lehrerbibliothek.deDatenschutzerklärung
Was Psychoanalyse heute leistet Identität und Intersubjektivität, Trauma und Therapie, Gewalt und Gesellschaft mit einem Vorwort von Peter Fonagy
Was Psychoanalyse heute leistet
Identität und Intersubjektivität, Trauma und Therapie, Gewalt und Gesellschaft


mit einem Vorwort von Peter Fonagy

Werner Bohleber

Klett-Cotta
EAN: 9783608947250 (ISBN: 3-608-94725-6)
264 Seiten, Festeinband mit Schutzumschlag, 16 x 23cm, 2012

EUR 34,95
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Wie kommen Gewalttätigkeit, Fremdenhass und Terrorismus in die Welt?

Bohleber zeigt, wie die Psychoanalyse auf die Individualisierungs- und Demokratisierungsprozesse in den westlichen Gesellschaften reagiert. Er betont ihre Fähigkeit, Antisemitismus, Nationalismus, religiösen Fundamentalismus und die daraus entstammende Gewalttätigkeit und den Terrorismus zu erklären.

- Wie haben sich traditionelle (Freudsche) Konzepte verändert?

- Wie haben gesellschaftliche Entwicklungen und Ereignisse die Psychoanalyse verändert, und zwar sowohl ihre Theorie als auch das therapeutische Vorgehen?

- Wie wird sie sich in Zukunft weiter entwickeln?

- Welche benachbarten Disziplinen haben die Psychoanalyse beeinflusst und tun das heute noch und in welche Richtung?

- Wie entstehen Gewalttätigkeit und Traumata, welche Rolle spielen Intersubjektivität und Identität?

- Was ist die gemeinsame Basis der Psychoanalyse?



Aus dem Vorwort von Peter Fonagy:

»Werner Bohleber gehört zu der Handvoll der großen intellektuellen Persönlichkeiten, die die Psychoanalyse hat. Er ist ein intellektueller Vordenker, auch in klinischen und organisatorischen Fragen und deshalb nicht nur von herausragender Bedeutung für die Entwicklung der deutschsprachigen Psychoanalyse der letzten 25 Jahren, sondern auch weil er in die internationale Szene eine Ausgewogenheit und gedankliche Offenheit eingebracht hat, die für die Psychoanalyse so wichtig ist, wenn sie in ihren pluralistischen Ausformungen überleben und gedeihen soll.« … »Bohlebers tiefgründiges und theoretisch fundiertes psychoanalytisches Verständnis stimmt uns hoffnungsvoll, wenn wir an die Zukunft der Psychoanalyse denken. Dieses höchst intelligente Buch zeigt die Bedeutung unserer Disziplin im Hinblick auf einige der größten intellektuellen Fragen unserer Generation; dazu gehören die nach der Natur des bipersonalen Feldes, den Auswirkungen zwischenmenschlicher Gewalt auf die menschliche Entwicklung, von Ideologien, die Gewalt zulassen oder gar begrüßen und den unbewusst wirkenden kulturellen Kräften, die uns alle zu potentiellen Tätern oder auch Opfern werden lassen. Bohlebers Buch ist ein Schmuckstück, es stammt von einem der kreativsten psychoanalytischen Denker unser Generation.«

Dieses Buch richtet sich an:

- Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker

- PsychologInnen

- Soziologen

- Kulturwissenschaftler
Rezension
Die Psychoanalyse erscheint dem Betrachter heute in einer kaum überschaubaren Vielfalt von theoretischen und behandlungstechnischen Ansätzen. Allerdings zeichnet sich durchgängig eine intersubjektive Öffnung der Psychoanalyse ab, wodurch sich auch die Rolle des Analytikers als scheinbar objektiver Beobachter des analytischen Geschehens in der Behandlung gewandelt hat. D.h. die Psychoanalyse richtet sich heute weniger rein intrasubjektiv aus. Zugleich müssen die gesellschaftlichen Veränderungen in der Spätmoderne berücksichtigt werden und in eine zeitgemäße Psychoanalyse einfließen. Kann es in der Pluralität der Spätmoderne überhaupt ein einheitliches Selbst geben oder muss vielmehr von einem Ensemble multipler Selbstvorstellungen ausgegangen werden?! Das sind wesentliche Fragestellungen dieses Buchs.

Oliver Neumann, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Bohleber zeigt, wie die Psychoanalyse auf die Individualisierungs- und Demokratisierungsprozesse in den westlichen Gesellschaften reagiert. Er betont ihre Fähigkeit, Antisemitismus, Nationalismus, religiösen Fundamentalismus und die daraus entstammende Gewalttätigkeit und den Terrorismus zu erklären.
Werner Bohleber, Jg. 1942, Dr. phil., als Psychoanalytiker in eigener Praxis in Frankfurt am Main tätig. Ordentliches Mitglied der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV).
Seit 1988 Mitarbeit in der Redaktion der PSYCHE, seit 1997 als Herausgeber. Zur Zeitschrift PSYCHE
Forschungsschwerpunkte: Adoleszenz und Identität; psychoanalytische Erforschung der nationalsozialistischen Vergangenheit; Fremdenhaß und Antisemitismus; Traumaforschung. Letzte Buchpublikationen als Herausgeber: Antisemitismus (mit John Kafka); Adoleszenz und Identität.

»Bohleber legt ein Buch vor, ... das in einer Zeit, die von der Psychoanalyse Nachweise fordert, zu zeigen, was sie "leistet". Das tut dieses Buch ... Bohleber erbringt Nachweise, "was Psychoanalyse heute leistet" nicht in statistischer Aufbereitung ... , sondern narrativ ... Bohleber ist ein Buch gelungen, das seinem Anspruch gerecht wird. Es zeigt, was Psychoanalyse heute leistet, zeigt, wie sie das tut und dass der "widening scope" sich keineswegs nur auf neue klinische Bilder erstreckt, sondern die gesellschaftspolitische Debatte zu bereichern und an andere Diskurse Anschluss zu finden sehr wohl in der Lage ist. Es erweitert mit Sorgfalt einen manchmal eingeengten klinischen Blick, konfrontiert mit harten und manchmal schwer erträglichen Realitäten und scheut sich auch nicht, an der einen oder anderen Stelle der eigenen Profession in milden, aber deutlichen Worten die Leviten zu lesen ... Man möchte wünschen, dass es nicht nur von Psychoanalytikern gelesen wird und dass auch diese Leser dann staunen, was Psychoanalyse alles leistet. «
Michael B. Buchholz, PSYCHE, Dezember 2012

»Mit diesem Buch gewährt der Frankfurter Psychoanalytiker Werner Bohleber profunde und spannende Einblicke in die Inhalte psychoanalytischer Forschung und Praxis.«
Joachim Koch, Deutsches Ärzteblatt, Oktober 2012
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis

Inhalt
Vorwort von Peter Fonagy 7
Einleitung 10

I. Identität und Intersubjektivität
1. Kapitel
Intersubjektivismus ohne Subjekt? 21
Der Andere in der psychoanalytischen Tradition

2. Kapitel
Vom Chirurgen zum Mitspieler 41
Über die Veränderung leitender Metaphern in der klinischen Theorie


3. Kapitel
Adoleszenz und Identität 61
Psychoanalytische Persönlichkeitstheorien und das Problem
der Identität in der Spätmoderne

II. Trauma und Therapie
4. Kapitel
Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse 85

5. Kapitel
Trauma und kollektives Gedächtnis 127
Der Kampf um die Erinnerung in der Psychoanalyse

6. KapitelTraumatische Erinnerungen 151
Dissoziationszustände und Rekonstruktion

III. Destruktive Ideologien und Gewalt
7. Kapitel
Adoleszente Gewaltphänomene 171
Krisen und Sackgassen in der jugendlichen Entwicklung

8. Kapitel Reinheit, Einheit und Gewalt 189
Unbewusste Determinanten des Antisemitismus in Deutschland

9. Kapitel
Idealität und Destruktivität 211
Zur Psychodynamik des religiösen Fundamentalismus und
zur terroristischen GewaltBibliographie 233
Quellennachweise 263


Leseprobe

Einleitung

Die Arbeiten in diesem Band behandeln unterschiedliche Problemkreise und Fragestellungen, die alle durch ein Thema zusammengehalten werden, nämlich wie sich die Gegenwart und das in ihr situierte Individuum in der psychoanalytischen Reflexion spiegelt und wie die Psychoanalyse Probleme dieser Gegenwart mit ihren Mitteln zu verstehen sucht. Zwar war für Freud die Klinik der Mutterboden der Psychoanalyse, aber sie war für ihn stets mehr als eine therapeutische Methode. Die psychoanalytische Durchdringung kultureller Phänomene und gesellschaftlicher Katastrophen zählte für ihn ebenfalls zu ihrem Gegenstandsbereich. Darin sind ihm seine Schüler und spätere Psychoanalytiker in unterschiedlicher Weise und Ausrichtung gefolgt. Einige haben sich ganz auf den klinischen Bereich beschränkt, während andere gesellschaftliche und kulturelle Fragestellungen als psychoanalytisches Untersuchungsfeld mit eingeschlossen haben. Aber unabhängig davon, ob jemand sich nur klinisch ausrichtete oder den Horizont breiter absteckte, es war immer auch die geschichtliche Situation oder der geschichtliche Horizont, der Themenstellungen für eine psychoanalytische Reflexion dringlich gemacht hat. Nicht zuletzt war es die psychoanalytische Bewegung selbst, die sich infolge des traumatischen Bruchs der Vertreibung aus Wien und Berlin durch den Nationalsozialismus ihrer Identität als Theorie und Praxis in anderen kulturellen Räumen neu versichern musste.
Meine eigenen Überlegungen konzentrieren sich auf drei Bereiche:

1. Die Psychoanalyse ist in der Zwischenzeit weit über 100 Jahre alt und hat einige Entwicklungsschübe ihrer Theorie und ihrer klinischen Praxis hinter sich. Außerdem hat sich der Gegenstandsbereich der Psychoanalyse ausgeweitet, sowohl was die Störungen des Individuums betrifft als auch die Methoden der Behandlung. Man kann diese Entwicklungen rein inneranalytisch beschreiben und zu verstehen suchen, aber eine feinere Betrachtung erhellt, dass sich in ihnen auch gesellschaftliche und geistig-kulturelle Veränderungen niederschlagen. Individualisierungs- und Demokratisierungsprozesse in den westlichen Gesellschaften haben Stellung und Selbstverständnis des Individuums nachhaltig verändert, was sich auch in den neueren Konzeptionen der therapeutischen Beziehung widerspiegelt. Zwar ist es zuallererst Aufgabe der Gesellschaftswissenschaften und der Philosophie, diese Veränderungen einem Verstehen zuzuführen, aber deren Ansätze und Analysen haben auch die psychoanalytische Theoriebildung beeinflusst, die ihrerseits durch die Untersuchung unbewusster Prozesse wesentliche Beiträge leisten kann.

2. Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts mit den beiden Weltkriegen, dem Holocaust und anderen nationalsozialistischen Verbrechen, den Vertreibungen und Flüchtlingsströmen brachten für die Menschen unermesslich viel Leid, Zerstörung und Verluste mit sich, wodurch der Begriff des Traumas zu einer Signatur dieses Jahrhunderts wurde. Die Auswirkungen des Traumas auf das Seelenleben des Menschen haben die Psychoanalyse seit ihrem Beginn beschäftigt. Geschichtliche Ereignisse ebenso wie Gewalt in gesellschaftlichen Institutionen und in Familien sind mit ihren traumatischen Auswirkungen bis heute eine Herausforderung für die Psychoanalyse, ihre Konzeption des Traumas immer wieder neu zu überdenken, und zwar nicht nur mit seinen Folgen für das Individuum, sondern auch als kollektives Trauma in seinen Auswirkungen für Gesellschaften und für die Generationenfolge.

3. Durch die Ideologien des 20. Jahrhunderts, deren Irrationalität und Destruktivität ganz offensichtlich unbewusste Motivationen zugrunde lagen, wurde auch die Psychoanalyse herausgefordert, zu ihrem Verständnis beizutragen. Die Psychoanalyse muss die Eigenständigkeit des Sozialen beachten, was aber ihr Vermögen nicht schmälert, die Anziehungskraft, die nationalistische Ideologien unterschiedlicher Spielart und Radikalität auf den Einzelnen ausüben können, und die außerordentlich starken Affekte, die mit ihnen verbunden sind, auf unbewusste Faktoren zurückzuführen und psychologisch zu erklären. Historiker und Politologen haben bisher bei der Erklärung dieser Phänomene die Affekte kaum berücksichtigt. Aber der Pogrom fängt bekanntlich in den Köpfen an. Im 21. Jahrhundert bekommen wir es nun mit einer neuen ideologischen Variante zu tun, nämlich mit dem religiösen Fundamentalismus und dem ihm entstammenden Terrorismus.

Mit diesen drei Problembereichen ist das Feld skizziert, auf dem sich die Beiträge in diesem Band bewegen. Deren Fragestellungen und Inhalte möchte ich im Folgenden kurz zusammenfassen.