lehrerbibliothek.deDatenschutzerklärung
Zwischen Gottesstaat und Demokratie Handbuch des politischen Islam
Zwischen Gottesstaat und Demokratie
Handbuch des politischen Islam




Thomas Schmidinger, Dunja Larise (Hrsg.)

Zsolnay
EAN: 9783552060838 (ISBN: 3-552-06083-9)
288 Seiten, paperback, 14 x 21cm, 2008

EUR 19,90
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Fundamentalismus, Selbstmordattentäter, Hassprediger, Dschihad - Begriffe wie diese beherrschen die Reden wahlkämpfender Politiker wie die alltäglichen Diskussionen in den Medien. Zwischen religiösen Überzeugungen, politischen Absichten und politisch motivierter Gewalt wird oft nicht differenziert. Dieses Buch schafft Klarheit und liefert Antworten auf die wichtigsten Fragen: Wie weit ist der Islam als Religion zu verstehen, und wo beginnt er sich als Politik zu begreifen? Welche Bewegungen und Gruppierung brechen mit dem überkonfessionellen Staat? Basierend auf einer ausführlichen Darstellung historischer Entwicklungen bietet dieses Handbuch einen fundierten Überblick über die Strömungen und Vernetzungen des politischen Islam und benennt in einem zweiten praktischen Teil die verschiedenen Parteien und Organisationen, die auch in Österreich und Deutschland aktiv sind, ihre Protagonisten, Strukturen und Ziele.
Rezension
Die ca. 400 000 zumindest nominell als Muslime geltenden Personen in Österreich beziehungsweise rund 3,5 Millionen in Deutschland werden sowohl von denen, die sie als »Gefahr« betrachten, als auch von denen, die sie als Bereicherung wahrnehmen, als homogene Gruppe betrachtet. Kaum jemand macht sich die Mühe, muslimische MitbürgerInnen als genauso vielfältig, widersprüchlich und in sich gespalten wahrzunehmen wie die Mehrheitsgesellschaft auch. (Wie schwierig aber innerhalb des Islam eine Homogenität ist, das zeigt sich exemplarisch an der Schwierigkeit der Einführung eines islamischen Religionsunterrichts in Deutschland; - bislang scheitert er an der mangelnden Koordination des Islam selbst.) Zwischen religiösen Überzeugungen, politischen Absichten und politisch motivierter Gewalt wird oft nicht differenziert. Dieses Buch schafft Klarheit und liefert Antworten auf die wichtigsten Fragen: Wie weit ist der Islam als Religion zu verstehen, und wo beginnt er sich als Politik zu begreifen? Welche Bewegungen und Gruppierung brechen mit dem überkonfessionellen Staat?

Jens Walter, lehrerbibliothek.de
Inhaltsverzeichnis
1. Grundlagen: Islam und Politik

1.1. Einleitung 7
1.2. Begrifflichkeiten 24
1.3. Ideologeme des politischen Islam 33
1.4. Die Geschichte des Islam in Österreich 47
1.5. Säkularismus und moderner Staat 59

2. Politischer Islam in Österreich
Organisationen, Akteure und Strukturen

2.1. Politischer Islam mit arabischem Migrationshintergrund 69
2.2. Politischer Islam mit türkischem Migrationshintergrund 144
2.3. Politischerlslam mit bosnischem Migrationshintergrund 183
2.4. Politischer islam mit indischem, pakistanischem und afghanischem Migrationshintergrund 207
2.5. Politischer Islam mit schiitischem Hintergrund 224
2.6. Politischer Islam mit mehrheitsösterreichischem Hintergrund 250

3. Der Sonderfall:
Die IGGiÖ und der politische Islam 257

Nachwort 289
Autorinnen und Autoren 292
Anmerkungen 294


Leseprobe:

1. Grundlagen: Islam und Politik
1.1. Einleitung
In den letzten Jahren wurde der Islam in Österreich und Deutschland
zu einem immer wiederkehrenden Thema öffentlicher Auseinandersetzung.
Die Debatte konzentriert sich einerseits auf
Fragen der Sicherheit oder ganz banal darauf, ob »der Islam« nun
eine »Gefahr« sei oder nicht, und andererseits auf Fragen der öffentlichen
Repräsentation und Sichtbarkeit der Religion, etwa in
Form von Moscheen mit Minaretten oder Kopftüchern. Die rund
400 000 zumindest nominell als Muslime geltenden Personen in
Österreich beziehungsweise rund 3,5 Millionen in Deutschland
werden dabei sowohl von jenen, die sie – oft mit rassistischen Ressentiments
unterlegt – als »Gefahr« betrachten, als auch von denen,
die sie – oft von exotisierenden Vorstellungen begleitet – als
Bereicherung wahrnehmen, als homogene Gruppe betrachtet.
Kaum jemand macht sich die Mühe, muslimische MitbürgerInnen
als genauso vielfältig, widersprüchlich und in sich gespalten
wahrzunehmen wie die Mehrheitsgesellschaft auch. Wenn wir ein
Handbuch zum politischen Islam publizieren, so soll dieses
Handbuch zuallererst einen Beitrag dazu leisten, diesen Blick zu
verändern und Vielfalt und Widersprüchlichkeiten sichtbar zu
machen, die von diesen homogenisierenden Darstellungen verdeckt
werden.
Dieser aus unserer Sicht falsche Diskurs blendet auch die Tatsache
aus, dass zu allererst die Muslime selbst Ziel des politischen
Islam sind. So ist es eines der wichtigsten Etappenziele unterschiedlicher
Gruppen des politischen Islam, Muslime auf den aus
ihrer Sicht rechten Weg zu bringen. Der aus Syrien stammende
Professor für Islamwissenschaften in Exeter und Oxford, Aziz
7
Al-Azmeh, sprach in diesem Zusammenhang von einer »Islamisierung
des Islam«1.Was auf den ersten Blick als Absurdität erscheint,
ist der Versuch, die säkularisierten – aus Sicht der radikalsten
Strömungen des politischen Islam sogar vom Islam abgefallenen
– Muslime zu jener Form des Islam zu bekehren, die als
jeweils richtig angesehen wird. Die Methoden dafür sind so unterschiedlich
wie die ideologischen Prämissen des politischen Islam
und reichen von Überzeugungsarbeit und dem Aufbau islamischer
Parallelstrukturen in Europa bis hin zur offenen Kriegserklärung
an säkularisierte Muslime. Die »Islamisierung des Islam
« ist damit eine Ideologisierung des Islam, die offensiv auf die
Muslime wirken soll.
In der Propaganda des islamischen Fundamentalismus oder
Integralismus wird die Säkularisierung in diesem Zusammenhang
als Verwestlichung im Zuge eines politischen, ökonomischen
und schließlich auch kulturellen Imperialismus und Kolonialismus
des Westens dargestellt. Sowohl die Akteure dieses politischen
Islam als auch jene »KritikerInnen«, die den Islam an
sich für aufklärungs- und demokratieresistent halten, vergessen
dabei, dass Aufklärung ein Prozess ist, der zwar in seiner heute
erfolgreichen historischen Form in Europa seinen Ausgang nahm,
jedoch seine Vorläufer auch in der arabisch-islamischen Welt
hatte. Dabei geht es nicht nur um die Überlieferung der Werke
griechischer Philosophen der Antike über die islamische Welt ins
christliche Europa, das diese »heidnischen Schriften« zuvor verbrannt
hatte, sondern auch um konkrete Ansätze der Aufklärung
innerhalb des Islam, von der schiitischen Gerechtigkeitsbewegung
der Qarmaten bis zur Aufklärung der Mutazilia im 9. Jahrhundert
westlicher Zeitrechnung. Letztere blieben trotz späterer
Verfolgung und Auslöschung als Erinnerung an eine eigene islamische
Aufklärung präsent und bilden heute noch Referenzpunkte
für manche islamische Aufklärer, wie den aus Tunesien
stammenden Schriftsteller und Intellektuellen Abdelwahab Meddeb,
der die zentralen aufklärerischen Thesen der Mutaziliten in
der Erschütterung von zwei herrschenden Ideen sieht: »Einmal
krisierten sie eines der islamischen Dogmen, der Koran sei uner-
8
schaffen (damit auf derselben Stufe wie Gott), vom Himmel herabgekommen
als Wesen eigener Ewigkeit. Dagegen wandten sie
ein, das Buch sei zwar gewiss himmlischen Ursprungs, aber eine
Verwirklichung in der Schrift einer irdischen Sprache sei nur vorstellbar
als Schöpfung Gottes im Augenblick ihrer Offenbarung.
[…] Außerdem entrückten [sie] Gott der Welt, indem sie ihn seiner
Unerforschlichkeit zuführten und in der Transzendenz neutralisierten,
die den Menschen von seiner Prädestination befreit und
für seine Taten allein verantwortlich macht.«2
Aufklärerisches Denken ist damit dem Islam nicht fremd, es
unterlag schlicht in den historischen Machtkämpfen der islamischen
Geschichte,war jedoch immer wieder Gegenstand von Auseinandersetzungen.
So banal diese Feststellung für den ist, der islamische
Gesellschaften und die islamische Geschichte kennt, so
sehr muss angesichts des Diskurses über den Islam hierzulande
betont werden, dass auch die vom Islam dominierten Gesellschaften
historische sind und damit Resultate konkreter gesellschaftlicher
und politischer Kämpfe. Der Islam war nie einheitlich und
ist es auch heute nicht.
Gerade säkulare muslimische Intellektuelle wie der syrische
Philosoph Sadiq al-Azm sind es, die heute gegen die »im Trend
liegende, bequeme und politisch nützliche Auffassung in westlichen
Ländern, aber auch anderswo, derzufolge Meinungsfreiheit,
religiöse Toleranz, Achtung der Menschenrechte spezifisch
westliche Werte sind, an denen die muslimische Welt keine Teilhabe
beanspruchen kann, weil ihre ureigensten, wichtigsten Werte
im Gegensatz stünden«3, argumentieren. Innerhalb der islamischen
Welt werden heute weit heftigere Auseinandersetzungen
geführt als zwischen den angeblich so gegensätzlichen Zivilisationen.
Während Akteure des politischen Islam sich innermuslimischer
Vielfalt und Widersprüchlichkeit schmerzlich bewusst sind,
wird nach außen hin von den meisten Gruppen ein Alleinvertretungsanspruch
des Islam geltend gemacht. Gefördert wird dies
von der Tendenz der nichtmuslimischen Öffentlichkeit, »den
Islam« beziehungsweise »die Muslime« als homogene Gruppe zu
9
sehen. Dies gilt generell in Europa, jedoch in besonderem Maße
für Österreich.
10