsse 87
4.2 Fehlende Abschlüsse 93
5. Zur Gerechtigkeit der deutschen Schulsysteme im Ländervergleich 99

III Auf dem Weg zu mehr Gerechtigkeit – Aktivitäten der Länder zur individuellen Förderung 105

1. Individuelle Förderung als Strategie für mehr Chancengerechtigkeit 105
2. Strategien zur Sprach- und Leseförderung – eine Analyse 106
2.1 Vorgehen und methodische Bemerkungen 107
2.2 Aktivitäten der Sprach- und Leseförderung in den Ländern – eine Übersicht 108
2.3 Zusammenfassung 114

IV Fazit 117

V Anhang 121

1. Anmerkungen 121
2. Literatur 122
3. Tabellenverzeichnis 138
4. Abbildungsverzeichnis 138
5. Die Autoren und die Autorin 191


Leseprobe:

Vorwort
Für Kinder und Jugendliche sind Bildungschancen Lebenschancen. Aber gute Bildung
ist nicht nur der Schlüssel zu individuellem Erfolg, sondern auch für gesellschaftliche
Integration. Gute Bildungschancen sind somit gleichermaßen ein Gebot
der Fairness und Gerechtigkeit sowie eine entscheidende Grundvoraussetzung für
Demokratie, Wohlstand und Zusammenhalt der ganzen Gesellschaft.
Wir können es nicht hinnehmen, wenn der Bildungserfolg in erheblichem Maße
von der Herkunft abhängt. In Deutschland ist das aber der Fall – dafür haben uns
vor allem die PISA-Studien die Augen geöffnet. Seit dem ersten »PISA-Schock« hat
sich viel getan in Deutschland: Bildungsstandards, Vergleichsarbeiten und Schulinspektionen
wurden eingeführt und damit wurde sukzessive ein neues Paradigma
outputorientierter Steuerung im Schulwesen etabliert. Manches ist unumstritten,
wie der Ausbau der Ganztagsschulen, manches wird kontrovers diskutiert, wie die
Verkürzung der Schulzeit. Nach zehn Jahren können wir konstatieren, dass es erfreulicherweise
Fortschritte gibt: Die Leistungen der deutschen Schüler sind im
internationalen Vergleich besser geworden und auch die Abhängigkeit des Bildungserfolgs
von der Herkunft hat sich etwas abgemildert. Für eine Entwarnung ist es
aber zu früh. Denn der Einfluss der Herkunft ist in Deutschland nach wie vor entscheidend.
Und die Vielfalt in den Schulen wird weiter steigen – nicht nur wegen
des demographischen Wandels, sondern auch wegen der Herausforderung durch
die UN-Konvention, ein inklusives Bildungssystem zu entwickeln.
In der Bevölkerung gibt es die ausgeprägte Erwartung, dass das Bildungssystem
für sozialen Aufstieg sorgt – und für gute Leistungen. 72 Prozent der Befragten
meinten 2011 in einer repräsentativen Umfrage von TNS Emnid im Auftrag der
Bertelsmann Stiftung, es sei eine außerordentlich oder sehr wichtige Aufgabe des
Bildungssystems, dass auch Benachteiligte in unserer Gesellschaft sozial aufsteigen
können. Genauso viele Menschen sahen es als Aufgabe des Bildungssystems, dass
besonders begabte Schülerinnen und Schüler ihr Potenzial ausschöpfen. Tatsächlich
muss unserem Bildungssystem beides gelingen: für faire Chancen zu sorgen
und für herausragende Leistungen. In der deutschen Bildungsdebatte der letzten
Jahrzehnte schien das oft ein unüberbrückbarer Gegensatz: Die einen kämpften für
Bildungsgerechtigkeit, die anderen für Leistungsfähigkeit. PISA-Spitzenreiter wie
Kanada sehen darin keinen Widerspruch und schaffen es unter dem Motto »Equity
and Excellence«, beide Ziele anzustreben und zu verwirklichen.
Auch in Deutschland muss dieser vermeintliche Widerspruch in den Bildungsdebatten
und Bildungspolitiken überwunden werden. Nur ein Bildungssystem, das
leistungsfähig ist, ist chancengerecht und nur ein chancengerechtes Bildungssystem
ist leistungsfähig.
Der Chancenspiegel versucht, beide Perspektiven in den Blick zu nehmen. Er
fokussiert dabei bewusst auf das Schulsystem, ohne damit die Bedeutung der frühkindlichen
Bildung für Lebenschancen infrage zu stellen. Natürlich lässt sich über
die voraussetzungsreichen und vieldeutigen Begriffe »Chancengerechtigkeit« und
»Leistungsfähigkeit« trefflich streiten und erst recht über ihre Explikation und Spezifikation
in Dimensionen und Indikatoren. An dieser Stelle möchten wir Prof. Dr.
Wilfried Bos, Dr. habil. Nils Berkemeyer und Veronika Manitius vom Institut für
Schulentwicklungsforschung an der Technischen Universität Dortmund herzlich
danken, dass sie sich der Herausforderung gestellt haben und sich in dieser komplexen
Debatte mit einem theoretisch plausiblen Ansatz positionieren. Danken möchten
wir auch dem wissenschaftlichen Beirat, namentlich Prof. Dr. Rolf Becker, Prof.
Dr. Isabell van Ackeren, Prof. Dr. Thomas Rauschenbach, Prof. Dr. Knut Schwippert
und Prof. Dr. Horst Weishaupt. Der Beirat hat mit seinen durchaus kritischen, aber
hilfreichen Anregungen den Chancenspiegel einer ersten Überprüfung durch die
Fachöffentlichkeit unterzogen und damit zu dessen Qualität beigetragen.
Der hier vorgelegte Ansatz von Prof. Dr. Bos und seinem Team am Institut für
Schulentwicklungsforschung nimmt Bezug auf die derzeit wichtigsten Theorien
über Chancengerechtigkeit und verbindet sie mit schultheoretischen Ansätzen. Der
daraus abgeleitete Begriff der Chancengerechtigkeit bezieht sich sowohl auf die
Überwindung von Nachteilen als auch auf die Entwicklung von Potenzialen. Ein
Schulsystem, das sich diesem Anspruch der Chancengerechtigkeit stellt, muss integrieren,
durchlässig sein, Kompetenzen vermitteln und Leistungen durch entsprechende
Zertifikate anerkennen. Diese im Chancenspiegel implizierten Dimensionen
von Chancengerechtigkeit sind sicher nicht für alle Bildungsforscher erschöpfend,
können aber in der öffentlichen Debatte eine hohe Plausibilität beanspruchen.
Bei der Operationalisierung dieser Dimensionen stößt der Chancenspiegel auf
Grenzen des Machbaren, die insbesondere von der Datenverfügbarkeit gesetzt werden.
Auch die Herausgabe von Daten durch die zuständigen Stellen in Deutschland
ist nicht immer problemlos, sobald es um einen möglichen Vergleich der Bundesländer
geht.
Der Chancenspiegel erhebt deshalb nicht den Anspruch, mit seinen Dimensionen
und Indikatoren die Frage nach Chancengerechtigkeit abschließend zu klären.
Sehr wohl aber versteht er sich als ein ergänzendes Instrument der Bildungsberichterstattung,
das die öffentliche Aufmerksamkeit auf zentrale Befunde und Herausforderungen
im Schulsystem fokussieren möchte. Wie steht es um die Chancen von
Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung, gemeinsam zu lernen? Welche
Chancen haben Schülerinnen und Schüler, eine Ganztagsschule zu besuchen?
Wie hoch sind die Chancen von benachteiligten Kindern, ein Gymnasium zu besuchen?
Wie ausgeprägt sind die Risiken, in eine niedrigere Schulform wechseln oder
sitzen bleiben zu müssen? Welche Chancen haben Jugendliche auf einen guten
Übergang von der Schule in die Berufsausbildung? Wie sind ihre Chancen, ihre
Kompetenzen in der zentralen Kulturtechnik des Lesens zu entfalten? Wie hoch ist
die Chance, die Hochschulreife zu erlangen? Wie hoch das Risiko, die Schule ohne
Abschluss verlassen zu müssen? An diesen Fragen kommt eine Gesellschaft nicht
vorbei, wenn sie allen eine faire gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen möchte.
Diesen Fragen müssen sich die Bildungsverantwortlichen in den Ländern stellen.
Und bei der Lösung können erfolgreichere Länder weniger erfolgreichen Ländern
Wege weisen – das ist der Sinn des im Chancenspiegel vorgenommenen Ländervergleichs.
Der erste hier vorgelegte Chancenspiegel ist eine Bestandsaufnahme, die einen
Ausgangspunkt für die Debatte um die Chancengerechtigkeit und Leistungsfähigkeit
der Schulsysteme in den Bundesländern markiert. Gemeinsam mit dem Institut
für Schulentwicklungsforschung wollen wir die (fach-)öffentliche Debatte anregen
und hoffen, dass die erhöhte Aufmerksamkeit für Fairness im Schulsystem
positiven Entwicklungen Rückenwind verleiht. Welche Entwicklungen es bei der
Chancengerechtigkeit in den letzten Jahren gegeben hat, wird Gegenstand des
nächsten Chancenspiegels sein.
Für Fakten und Herausforderungen zu sensibilisieren, ist die eine Seite der Medaille.
Die andere Seite ist die Entwicklung von Lösungen. Die Abhängigkeit des
Bildungserfolgs von der Herkunft wird nur dann durchbrochen werden, wenn es
gelingt, Kinder und Jugendliche besser individuell zu fördern. Auch hier möchte
der Chancenspiegel einen Beitrag leisten, indem er Strategien individueller Förderung
in den zentralen Feldern der Sprach- und Leseförderung in den Bundesländern
darstellt – und dazu anregt, voneinander zu lernen.
Wir laden mit dem Chancenspiegel alle Bildungsinteressierten ein, sich an der
Debatte über die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen in unserem Land
zu beteiligen. Wir sind überzeugt, dass diese Debatte intensiv und lösungsorientiert
geführt werden muss. Denn hier entscheidet sich die Zukunftsfähigkeit unserer
Gesellschaft: Bildungschancen sind Lebenschancen.

Dr. Jörg Dräger Ulrich Kober
Mitglied des Vorstands Director
der Bertelsmann Stiftung Programm Integration und Bildung der Bertelsmann Stiftung