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War Luther Antisemit? Das deutsch-jüdische Verhältnis als Tragödie der Nähe
War Luther Antisemit?
Das deutsch-jüdische Verhältnis als Tragödie der Nähe




Dietz Bering

Berlin University Press
EAN: 9783862800711 (ISBN: 3-86280-071-7)
322 Seiten, Festeinband mit Schutzumschlag, 14 x 22cm, Oktober, 2014

EUR 29,90
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Luther ist so eng mit der deutschen Geschichte verbunden, dass sein Verhältnis zu den Juden für alle eine schwere Bürde ist. Zur 500-Jahrfeier des Reformationsbeginns werden wir vor tiefen Widersprüchen stehen. 1523 schreibt Luther über die Juden: „Will man ihnen helfen, so muss man ... sie freundlich annehmen, muss sie Gewerbe treiben und arbeiten lassen“. 1543 aber forderte er erschreckende Gewaltmaßnahmen, auf die sich die Antisemiten immer wieder berufen haben: „Zum ersten: dass man ihre Synagoge oder Schule mit Feuer anstecke ... Zum zweiten, dass man auch ihre Häuser in gleicher Weise zerbreche und zerstöre“.

Der Historiker und Sprachwissenschaftler Dietz Bering wirft gewohnt pointiert und gut lesbar ein neues Licht auf Luthers rätselhaften Wandel vom Judenfreund zum erbitterten Judenfeind. Mittels der Kategorie der Kontrastbetonung findet er zu einer differenzierten Deutung. Das Verhältnis von Luther zu den Juden zeigt sich als „Tragödie der Nähe“: Die reformatorischen Umwälzungen ließen Luther so nah an die Juden heranrücken, dass die alte Distanzstellung aufgehoben war. Aus der bedrohlichen Nähe erwuchsen massive Abgrenzungsreaktionen. Das an Luther gewonnene Modell überträgt der Autor auf die gesamte deutsch-jüdische Geschichte. Die „Tragödie der Nähe“ - ein durchgängiges Strukturmerkmal der deutsch-jüdischen Geschichte?

Dietz Bering lehrte an der Universität zu Köln historische Sprachwissenschaften. 1981 gehörte er zu den Gründungsfellows des „Wissenschaftskollegs zu Berlin“. Grundlegende Werke: „Der Name als Stigma Alltagsantisemitismus 1812-1933“ (1987), „Kampf um Namen. Bernhard Weiß gegen Joseph Goebbels“ (1991). Bei der BUP sind erschienen „Die Epoche der Intellektuellen. 1889-2001“ (2010) und „Die Intellektuellen im Streit der Meinungen“ (2011).
Rezension
In den Jahren 2017-2019 wird in Deutschland, dem Kernland der Reformation, das große Reformationsjubiläum begangen, für das schon jetzt intensive Vorbereitungen laufen; u.a. wurde die ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann als Sonderbeauftragte der Ev. Kirche in Deutschland zur Vorbereitung des 500. Reformationsjubiläums eingesetzt. Die Reformation hat Deutschland bis heute geprägt, - nicht nur in kirchlich-religiöser Hinsicht. Auch gesellschaftlich und politisch hat die Reformation bis heute sichtbare Spuren in der deutschen Gesellschaft (und in Europa) hinterlassen, von der allgemeinen Schulpflicht bis zur Loslösung der Städte aus bischöflicher Obrigkeit, vom Humanismus bis zum Geist der protestantischen Ethik, - aber auch bis hin zum christlichen Antijudaismus. Denn zum Reformationsgedenken zählt auch die kritische Auseinandersetzung mit ihren Vätern, allen voran mit Martin Luther. Und eines der dunkelsten Kapitel in Luthers Theologie und Biographie (incl. seiner Wandlung im Hinblick auf sein Verhältnis zum Judentum vom Judenfreund zum erbitterten Judenfeind) ist sein Antijudaismus, der vor allem in seiner Wirkungsgeschichte verheerend gewesen ist, weil er u.a. den Antisemitismus der Nationalsozialisten unterfüttert hat. Dieses Buch stellt dabei eine interessante, aber kritisch zu diskutierende These der Kontrastbetonung auf: Die reformatorischen Umwälzungen ließen Luther so nah an die Juden heranrücken, dass die alte Distanzstellung aufgehoben war. Aus der bedrohlichen Nähe erwuchsen massive Abgrenzungsreaktionen. Das an Luther gewonnene Modell überträgt der Autor auf die gesamte deutsch-jüdische Geschichte. - Es bleiben folgende Fragen an diese These: Wie hilfreich ist eine solch universale, monokausale Erklärung? Wieweit wird Luther dabei historisch hinreichend theologisch und politisch differenziert in seine Zeit eingeordnet erfasst? Und inwiefern wird bei diesem Erklärungsmuster hinreichend differenziert zwischen dem religiös motivierten Antisemitismus bzw. Antijudaismus des sechzehnten und dem biologistischen Rassismus des zwanzigsten Jahrhunderts?

Thomas Bernhard, lehrerbibliothek.de
Inhaltsverzeichnis
I. ERSTER BLICK AUFS WEITE FELD 11

1. Drei Ziele 11

2. Leseempfehlung 15

3. Martin Luther — Kronzeuge der Judenfeinde 16
a. Die Antisemiten 17
b. Definition des Antisemitismus 24
c. Die Judenfeinde (Antijudaismus) 25
d. Luther-Argumente bei der Emanzipation der Juden 27
e. Resümee: Luthers Judenfeindschaft in der deutschen Geschichte 29

Il. LUTHER UND DIE JUDEN 31

1. Der mittelalterliche Judenfeind 31
a. Luthers Ausbildung 32
b. Luther wird Mönch 36
c. Rigide mittelalterliche Gottesvorstellung 37
d. Wendung zur Bibel 39
e. Professor in Wittenberg 40
f. Ein „Lehrbuch der Judenfeindschaft" — Luthers erste Psalmenvorlesung (1513 - 1515) 41
g. Luthers Verschärfung der judenfeindlichen Tradition 50
h. Lockerung des Tötungsverbots 52
i. Judenbücher auf den Scheiterhaufen? Der Reuchlin-Streit 56

2. Die Juden in Luthers Umwelt 62
a. Die rechtliche Stellung der Juden 62
b. Volksantisemitismus. Landläufige Urteile über Juden 66
c. Juden in unmittelbarer Nähe Luthers? 71
d. Fazit: Luthers vorreformatorische Judenfeindschaft 72

3. Luther auf dem Weg zur Reformation, Luther auf dem Weg zu den Juden 73
a. Luthers Schwanken 74
b. Legenden über Zusammentreffen von Luther und Juden 80
c. Fazit 81

4. Luther, Sympathisant der Juden 81
a. „Daß Jesus Christus ein geborner Jude sei" (1523) 83
b. Eine beispielhafte Bekehrung: der getaufte Jude Bernhard 92
c. Die breite Wirkung von Luthers Wende 94

5. Neuerliche Ambivalenzen 96
a. Erster Vergleichsmaßstab: Der Bauernkrieg 1525 97
b. Rückfall in die vorreformatorische Denkweise 98
c. Luther disputiert mit drei Juden (1525/26) 101
d. Judentaufen — wachsende Vorbehalte Luthers 105
e. Irritierendes Schwanken 107
f. Absage an Josel von Rosheim (1537), Spannungen in einem zentralen Dokument 109
g. Resümee — Eröffnung der durchgreifenden Perspektive 113

6. Luther — der Gewalt predigende Judenfeind 116
a. Kampfschrift gegen die Sabbater (1538) 116
b. Aufruf zu radikaler Gewalt: „Von den Juden und ihren Lügen" (1543) 121
c. Zweiter Vergleichsmaßstab: Hass gegen den Papst 132

7. Gründe der Radikalisierung 135
a. Gibt es einen Bruch in Luthers Haltung zu den Juden? 135
b. Erklärungen für den Wechsel von Luthers Haltung 138

8. Abnehmende Aggressivität — zunehmende Klarheit in Luthers letzten Lebensjahren 1543-1546 142
a. „Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi" (1543) 143
b. „Von den letzten Worten Davids" (1543) 145
c. Juden auf Luthers letzter Reise — Juden in seiner letzten Predigt (1546) 148

9. Dritter Vergleichsmaßstab: Luthers Position im Kreis der Reformatoren 151

10. War Luther Antisemit? Die Antwort 156

11. Hemmnisse gegen schrankenlosen Antisemitismus 163

III. LUTHERS ANTISEMITISMUS — EINE „TRAGÖDIE DER NÄHE"? 168

1. Deutsche und Juden — ein „kulturelles Paar"? 168

2. Kontrastbetonung — eine zentrale Kategorie in den Wissenschaften 173
a. Biologisch-ethologische Perspektiven 174
b. Kontrastbetonung in der Wahrnehmungspsychologie des Kindes 175
c. Maximaler Kontrast bei der Spracherlernung 177
d. Die Kontrastverschärfung des Auges 177
e. Kontrastverschärfung in literarischen Beispielen 180
f. Kronzeuge Sigmund Freud 181
g. Nietzsches Fundamentalsatz: Grenzen ziehen — Basis menschlicher Existenz 183
h. Die resultierende Argumentationsstrategie 185

3. Nähe zu den Juden — ein Standardvorwurf während der Reformation 186
a. „judenzen" — ein zentraler Vorwurf 186
b. Die Einschätzung der Reformation durch die Juden 188
c. Die Einschätzung der Person Luthers durch die Juden 190

4. Die reformatorischen Positionen: näher oder entfernter? 193
a. Der Papst 193
b. Abschaffung des sakralen Priesteramtes 196
c. Das Zölibat 199
d. Mönchstum und Klöster 201
e. Heiligen- und Reliquienverehrung 203
f. Die Entfernung der Bilder 205
g. Christen wie Juden — das Leben in Schuld 208
h. Christlich-jüdische Solidarität angesichts des Lebens in Schuld? 210
i. Parallele Endzeitvorstellungen 211
j. Judengleiche Kultur des Lesens: sola scriptura 214
k. Allein durch Christus — allein durch den Messias 218
l. Der zentrale Gegensatz: allein durch den Glauben — allein durch die Werke 220
m. Das Hebräische 221
n. Das Alte Testament 232

5. Fazit. Neues Licht auf Luthers Antisemitismus? 240

IV. FÄHRTENLEGER LUTHER. „KONTRASTBETONUNG" — EINE DURCHGÄNGIGE SPUR IN DER DEUTSCH-JÜDISCHEN GESCHICHTE? 243

1. Kultivierung der deutschen Sprache 243
2. Deutscher und jüdischer Nationalcharakter 244
3. Nationale Sammlungsbewegung seit 1800 245
4. Der Berliner Antisemitismusstreit 247
5. Deutsche und Juden — zwei Kulturnationen 249
6. Die Kunstwart-Debatte 251
7. Die Zionisten 252
8. Der erste Weltkrieg 254
9. Die Weimarer Republik 255

V. DANKSAGUNG 258

VI. ANHANG 261

1. Anmerkungen 261
2. Abkürzungen 302
3. Literaturverzeichnis 303
4. Personenverzeichnis 318