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Willensfreiheit als interdisziplinäres Problem
Willensfreiheit als interdisziplinäres Problem



Verlag Karl Alber
EAN: 9783495481646 (ISBN: 3-495-48164-8)
388 Seiten, kartoniert, 14 x 21cm, 2006

EUR 29,00
alle Angaben ohne Gewähr

Rezension
Seit der Jahrtausendwende erfährt eines der klassischen Probleme der Philosophie, nämlich die Frage nach der Willensfreiheit, eine Renaissance. Wissenschaftler wie die Neurobiologen Gerhard Roth (Universität Bremen) und Wolf Singer (Universität Frankfurt) und der Kognitionspsychologe Wolfgang Prinz (LMU München) leugnen, dass der Mensch über einen freien Willen verfügt. Die Neurobiologen beziehen sich dabei auf Versuche von Benjamin Libet aus den frühen 1980er Jahren, bei denen die zeitliche Abfolge zwischen dem Willensakt und Handlungsbeginn auf neuronaler Ebene gemessen wurde.
Die Debatte wurde bzw. wird in populärwissenschaftlichen Magazinen und in überregionalen Zeitschriften, z. B. in der Feuilleton-Reihe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von November 2003 bis Juli 2004 geführt. Die Behauptung von der neuronalen Determiniertheit des Menschen bedeutet einen Generalangriff auf das Bild vom autonomen, rationalen Subjekt. Außerdem fordern Roth und Singer eine Revision des bisherigen am Schuldbegriff orientierten Strafrechts.
Der aktuelle Themenbereich Willensfreiheit war zudem Gegenstand mehrerer wissenschaftlicher Tagungen in den letzten Jahren, so fand u.a. an der Universität Kassel im Juni 2004 eine Veranstaltung mit dem Titel >Willensfreiheit als interdisziplinäres Problem< statt. Die wissenschaftlichen Beiträge dieser Tagung sowie weitere thematische Abhandlungen erscheinen 2006 als Auftaktband der neuen Reihe >Lebenswissenschaften im Dialog<, herausgegeben von Kristian Köchy und Stefan Majetschak, im >Verlag Karl Alber<. Der von dem Philosophieprofessor Köchy und seinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Dirk Stederoth editierte Band weist einen dreiteiligen Aufbau auf. Im ersten Block finden sich Beiträge zu den neurobiologischen >Befunden<, so von dem Kritiker der Willensfreiheit Roth, ein Aufsatz von Thomas Goschke und Henrik Walter, in dem sie die >drei Komponenten der Willensfreiheit< (>Prinzip der alternativen Möglichkeiten<, >Autonomieprinzip<, >Prinzip der Urheberschaft<) ausarbeiten und die verschiedenen Positionen in der Debatte ausführen und tabellarisch darstellen: Varianten des Kompatibilismus und Inkompatiblismus (S. 107-110). Ein zweiter Block des Bandes enthält wissenschaftstheoretische >Hintergründe< zum neurobiologischen Forschungsprogramm, zur Validität der Libet-Experimente und zur disziplinären Verordnung der Neurophilosophie. In dem dritten Abschnitt des Buches stehen philosophische Konsequenzen im Vordergrund. Dieser Teil enthält u.a. einen luziden Beitrag >zur Frage der Willensfreiheit bei Kant und Hegel<, zur Position Theodor W. Adornos und zu Michael Pauens >Minimialkonzeption von Freiheit<.
Die wissenschaftlichen Texte können als Bausteine für eine interdisziplinäre Unterrichtseinheit zur Willensfreiheit in einem Philosophie- oder Ethikkurs der Oberstufe dienen. Aus eigener Erfahrung mit der Unterrichtseinheit >Willensfreiheit und Hirnforschung< in einem Philosophiekurs der zwölften Klasse kann ich bestätigen, dass das kontrovers diskutierte Thema als Einführung in die Philosophie (des Geistes) in einem besonderen Maße geeignet ist. Es ermöglicht nämlich genuin philosophisches Denken als rationales einzuführen und vom neurobiologisch-naturalistischem Denken abzugrenzen. Außerdem lassen sich bei diesem Themenfeld für den Philosophieunterricht zentrale Unterrichtsmethoden wie Rekonstruktion des Gedankengangs, Gedankenexperiment, Verfassen eigener Stellungnahmen oder eines fiktiven Dialogs erproben.
Fazit: Das Buch >Willensfreiheit als interdisziplinäres Problem< kann jedem Philosophie- und Ethiklehrer, der ein für das Selbstverständnis des Menschen zentrales, aktuelles Thema fundiert und reflektiert im schulischen Unterricht behandeln möchte, nur empfohlen werden.

Dr. Marcel Remme, lehrerbibliothek.de
Inhaltsverzeichnis
Inhalt


Vorwort (Kristian Köchy/Dirk Stederoth) 9


Befunde

Gerhard Roth
Das Zusammenwirken bewusst und unbewußt arbeitender Hirngebiete bei der Steuerung von Willenshandlungen 17

Ferdinand Hucho
Das Elend mit dem Reduktionismus
Die molekulare Ebene des Problems Willensfreiheit 39

Ekkehard Stephan/Matthias Willmann
Grenzen der Willensfreiheit aus psychologischer Sicht
Nichtbewußte Einflüsse auf alltägliche Kognitionsakte 51

Armin Kibele
Priming von Bewegungshandlungen im Sport
Motorische Reaktionen auf nicht-bewußt repräsentierte Bewegungsmerkmale 77

Thomas Goschke/Henrik Walter
Autonomie und Selbstkontrolle – Bausteine für eine naturalistische Konzeption von Willensfreiheit 103


Hintergründe

Kristian Köchy
Was kann die Neurobiologie nicht wissen ?
Bemerkungen zum Rahmen eines Forschungsprogramms 145

Frank Rösler
Neuronale Korrelate der Handlungsausführung
Zur Validität der Experimente von Libet (1983) 165

Martin Norwig
Formale Überlegungen zu einer interdisziplinären Theorie der Willensfreiheit 191

Dirk Stederoth
Willensstufen und Entscheidungsnetze
Zwei Modelle und ihre Kompatibilität 219

Erhard Oeser
Neurophilosophie und experimentelle Hirnforschung 237


Konsequenzen

Heinz Eidam
Kausalität aus Freiheit
Zur Frage der Willensfreiheit bei Kant und Hegel 259

Ansgar Beckermann
Neuronale Determiniertheit und Freiheit 289

Bettina Walde
Die empirische Widerlegung der Willensfreiheit aus kompatibilistischer Perspektive 305

Uwe an der Heiden
Die Struktur der Willensfreiheit und ihre cerebralen Entsprechungen 319

Frank Hermenau
Impuls und Reflexion
Adorno über Willensfreiheit 347

Michael Pauen
Hätte Gott anders handeln können?
Alternative Möglichkeiten in einer determinierten Welt 359

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