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Waldorfpädagogik in der Erziehungswissenschaft Ein Überblick
Waldorfpädagogik in der Erziehungswissenschaft
Ein Überblick




Volker Frielingsdorf

Juventa Verlag
EAN: 9783779928492 (ISBN: 3-7799-2849-3)
248 Seiten, paperback, 15 x 23cm, 2012

EUR 24,95
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Volker Frielingsdorf zeigt, wie intensiv die Waldorfpädagogik in den vergangenen Jahrzehnten durch die Erziehungswissenschaft erforscht worden ist. Der facettenreiche Überblick macht deutlich, dass der Diskurs nach wie vor leidenschaftlich und kontrovers geführt wird. Dies eröffnet vielfältige Möglichkeiten für einen konstruktiven Dialog, von dem beide Seiten profitieren können.

Wie ist die bis heute ungebrochene Anziehungskraft der Waldorfpädagogik zu erklären, wenn sie auf einer, wie allgemein gemutmaßt wird, dubiosen Theorie basiert? – Volker Frielingsdorf zeigt in seinem facettenreichen Bericht, dass die Waldorfschulen und die sie fundierende anthroposophische Erziehungskunst in den vergangenen Jahrzehnten durch die Erziehungswissenschaft intensiv erforscht wurden, dass der Diskurs aber nach wie vor sehr kontrovers geführt wird. Von den sich daraus eröffnenden Möglichkeiten für einen konstruktiven Dialog könnten und sollten beide Seiten profitieren.
Rezension
Der Autor, der im selben Verlag unlängst auch den Band "Waldorfpädagogik kontrovers. Ein Reader" (EAN: 9783779924333, 340 Seiten, paperback, 15 x 23cm, 2012) herausgegeben hat, wendet sich hier der Waldorfpädagogik und ihrer Rezeption in der Erziehungswissenschaft zu. Der Diskurs zwischen
der akademischen Erziehungswissenschaft und der Waldorfpädagogik in den vergangenen mehr als neunzig Jahren, die seit der Gründung der ersten Freien Waldorfschule vergangen sind, hat sich eigentlich erst in den 1970er Jahren wirklich entwickelt. An der Waldorfpädagogik - und mehr noch an ihrer weltanschaulichen Grundlage, der Anthroposophie Rudolf Steiners - scheiden sich die Geister: für die einen eine gelungene Alternative zur Mainstream-Pädagogik, für die anderen esoterische Scharlatanerie. Die Waldorf-Pädagogik bzw. der Waldorf-Komplex, der weitaus mehr umfasst als nur die Waldorf-Schulen, übt auch fast 100 Jahre nach Gründung der Waldorfschulen eine unverminderte Anziehungskraft auf Eltern aus, die sich nach Alternativen für ihre Kinder sehnen.

Thomas Bernhard, lehrerbibliothek.de
Inhaltsverzeichnis
Einleitung 11

Kapitel 1
Waldorfpädagogik und Erziehungswissenschaft –
Entwicklungsgeschichte eines schwierigen Dialogs 14

1.1 Warum der Dialog nie ganz einfach war 14
1.2 Frühe Veröffentlichungen in den 20er und 30er Jahren 16
1.3 Von der Nachkriegszeit bis Ende der 60er Jahre 21
1.4 Allgemeine bildungspolitische Ernüchterung und Ausbreitung der Waldorfschulen in den 1970er Jahren 31
1.5 Die 80er Jahre: Boom und kritisches Hinterfragen der Grundlagen der Waldorfpädagogik 42
1.6 Die 90er Jahre: Weitere Ausdehnung, Konsolidierung und Intensivierung des Dialogs 54
1.7 Das beginnende 21. Jahrhundert 68
1.8 Versuch einer Standortbestimmung 2012 85

Kapitel 2
Grundsätzliche Fragen der anthroposophischen Pädagogik 87

2.1 Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Fragen 87
2.2 Der spezifisch anthroposophische Goetheanismus 94
2.3 Kontroverse anthropologische Grundsatzpositionen 95
2.4 Die pädagogische Psychologie der Waldorfpädagogik 102
2.5 Erziehungskunst und Unterrichtslehre 108
2.6 Hermetische Abschließung oder Weltoffenheit 111

Kapitel 3
Methodisch-didaktische Grundlagen der Waldorfpädagogik 113

3.1 Das Klassenlehrerprinzip 114
3.2 Der Epochenunterricht 121
3.3 Der Lehrplan der Waldorfschule 124
3.4 Untersuchungen zu einzelnen Fächern und Fachbereichen 130
3.4.1 Unter- und Mittelstufe 131
3.4.2 Oberstufe 134
3.4.3 Geisteswissenschaftliche Fächer und Fremdsprachen 136
3.4.4 Der mathematisch-naturwissenschaftliche Unterricht 137
3.4.5 Die musisch-künstlerischen Fächer und der handwerkliche Unterricht 139
3.4.6 Über vernachlässigte oder ganz fehlende Fächer 141
3.4.7 Praktika, Projekte und Jahresarbeiten 143
3.4.8 Verbindung von allgemeiner und beruflicher Bildung in der Oberstufe 144
3.4.9 Die anthroposophische Heilpädagogik 145
3.5 Notengebung, Zeugnisse und Leistungsbewertung 147
3.6 Neue Aufgabenfelder der Pädagogik und der Waldorfschulen 151
3.6.1 Architektur und Schule 152
3.6.2 Gesundheitsförderung durch Erziehung und Unterricht 154
3.6.3 Medienpädagogik 156
3.6.4 Ökologische Bildung 158
3.6.5 Integration und Inklusion 160
3.6.6 Interkulturaliät 162
3.6.7 Transnationale Zusammenarbeit 164
3.6.8 Abschließende Bemerkungen zu den neuen Aufgabenfeldern 164

Kapitel 4
Die Waldorfschulen im gesellschaftspolitischen Umfeld 166

4.1 Waldorfpädagogik und Soziale Dreigliederung 166
4.2 Schulautonomie und Selbstverwaltung in der Waldorfpädagogik 168
4.3 Waldorfschule und Freies Schulwesen 172
4.4 Schulrecht und Finanzierungsfragen 176
4.5 Der „Bund der Freien Waldorfschulen“ 179
4.6 Die Waldorflehrerseminare und ihre Konzepte der Lehrerbildung 180

Kapitel 5
Grundprobleme, Tendenzen und Desiderata der Forschung 185

5.1 Grundfragen der Forschung 185
5.1.1 Ursprungsgeschichte der Waldorfschule 186
5.1.2 Waldorfschule und Reformpädagogik 188
5.1.3 Die Waldorfschule im Vergleich zur Pädagogik Maria Montessoris 194
5.1.4 Vergleiche mit anderen pädagogischen Richtungen 196
5.1.5 Weltanschauungsschule oder Erziehung zur Freiheit 197
5.1.6 Die spezifische Schulkultur der Waldorfschule 200
5.1.7 Unterrichtsforschung 202
5.2 Tendenzen der Forschung 203
5.3 Desiderata 205

Epilog 208
Literatur 210



Leseprobe:

Kapitel 1
Waldorfpädagogik und Erziehungswissenschaft –
Entwicklungsgeschichte eines schwierigen Dialogs

In diesem einleitenden Kapitel wird untersucht, wie sich der Diskurs zwischen
der akademischen Erziehungswissenschaft und der Waldorfpädagogik
in den vergangenen mehr als neunzig Jahren, die seit der Gründung der ersten
Freien Waldorfschule vergangen sind, entwickelt hat. Dabei erweist
sich, dass ein wirklicher Austausch, der diesen Namen tatsächlich verdient,
eigentlich erst in den 1970er Jahren begonnen hat.
Dennoch wird die hier thematisierte zentrale Fragestellung nachfolgend
ebenfalls für den Zeitraum der jeweils beiden Jahrzehnte vor und nach dem
Zweiten Weltkrieg skizziert. Dies erfolgt nicht nur der Vollständigkeit halber,
sondern auch deshalb, weil bereits in den frühesten Veröffentlichungen
bestimmte Thesen und Argumentationsformen aufzufinden sind, die die Debatte
zum Teil bis heute bestimmt haben und weil sich so gewisse persistierende
Konfliktfelder und Schwierigkeiten identifizieren lassen, die nicht
nur für den Historiographen interessant sind. Den lohnenden frühen Publikationen
ist deshalb hier verhältnismäßig viel Platz eingeräumt worden,
wohingegen die Veröffentlichungen seit den 1970er Jahren in diesem historischen
Überblick knapper abgehandelt werden, da sie in dem systematischen
Teil ausführlicher behandelt werden.
Da der Austausch zwischen Erziehungswissenschaftlern und Waldorfpädagogen
von Anfang an nur höchst selten ungezwungen und rein sachbezogen
gewesen ist, beginnt dieses Kapitel mit einigen ersten Bemerkungen
zu den Problemen, die das offene Gespräch oft genug erschwert oder sogar
ganz verhindert haben.
1.1 Warum der Dialog nie ganz einfach war
„Die etablierte Pädagogik tut sich schwer mit der Waldorfpädagogik.“ Mit
dieser Feststellung hatte Gerhard Herz, der sich selbst der akademischen
Erziehungswissenschaft zugehörig fühlte, bereits 1982 seinen in der „Neu-
en Sammlung“ erschienen Beitrag „Über Berührungsangst und Wahrnehmungsstörung“
eingeleitet und danach genauer beschrieben, warum man als
etablierter Wissenschaftler von der anthroposophischen Begründung der
Waldorfpädagogik in der Regel lieber die Finger lässt, selbst wenn man die
daraus abgeleitete Praxis durchaus interessant und anregend finden mag
(Herz 1982). Im Folgenden benannte Herz einige blinde Flecken der akademischen
Wissenschaft wie den immer wieder erhobenen „pauschalen Vorwurf
des Dogmatismus“ und die ebenfalls häufig kolportierte Behauptung,
„die Praxis der Waldorfschule habe sich seit Steiner nicht weiterentwickelt“,
was, wie Herz zu Recht betonte, nur auf die Grundstruktur des Lehrplans
zutraf, wohingegen „im Einzelnen viele Bereiche inhaltlich differenziert
wurden“ (ebd., 566 f.).
Pikanterweise hatte in derselben Ausgabe dieser damals sehr renommierten
pädagogischen Fachzeitschrift auch Heiner Ullrich „Anmerkungen
zur neuerlichen Aktualität der Waldorfpädagogik“ veröffentlicht, und zwar
unter dem provokativen und doppeldeutigen Titel „Ver-Steiner-te Reformpädagogik“
(Ullrich 1982). Darin kritisierte Ullrich, der seither in puncto
Waldorfpädagogik ein besonders produktiver Erziehungswissenschaftler gewesen
ist, neben anderem den irritierenden „Allmachtsanspruch“ der anthroposophischen
Pädagogik, die dort angeblich weit verbreitete „doktrinäre
Erstarrung“ (ebd., 551) und nicht zuletzt die „kultische Verehrung“ Rudolf
Steiners (ebd., 555 f.).
Die „Beschwerlichkeit“, mit der Waldorfpädagogik „in einen argumentativen
Dialog einzutreten“, resultiere, so Ullrich weiter, gerade aus ihrer
„weltanschaulichen Dogmatik“, die ein offenes Hinterfragen ihrer Kernthesen
meist gar nicht zulasse (ebd., 552 ff.). Bei seinen Anmerkungen, die er
in seinen späteren Arbeiten weiter differenzierte, ging er allerdings so gut
wie gar nicht auf die von Herz thematisierten blinden Flecken der akademischen
Forscher ein.
Die erstaunlichen Verkrampfungen im Verhältnis von Erziehungswissenschaft
und Waldorfpädagogik dürften nicht zuletzt darin begründet liegen,
dass die eigentlichen Ursachen der wechselseitigen Voreingenommenheiten
und Irritationen so gut wie nie eigens thematisiert wurden und dass daher
der scharfe trennende weltanschauliche Dissens in Grundsatzfragen nicht
wirklich bearbeitet wurde, weshalb er auch nicht, nolens volens, einfach akzeptiert
worden ist.
Wie schwierig es selbst noch Anfang der 90er Jahre war, festzustellen,
ob die Gespräche mit den Waldorfschulen überhaupt Erfolge zeitigten, belegt
eine Äußerung des Hamburger Erziehungswissenschaftlers und Jahrzehnte
langen Mitherausgebers der „Zeitschrift für Pädagogik“ Hans
Scheuerl, der am Ende eines umfangreicheren Überblicks über verschiedene
Veröffentlichungen zur Waldorfpädagogik sich und seine Leser fragte,
„ob und in welchem Sinne denn nun die Diskussion um die Waldorfpädagogik
[…] vorangekommen ist. Oder steht sie still? Oder dreht sie sich viel-
leicht nur im Kreise?“ Scheuerl, der zeitlebens in Theorie und Praxis das
dialogische Prinzip vertrat, sah auch damals noch die Gefahr des „Rückfalls
in ein ‚Fronten-Denken‘“. Dennoch gab er in seiner Sammelrezension abschließend
der Hoffnung Ausdruck, dass „dieser ‚Kreis‘ womöglich doch
eine ‚Spirale‘ andeuten“ könnte, „die sich langsam, langsam ‚aufwärts‘ bewegt“
(Scheuerl 1993, S. 310).
Diese Fragen zur Entwicklung der Qualität des Dialogs können in gewisser
Weise leitmotivisch auf die Zusammenarbeit zwischen Erziehungswissenschaft
und Waldorfpädagogik in den vergangenen Jahrzehnten bezogen
werden. Und es wäre gewiss nicht ohne Reiz, heute erneut zu fragen,
ob sich die Diskussion seit damals wieder vorwiegend im Kreis gedreht hat
oder ob sie sich zumindest da und dort spiralförmig entwickeln konnte.
1.2 Frühe Veröffentlichungen in den 20er und 30er Jahren
Die erste Waldorfschule, die im Spätsommer 1919 in Stuttgart gegründet
worden war, erfreute sich von Beginn an in der Öffentlichkeit eines regen
Interesses, das sich alsbald publizistisch niederschlug. So gab es neben Veröffentlichungen
aus der Innenperspektive, die von Rudolf Steiner selbst oder
von seinen Schülern stammten, schon in den 1920er Jahren „viele Berichte
über Schulbesuche, Hospitationen, offizielle Schulratsbesuche (‚Revisionen‘)“
(Götte 2000, 193 f. und 203 ff.). Einige dieser Berichte wurden damals
auch von allgemein an pädagogischen Fragen interessierten Lehrer
und Erziehungswissenschaftlern verfasst.
So veröffentlichte der sozialdemokratische Schulreformer Fritz Karsen,
der als wissenschaftlicher Mitarbeiter im preußischen Kulturministerium tätig
war, 1923 einen als Buch erschienenen Bericht über „Deutsche Versuchsschulen
der Gegenwart und ihre Probleme“ (Karsen 1923). Dort beschrieb
er unter anderem einige „Schulen neuer Gesinnung“, zu denen er
neben den Landerziehungsheimen und der Odenwaldschule auch die erste
Waldorfschule zählte. Karsen hatte die Stuttgarter Waldorfschule selbst besucht
und war dabei von Rudolf Steiner persönlich geführt worden. Obwohl
er bei seiner Hospitation „gar manche Unzulänglichkeiten“ bemerkte, gewann
er insgesamt einen doch sehr positiven Eindruck und fühlte sich „unmittelbar
ergriffen“ von der, wie er es ausdrückte, „einheitlichen, warmen,
glücklichen Stimmung“, die das ganze Schulleben durchpulse (ebd., S. 99).
Dabei verhehlte Karsen, der seit 1921 in Berlin Direktor einer von ihm
gegründeten Gesamtschule war, nicht seine inneren Vorbehalte gegenüber
der Anthroposophie Steiners. Zwar liege darin „sehr viel Tiefes und noch
nicht annähernd Ausgeschöpftes“. Wo allerdings „der Anthroposoph innere
Notwendigkeiten“ erkenne, sehe der Außenstehende „Dogmatik, deren Tiefe
er wohl zugibt, die er jedoch nicht als Wahrheit begründen kann“ (ebd.).
Karsen war als geschultem Sozialdemokraten selbstverständlich nicht
entgangen, dass die Waldorfschule trotz der Tatsache, dass sie vor allem als
Schule für Arbeiterkinder gegründet worden war, auf einer Weltanschauung
beruhte, die in vielem dem marxistischen Materialismus diametral widersprach.
Dessen ungeachtet wies er am Schluss wohlwollend auf Steiners gesellschaftstheoretische
Konzeption der „Dreigliederung des sozialen Organismus“
hin, nach der die Waldorfschule sich als Glied eines erst noch zu
entwickelnden „Freien Geisteslebens“ verstand, in dem eine „Unterjochung
der Schule“ durch die Wirtschaft ebenso verhindert werden soll wie durch
den Staat (ebd., S. 100).
Ein Jahr nach Karsens Buch erschien der von dem Erziehungswissenschaftler
Franz Hilker (1881–1969) herausgegebene Sammelband „Deutsche
Schulversuche“, in dem neben Reformen im staatlichen Bereich außerdem
verschiedene freie Schulen berücksichtigt wurden (Hilker 1924).
Hilker, der schon damals zu den führenden deutschen Reformpädagogen
zählte, hatte mit diesem Band Vertretern höchst unterschiedlicher Schulen
die Möglichkeit zur „Darstellung ihrer Ideen und praktischen Arbeit“ gegeben
(ebd., IV). Diese Möglichkeit hatte Hilker auch der Waldorfpädagogik
eingeräumt, der er in seiner Einführung vage konzedierte, dass sie
„auch dem Nichtanhänger der anthroposophischen Weltanschauung allerlei
zu denken“ aufgebe (ebd., 7).
Der Beitrag selbst umfasste gut zwanzig Seiten und stammte von dem
der Anthroposophie nahe stehenden Altphilologen Paul Oldendorff. Darin
stellte er in Grundzügen die Entwicklungslehre der Waldorfpädagogik dar
und hob besonders hervor, dass „jedes der Schule anvertraute Kind zu der
ihm erreichbaren Bildung geführt werden sollte“ (Oldendorff 1924, 192).
Ausdrücklich betonte Oldendorff, dass die Waldorfschule keine Weltanschauungsschule
sei und keinerlei „dogmatische Erziehung“ betreibe. Die
anthroposophische Geisteswissenschaft Rudolf Steiners diene dazu, eine lebendige
Methodik und Didaktik zu entwickeln, die sich an den Bedürfnissen
des heranwachsenden Menschen orientiere – und sie helfe dabei, „die
greisenhafte intellektualistische Erwachsenenpsychologie“ zu überwinden
(ebd., 193). Ziel der Waldorfpädagogik ist, so Ohlendorff im Anschluss an
Steiner, „eine erziehungskünstlerische Schule“ (ebd., 193). Ähnlich wie
Fritz Karsen attestiert er den Lehrern der Stuttgarter Waldorfschule „glühenden
Enthusiasmus“. Dessen „tiefste Quelle“ liege „in der Sache selbst“,
als die Oldendorff den „Erziehungsplan“ der Waldorfschule sieht, „der abgelesen
ist von der menschlichen Entwicklung“ (ebd., 200).
Wie lebhaft das allgemeine Interesse an reformpädagogischen Fragen in
der Weimarer Republik Mitte der 1920er Jahre war, zeigt ein weiterer Band
über „Neue Schulformen und Versuchsschulen“, der 1925 von dem durch
zahlreiche Schul- und Lesebücher bekannten Oberstudiendirektor Gustav
Porger herausgegeben worden war (Porger 1925). Auch in diesem Band erhielten
die Waldorfschulen die Möglichkeit, ihre eigene Pädagogik ausführlich
darzustellen. Dies geschah auf mehr als 25 Seiten durch Texte von Stei-
ner und Albert Steffen, der seit 1925 Vorsitzender der „Anthroposophischen
Gesellschaft“ und des „Vereins Freie Waldorfschule e. V. Stuttgart“ war, sowie
von zwei Lehrern der Stuttgarter Waldorfschule (ebd., 110–136).
Im Gegensatz zu diesen beiden Sammelbänden, die Selbstdarstellungen
der damaligen Waldorfpädagogik enthielten, erschienen 1926 zwei Beiträge
aus der Außenperspektive eines erfahrenen württembergischen Schulrats
und eines katholischen Doktoranden.
Bei dem Schulrat handelte es sich um Franz Hartlieb, der im Jahr nach
Rudolf Steiners Tod die Stuttgarter Waldorfschule visitierte und danach seine
Erfahrungen und Eindrücke in einer „Beilage zur Württembergischen
Lehrerzeitung“ publizierte. Hartlieb betonte gleich eingangs, dass er „viel
Gutes und Schönes über die Waldorfschule zu sagen habe“ (Hartlieb 1926,
106). Besonders ausführlich und interessiert beschrieb er die Vorzüge des
auch damals schon in der Waldorfschule durchgängig praktizierten „epochenmäßigen
Unterrichts“ und die dort praktizierten „Maßnahmen zur Gesundung
der Schulkinder“ (ebd., 109 f.). Hartliebs insgesamt rundum günstiges
Votum über die von ihm besuchte Waldorfschule endete mit einer
Empfehlung an die staatlichen Schulbehörden, die weitere Entwicklung der
Schule „mit liebevollem Interesse“ zu begleiten (ebd., 111).
Im Gegensatz zu dieser wohlwollend-positiven Darstellung war die Arbeit
von Karl Hövels dezidiert kritisch. Der 1876 geborene Hövels, der nach
einem mehrjährigen Besuch der „Bischöflich-Theologischen Lehranstalt“ in
Paderborn an mehreren katholischen Hochschulen studiert hatte, promovierte
zwanzig Jahre später über die Waldorfpädagogik an der Bonner Universität.
Seine in der Steyler Missionsdruckerei veröffentliche Dissertation
– die erste zur Waldorfpädagogik überhaupt – trug den bezeichnenden Titel
„Beiträge zur Kritik der anthroposophischen Welt- und Lebensanschauung
und kritische Beleuchtung der anthroposophischen Erziehungs- und Unterrichtslehre“
(Hövels 1926). Unter diesem Blickwinkel untersuchte er die
weltanschaulichen Grundlagen der Waldorfpädagogik, die er – auf Grund
seiner eigenen Vita wenig überraschend – in toto ablehnte, obwohl er bei
seinem zweitägigen Unterrichtsbesuch an der kleinen Kölner Waldorfschule
auch einige positive Beobachtungen gemacht hatte. Hövels eigentliches Anliegen,
das seine ganze Arbeit prägte, war es, „die Unvereinbarkeit von Anthroposophie
und Christentum nachzuweisen und damit ein bestimmtes
Licht auf die Waldorfpädagogik zu werfen“ (Götte 2000, 175).
1927 hat Hövels seine „von starker Aversion gegen die Anthroposophie“
geprägte Haltung (Ullrich 2006, 182) noch einmal in konzentrierter Form
publik gemacht. Seine Vorbehalte wurden nun in „Pharus“ veröffentlicht,
der „Katholischen Monatsschrift für Orientierung in der gesamten Pädagogik“.
Hövels kritisiert dort die „Glaubensgewissheit“ der Anthroposophen,
die „letzten Endes auf der Autorität ihres Führers Dr. Steiner“ beruhe (Hövels
1927, 192). Im Weiteren wendet er ein, dass die anthroposophische Pädagogik
„in wesentlichen Dingen den Ergebnissen der modernen Psycholo-
gie und Pädagogik“ ebenso widerspreche wie der „christlichen Erziehungslehre“
(ebd., 193). In der anschließenden Kritik der Didaktik verschiedener
Unterrichtsfächer geht Hövels auch auf das Fach Geschichte an der Waldorfschule
ein. Hier moniert er, dass „der geschichtliche Geist der Steiner-
Schule“ nicht in genügender Weise „die Seele der Heimat, des Gaues und
des Stammes“ berücksichtige, sondern „eher einer allgemeinen Verbrüderung
der Staaten und Völker in einem unnatürlichen Sinne günstig“ sei „als
dem Wiederaufstieg des deutschen Volkes“ (ebd., 200).
Wie nicht anders zu erwarten, waren die Reaktionen auf Hövels Arbeiten
auf anthroposophischer Seite sehr negativ: Hans Erhard Lauer analysierte
in der Monatszeitschrift „Die Drei“ (Lauer 1927/28) die Dissertation
erbarmungslos unter dem Titel „Ein wissenschaftlicher Skandal“, und noch
mehr als vierzig Jahre später wurde in der Studie „Zur Beurteilung der Pädagogik
Rudolf Steiners“ Hövels Arbeit auf Grund gravierender sachlicher
Mängel als „unhaltbar“, die Darstellung des Unterrichtsbesuchs als „billigtendenziös“
bezeichnet (Rittersbacher 1969, 55).
Bei aller berechtigten Kritik bleibt festzuhalten, dass Hövels Arbeit die
erste Promotionsschrift zur Waldorfpädagogik überhaupt gewesen ist. Dass
dann gleich diese erste umfangreichere akademische Monographie derart
einseitig ausfiel, zeigt, wie schwierig es anscheinend schon damals war, die
anthroposophische Pädagogik adäquat darzustellen – zumal, wenn man sich
allzu sehr auf den weltanschaulichen Hintergrund konzentrierte, den man
überdies noch zu bekämpfen suchte, und wenn darüber die Beschreibung
und Untersuchung der pädagogischen Praxis entschieden zu kurz kamen. In
gewisser Weise ist Hövels Arbeit insofern ein beredtes Symptom für die
von Anfang an belastete Diskussion zwischen Erziehungswissenschaft und
Waldorfpädagogik.
Allerdings erschien wenig später eine andere Dissertation, die Chancen
eines produktiven Dialogs eröffnete. Unter dem Titel „Schiller und die Waldorfpädagogik“
promovierte 1928 Ilse Staedtke in Jena bei keinem Geringeren
als Peter Petersen, der in dieser Zeit dabei war, seinen „Jena-Plan“ für
ein reformiertes Schulwesen zu entwickeln. Staedtke gelang in ihrer Arbeit
der Nachweis, wie viel die anthroposophischen Erziehungskunst dem Werk
Friedrich Schillers verdankt und wie inspirierend insbesondere seine Briefe
„Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ auf Rudolf Steiner gewirkt
haben (Staedtke 1928). Die 1929 bei Klinkhardt erschienene Monographie
eröffnete so für die Waldorfschulbewegung ein gehöriges Anregungspotential,
das auch von anthroposophischer Seite entsprechend gewürdigt wurde
(Rittersbacher 1969, 55 f.).
Was nun pädagogische Fachzeitschriften anbetrifft, die für die Weimarer
Jahre hier nur kursorisch untersucht wurden, ist auf den bemerkenswerten
Bericht des Lehrers Karl Frank hinzuweisen, der zusammen mit einigen
Kollegen ebenfalls die Waldorfschule in Stuttgart besucht hatte (Frank
1927). Nach einer recht ausführlichen Schilderung der anthroposophischen
Entwicklungslehre und ihrer Auswirkungen auf die Unterrichtspraxis stellt
Frank in seinen Schlussbetrachtungen die Frage, ob denn die Anthroposophie
wohl geeignet sei, „als Grundlage für ein pädagogisches Gedankengebäude
zu dienen“ Überraschenderweise antwortet er darauf, dass es nicht
statthaft sei, darüber direkt zu befinden. Zwar würde gewiss dem Nichtanthroposophen
„vieles lächerlich oder falsch vorkommen“. Die Praxis aber
urteile anders (ebd., 732)! Denn „die ganze Lernarbeit“, die er und seine
Kollegen beobachtet hatten, sei von einem „ungewöhnlichen Eifer“ getragen,
was er vor allem auf das gemeinsame geistige Fundament der Lehrerschaft
zurückführt. Dies wirke sich auf die Schüler sehr positiv aus: die
Kinder hätten einen „sehr fröhlichen und heiteren Ausdruck“, was darauf
schließen lasse, „wie wohl sie sich fühlen“ (ebd., 733).
Die hier wiedergegebenen Einzelbeiträge dürfen nicht den Eindruck erwecken,
als ob die Waldorfschulbewegung, die um 1925 innerhalb des
Deutschen Reiches gerade einmal vier Schulen umfasste (Götte 2006, 245),
damals allgemein bekannt gewesen wäre. So werden in dem 1925 in „Die
Deutsche Schule“ erschienenen Aufsatz über „Okkultismus und neuere Philosophie“
1925 (Schmidt 1925) weder die Anthroposophie noch die Waldorfschule
auch nur erwähnt, obwohl der Autor betont, wie wichtig für den
Lehrer Kenntnisse des Unbewussten und des Überbewussten sind. Und
während er explizit auf Sigmund Freud und Henri Bergson sowie die Erziehungswissenschaftler
Theodor Litt und Eduard Spranger hinweist (ebd.,
416 f.), wird Rudolf Steiner überhaupt nicht genannt, und dies, obgleich der
Artikel in dessen Todesjahr publiziert wurde und obschon doch gerade der
Begründer der Anthroposophie vielfältige Verbindungslinien zwischen Okkultismus,
Philosophie und Pädagogik gezogen hatte.
So blieb die akademische Auseinandersetzung mit Anthroposophie und
Waldorfpädagogik in den 1920er Jahren auf einige wenige Autoren beschränkt.
Im Gegensatz zu den allerdings damals fast durchweg negativ-kritischen
Analysen über die Anthroposophie (Dessoir 1917; Leisegang 1922
und 1924; Hauer 1923; Bry 1924), fällt schon damals auf, dass diejenigen
Arbeiten und Berichte, die sich in dieser Zeit konkret mit der Waldorfpädagogik
beschäftigten, im Durchschnitt ungleich wohlwollender und differenzierter
waren und dass dort fast durchweg die positiv erlebte Praxis hervorgehoben
wurde. –
Mit Beginn der Weltwirtschaftskrise und erst recht seit der „Machtergreifung“
Hitlers und der Nationalsozialisten 1933 war die erste Ausbreitungsphase
der Waldorfschulen abrupt beendet. Auch das publizistische Interesse
an anthroposophischer Pädagogik ließ nun schlagartig nach, und die
sukzessive Auflösung der deutschen Waldorfschulen im totalitären Einheitsstaat
des „Dritten Reiches“ hatte ihr Pendant in der nun einsetzenden Bekämpfung
und Negierung der anthroposophischen Pädagogik.
Zwar konnte 1935 der reformpädagogisch orientierte Erziehungswissenschaftler
Herman Nohl sein Hauptwerk „Die pädagogische Bewegung in
Deutschland und ihre Theorie“ veröffentlichen, in dem die Waldorfpädagogik
jedoch nur am Rande vorkam. Dass es indes im NS-Hochschulwesen
bis Ende der 30er Jahre Freiräume gab, beweist die Dissertation des anthroposophischen
Arztes Hermann Hessenbruch, der 1938 an der Universität
Köln mit einer Arbeit über das Thema „Von der Bedeutung des Siebenjahres-
Rhythmus beim heranwachsenden Menschen“ promovierte. In Anknüpfung
an Steiners Hebdomadenlehre zeigte er, wie sich die menschliche Entwicklung
des Kindes und des Jugendlichen in Siebenjahresepochen vollzieht
und wie diese Phasen mit dem stufenweisen Hervortreten spezifischer
Seelen- und Geistesfähigkeiten einhergehen (Hesssenbruch 1966 [1938]).
Allerdings war diese Arbeit die Ausnahme von der Regel, dass es im
NS-Staat eine akademische Auseinandersetzung mit der Waldorfpädagogik
nicht mehr gab. So war es im deutschsprachigen Raum einzig die Schweiz,
in der noch nach 1938 Bücher über die anthroposophische Erziehungslehre
erscheinen konnten. Hier war es vor allem der Berner Pfarrer und Hochschullehrer
Friedrich Eymann, der unablässig versuchte, die Pädagogik Rudolf
Steiners in seiner Heimat publik zu machen. Zusammen mit dem
Volksschullehrer Max Leist veröffentlichte er 1936 eine Denkschrift mit
dem programmatischen Titel „Anthroposophische Pädagogik und Staatsschule“
(Eymann/Leist 1936), in der die beiden Pädagogen das bestehende
Schulwesen einer scharfen Kritik unterzogen. Dagegen setzten sie eine
„Menschenschule“ im Geiste Pestalozzis, die auf den Grundlagen der von
Steiner inaugurierten anthroposophischen Anthropologie beruhen sollte.
Was ansonsten die Zeit der fortschreitenden Behinderungen und Einschränkungen
der Waldorfschulen während der NS-Herrschaft bis zu ihrer
Schließung betrifft, liegen hierüber dank der Weg weisenden Arbeiten von
Uwe Werner und Wenzel M. Götte ausführliche Dokumentationen und Aufarbeitungen
vor (Werner 1999; Götte 2006; s. vorher auch Leschinsky
1983). Die noch zu schreibende Geschichte der bald nach 1946 in Ostdeutschland
und der späteren DDR gänzlich unterdrückten Waldorfschulbewegung
würde in der Analyse der Argumentationsmuster ansonsten vermutlich
erstaunliche Übereinstimmungen mit den Begründungen aus der
NS-Zeit hervorbringen ...