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Töchter ohne Väter Frauen der Kriegsgeneration und ihre lebenslange Sehnsucht
Töchter ohne Väter
Frauen der Kriegsgeneration und ihre lebenslange Sehnsucht




Barbara Stambolis

Klett-Cotta
EAN: 9783608947243 (ISBN: 3-608-94724-8)
315 Seiten, paperback, 14 x 21cm, 2012, 9 Fotos

EUR 24,95
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Vaterlose Töchter fragen nach den Folgen ihres vaterlosen Aufwachsens für sich, ihre Partnerschaften und die eigenen Kinder. Sie sind sicher, ihr Leben wäre anders verlaufen, wenn sie einen Vater gehabt hätten. Eines spüren sie genau: Ihr Selbstwertgefühl hat lebenslang auf unsicherem Grund gestanden und das führen sie auf das Fehlen von väterlichem Halt zurück. "Mit schlechten Karten gut spielen" könnte als Motto über manchen der beeindruckenden Lebenswege stehen.

Barbara Stambolis lässt diese Frauen ausführlich zu Wort kommen. Sie analysiert ihre Erfahrungen, ordnet diese zeitgeschichtlich ein und versucht, das Lebensgefühl vaterloser Töchter der Kriegsgeneration auf den Punkt zu bringen.

Das Verständnis der tiefen Vater-Sehnsucht der Betroffenen kann therapeutisch wegweisend sein und den vaterlosen Töchtern helfen, positive Perspektiven für ihr Leben im Alter zu entwickeln.
Rezension
Viele Frauen, die kriegsbedingt ohne Väter aufgewachsen sind, sind nun selbst im Rentenalter, blicken zurück auf ihr Leben ohne Vater und fragen sich, welche Auswirkungen das auf ihren Lebensverlauf gehabt hat. Viele haben eine lebenlange tiefe Vater-Sehnsucht, erlebten einen schmerzlichen Verlust und haben sich lebenslang auf unsicherem Grund gefühlt. Männer sind für nicht wenige ein unbekanntes Geschlecht geblieben, - auch in ihren eigenen Beziehungen; Märchenprinzen und Traumpartner traten an deren Stelle. Nicht wenige haben lebenslang nach ihrem "Vater" gesucht, andere erlebten Stiefväter ... Dieses Buch bringt spätes Licht in ein Schicksal, das eine ganze Generation von Kriegs-Töchtern geprägt hat - und deren Leben vor der Bewußtmachung dieses Hintergrunds (ihnen selbst) in anderem Licht erscheint.

Jens Walter, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
»Mir hat niemand die Welt erklärt.«

Frauen, die kriegsbedingt ohne Väter aufgewachsen sind, wollen die Auswirkungen ihrer Vaterlosigkeit verstehen. Die Autorin analysiert ihr Lebensgefühl. Das Verständnis dieser tiefen Sehnsucht kann therapeutisch wegweisend sein und den vaterlosen Töchtern helfen, positive Perspektiven für ihr Leben im Alter zu entwickeln.

Dieses Buch richtet sich an:
- Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten
- Betreuungs- und Pflegekräfte
- Alle, die mit älteren Menschen arbeiten
- Frauen, die zwischen 1930 und 1945 geboren sind und ihre Angehörigen

Die Gerda Henkel Stiftung hat für das dem Buch zugrundeliegende wissenschaftliche Projekt der Autorin ein Forschungsstipendium gewährt sowie Reise- und Sachkosten übernommen.
www.gerda-henkel-stiftung.de

Barbara Stambolis, Prof. Dr., lehrt an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Paderborn Neuere und Neueste Geschichte. Ihren Schwerpunkt bilden kultur-, mentalitäten-, und sozialgeschichtliche Forschungsfelder.Zur Webseite: www.barbara-stambolis.de
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 11

1 Die Schatten der Väter 15
1.1 Töchter ohne Väter melden sich zu Wort 15
1.2 Erste Annäherungen 20
1.3 Lebenslang auf unsicherem Grund 23
1.4 Viele Fragen 28

2 Der fehlende Vater als Lebensthema 32
2.1 Erinnerungen an den Vater 32
2.2 Abschiedsbilder und -szenen 39
2.3 Schmerzlicher Verlust und lebenslange Sehnsucht 44
2.4 Worüber zu sprechen schwer fällt 48

3 Der Preis des Überlebens 54
3.1 Eine Mutter mit drei Töchtern »unterwegs« 54
3.2 »Vermiedene Trauer« 59
3.3 Unauffällige Kinder 65

4 Frauenleben ohne Männer 74
4.1 Unvollständige Familien: Fakten und Wahrnehmungen 74
4.2 Mütterlichkeit und Väterlichkeit aus Nachkriegsperspektiven 81
4.3 Erziehungserbschaften 87

5 Aufwachsen ohne Vater 90
5.1 Ängste der Töchter: »Ich bin das ungeliebte Kind« 90
5.2 Geschwister 94
5.3 Die Rolle der Stiefväter 99
5.4 Stabilität und Halt in prekären Lebensumständen 103
5.5 Selbstsicht im Spiegel von Kindheits- und Jugendlektüre 108

6 Weibliche Lebensentwürfe 114
6.1 Biografische Brüche: das Leben der Mütter 114
6.2 Bildungs- und Berufsprofile der Töchter 118
6.3 Generationengeschichte weiblich? 128

7 Partner und Kinder 134
7.1 Männer, das unbekannte Geschlecht 134
7.2 Märchenprinzen und Traumpartner 140
7.3 Ledige, Verheiratete, Krisen und neue Chancen 144
7.4 Weitergabe von Erfahrungen und Haltungen 153

8 Bilanzierende Lebenserzählungen 158
8.1 Später Abschied vom Vater 158
8.2 Aussöhnung mit der Mutter 166
8.3 »Vom guten Spiel mit schlechten Karten« 170

9 Weitere Perspektiven 177
9.1 Sichtbare und unsichtbare Geschichte(n) 177
9.2 Anmerkungen und offene Fragen 180

10 Zusammengefasst: Verarbeitung des Vaterverlusts 187

11 Auszüge aus den Fragebogenantworten 196
11.1 Letzte Bilder – Verlust ohne Abschied 196
11.2 Lebenslange Suche und Erinnerungen 203
11.3 Bücher und Filme als Orientierung 210
11.4 Leben ohne Vater – mit (vielleicht vielen) Frauen 218
11.5 Vorbilder und Kompensationen 226
11.6 Pflichterfüllung und andere Normen und Werte 234
11.7 Männer und Ehe bzw. Beziehungen 241
11.8 Die eigenen Kinder 249
11.9 Zum Vergleich »vaterlose Töchter – vaterlose Söhne« 255

Nachwort von Jürgen Reulecke 265
Literaturauswahl 282
Anmerkungen 285


Leseprobe
VORWORT

Als ich begann, mich intensiv mit Kindheiten im Zweiten Weltkrieg und ihren Folgen zu beschäftigen, stieß ich auf ein Foto aus dem Jahre 1946, das ein etwa fünf oder sechs Jahre altes Kind mit seiner Mutter zeigt. Allein und gleichsam verloren stehen beide auf einer Straße – das greisenhafte Gesicht des Kriegskindes lässt erahnen, dass es eigentlich kein Kind mehr ist. Viele Menschen fühlten sich von diesem Foto angerührt. Die Frage nach dem Schicksal dieses einen Kindes – es ist ein kleiner Junge – lässt sich zwar nicht beantworten, aber sie enthält eine mehr oder weniger versteckte Aufforderung: nämlich her auszufinden, was aus den Kindern von damals geworden ist. An diesem Beispiel eines »Motivs« lässt sich veranschaulichen, wie sich Forschungsfragen entwickeln können. Ein anderer Anstoß, ebenfalls mit einer Frage verbunden, ergab sich aus folgender Beobachtung: Mir fiel auf, dass in Filmen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit Jungen offenbar deutlicher »im Bild« waren als Mädchen. Warum ? Zunehmend begannen nicht nur Bilder von Mädchen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit mein Interesse zu fesseln, sondern es hat sich ein Forschungsthema entwickelt, in dessen Mittelpunkt die Lebensläufe von Frauen stehen, die im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit auf wuchsen.

In dem 2004 erschienenen und mittlerweile in dritter Auflage vorliegenden Buch »Söhne ohne Väter. Erfahrungen der Kriegsgeneration« heißt es: »Zu den einen Lebenslauf bestimmenden Belastungen […] gehört auch die kriegsbedingte Vaterlosigkeit, die oft die Art und Weise des Her anwachsens der Söhne (und selbstverständlich in spezifischer Weise auch der Töchter) entscheidend beeinflusst hat« (S. 151). Die Klammer in diesem Satz macht den Forschungsbedarf bezüglich der Frauen ebenso deutlich wie der Hinweis Hartmut Radebolds, der mit Hermann Schulz und Jürgen Reulecke das »Söhne-Buch« her ausgegeben hat, das weibliche Parallelbuch könne »nur von betroffenen Töchtern geschrieben werden«. Das Wörtchen »nur« in diesem Satz mag nicht in der Weise gemeint gewesen sein, dass eine kriegsbedingt vaterlos aufgewachsene Tochter wohl am geeignetsten sei, ein solches »Töchter-Buch« zu schreiben. Dieses Buch könne und solle jedoch, so deutete ich die Formulierung, von einer Frau geschrieben werden, die zwar nicht der Altersgruppe der Kriegskinder im strengen Sinne zugehörig sein muss, deren professionelle Arbeit aber von Empathie ge gen über den Empfindungen, Verletzungen und lebenslangen Belastungen vaterloser Töchter gekennzeichnet sein sollte. Aber es gab zu dem Zeitpunkt, als mich die vaterlosen Töchter zu faszinieren begannen, noch keinen Versuch einer Zeithistorikerin sich des Themas mit den Methoden der Geschichtswissenschaft anzunehmen. Den Regeln dieser Disziplin zufolge können persönliche Bezüge allenfalls eine nebensächliche, wenngleich nicht ganz zu leugnende Rolle spielen. Zentral ist vielmehr die Her ausforderung, den Erfahrungen, Wahrnehmungen und subjektiven Rückblicken vaterloser Töchter einerseits eine Stimme zu geben, sie aber andererseits auch zeitgeschichtlich zu deuten, einzuordnen und »Exemplarisches« zu beschreiben. Dass Facetten meiner eigenen Familiengeschichte einen Hintergrund für mein intensives Interesse an dem Thema darstellen, sei an dieser Stelle nur angedeutet. Bekanntlich sprechen Historiker und Historikerinnen, um ihre Professionalität zu betonen, nicht von sich selber, aber sie können vielleicht zugestehen, dass sie manchmal aufgrund eigener Erfahrungen in einer besonderen Weise beobachten, Zeitzeugen zuhören oder ein Gespür dafür entwickeln, was es z. B. heißt, dass Frauen eine lebenslange Sehnsucht nach einem ihnen liebevoll zugewandten Vater haben. Diese Sehnsucht haben sicher auch Frauen, die erst nach dem Krieg geboren wurden und aus anderen als unmittelbar kriegsbedingten Umständen vaterfern oder vaterlos aufwuchsen.

Etwa 120 Betroffene, Frauen, die zwischen 1930 und 1945 gebo ren wurden, die ihre Väter kaum oder gar nicht kennengelernt hatten, haben zwischen 2007 und 2010 ähnlich wie die 44 an dem »Söhne-Buch« beteiligten Männer einen Fragebogen beantwortet, in dem es um ihre abwesenden Väter, ihre Mütter, weitere Erinnerungen an lebensprägende Erfahrungen, Reflexionen über Auswirkungen ihres vaterlosen Aufwachsens auf Partnerschaften und den Umgang mit den eigenen Kindern ging. Von vornherein stand fest: Die Fragen an die Frauen können nicht mit denen an die Männer identisch sein. Sie wurden unter anderem im Hinblick dar auf, dass weibliche Lebensentwürfe sich zweifellos von männlichen unterscheiden, modifiziert. Zu vermuten war nicht zuletzt, dass sich ein »gelungenes Leben« aus weiblicher Sicht anders darstellt als aus stärker berufs- und karriereorientiertem männlichen Blickwinkel.

Die vaterlosen Töchter der Kriegskindergeneration, um die es in diesem Buch geht, fragen sich mittlerweile, inwieweit der fehlende Vater ein grundlegendes Element ihrer eigenen Familiengeschichte über Generationen sein könnte. Eine erhebliche Zahl ihrer Mütter war infolge des Ersten Weltkriegs auch ohne Vater aufgewachsen. Ihren Kindern wird er vielleicht ebenfalls fehlen – aus ganz anderen Gründen als ihnen in ihrer Kindheit. Es können sich deshalb von der vorliegenden Studie auch jüngere Menschen und aus anderen als kriegsbedingten Gründen vaterlos Aufwachsende angesprochen fühlen.

Den vaterlosen Töchtern, von denen ich manchen im Laufe der vergangenen Jahre wiederholt begegnet bin, die sich immer wieder meldeten und Informationen und Überlegungen nachtrugen, die nicht zuletzt zu langen Gesprächen bereit waren, sei an erster Stelle gedankt. Ohne diese Art der Kommunikation und ständigen Anregung wäre das Buch nicht entstanden. Ich hoffe, dass sie sich mit ihren Stärken ebenso dar in wiederfinden wie mit ihren Zweifeln, Sehnsüchten und Unsicherheiten.

Dass die Gerda-Henkel-Stiftung mir dankenswerterweise ein Forschungsstipendium gewährte, hat maßgeblich die Vor aussetzung für die Auswertung des Materials, für die notwendigen Literaturrecherchen und die Arbeit an der Erstellung des Buchmanuskripts geschaffen. Dem Klett-Cotta Verlag schließlich sei für die gute Zusammenarbeit gedankt.


1 DIE SCHATTEN DER VÄTER


1.1 Töchter ohne Väter melden sich zu Wort

»Mein Vater hat durch eine sofort nach meiner Geburt am 7. 11. 1942 abgesandte Postkarte gerade noch von seiner zweiten Tochter erfahren. […] Ich war also noch nicht einmal zwei Monate alt, als meine Mutter die letzte Nachricht von ihm erhielt. So hat mein Vater mich und ich ihn leider niemals gesehen, dann er blieb als Soldat der 6. Armee in Stalingrad vermisst. Das ist etwas, was mich heute noch sehr berührt, den eigenen Vater nie kennengelernt zu haben, ihn mir nie zu eigen machen zu können, ihn nie erlebt zu haben, weil ich nie das Leben mit ihm teilen konnte, auch nicht wenigstens für eine kurze Zeit, so dass ich eine eigene Erinnerung an ihn haben könnte. Meine Schwester und ich würden auch heute noch ein paar Jahre unseres Lebens dafür geben, wenn wir unseren Vater sehen, sprechen und umarmen könnten, um zu erfahren, welch ein Mensch er war und wie er als Vater gewesen wäre.«

Mit diesen Worten beginnt eine Frau, die kriegsbedingt vaterlos aufwuchs, eine für ihr Leben grundlegende Verlusterfahrung und eine dar aus erwachsene lebenslange Sehnsucht zu beschreiben. Sie hat mit etwa 120 weiteren vaterlosen Töchtern, alle zwischen 1930 und 1945 geboren, Auskunft über ihren Vater, die Beziehung zu ihrer Mutter und weitere wichtige Prägungen gegeben. Vor allem teilen viele Betroffene das Gefühl, es habe sie bis heute, und d. h. ihr gesamtes bisheriges Leben lang, ein grundlegendes Empfinden tiefer Unsicherheit begleitet, verbunden mit einer ebenfalls lebenslangen tiefen Sehnsucht nach väterlichem Halt.

Schriftliche Antworten auf einen Fragebogen, längere persönliche Gespräche, viele mündliche Mitteilungen bei Veranstaltungen und teilweise ausführlichere Korrespondenzen sind Grundlage des nun vorliegenden Buches, in dem es um Erfahrungen, Wahrnehmungen und subjektive, rückblickende Lebensdeutungen vaterloser Töchter der Altersgruppe geht, die seit einigen Jahren als »Kriegskindergeneration des Zweiten Weltkriegs« bezeichnet wird. Wenn von der »Generation der Kriegskinder« gesprochen wird, so umfasst diese zunächst einmal ganz allgemein jene Menschen, die als Kinder oder Her anwachsende entscheidend vom Krieg geprägt wurden. Zwar nicht alle, aber doch ein großer Teil Angehöriger der in Frage kommenden Jahrgänge hat nachhaltig Belastendes erlebt, den Verlust des Vaters und weiterer Angehöriger, Bombenangriffe, Evakuierung, Flucht und Vertreibung. Diese wenigen Hinweise auf ihre Erlebnis- und Erfahrungswelt lassen bereits ahnen, dass es kaum möglich ist, pauschal von Kriegskindern als Generation oder auch von »den« kriegsbedingt vaterlos Aufgewachsenen zu sprechen. Es ist beispielsweise zu differenzieren, ob vaterlose Töchter (und natürlich auch Söhne) ihren Vater noch kennengelernt haben oder nicht, ob sie mit behütenden Großvätern oder Großmüttern aufwuchsen, ob sie zusätzlich zu ihren Vätern weitere Angehörige verloren haben, ob sie zudem Bombenangriffe erlebt haben und evakuiert wurden, ob sie im Zuge der Kinderlandverschickung zeitweise ohne ihre Angehörigen lebten, oder ob sie sich mit ihren Müttern und Geschwistern über Monate oder sogar einige Jahre auf der Flucht befunden haben.

Die vaterlosen Töchter, die im Mittelpunkt dieses Buches stehen, gehören zu jenem Viertel aller damaligen Kinder und Jugendlichen in Deutschland, deren Väter im Krieg »gefallen«, ihren Kriegsverletzungen erlegen, in Gefangenschaft umgekommen oder unter bis heute ungeklärten Umständen verschollen sind. Ihre Zahl lässt sich auf etwa 2,5 Millionen beziffern.1 – In Europa dürfte es infolge des Zweiten Weltkriegs insgesamt rund 20 Millionen Halbwaisen gegeben haben. – Die Frauen (und auch die Männer) beginnen, oft erst seit einigen Jahren, sich intensiv mit ihren nicht oder kaum gekannten Vätern und den Folgen ihres vaterlosen Aufwachsens für sich, ihre Partnerschaften und auch ihre eigenen Kinder zu beschäftigen. Ihr Leben sei lange »mit Arbeit ausgefüllt« gewesen, schreibt eine Betroffene; sie habe bislang keine Zeit gehabt, sich mit ihrer Kindheit und Jugend, d. h. ihrem vaterlosen Aufwachsen und mit dar aus möglicherweise entstandenen lebenslangen Folgen zu befassen; seit Kurzem nun habe sie begonnen, sich intensiv mit ihrem kaum gekannten, fremd gebliebenen und doch intensiv, wenngleich nur schattenhaft gegenwärtigen Vater auseinanderzusetzen. Gemeinsam sei ihnen möglicherweise, so vermuten die Befragten, dass sie lange Zeit nur selten über ihre Verlusterfahrungen gesprochen haben. In folgender Äußerung dürften sich wohl einige wiedererkennen:

»Heute weiß ich – dass die Zeit unausweichlich kommt – wo nach einem arbeitsreichen Leben – im Zur-Ruhe-Kommen – spätestens dann – die alten Bilder […] hochsteigen. Ich begreife im Nachhin ein seltsame Verhaltensweisen von mir. Mir ist im Austausch mit langjährigen Freundinnen, die in ›heiler Familie‹ aufwuchsen, klar geworden: Ich spreche eine andere Sprache, wenn es zum Beispiel um Gefühle und Verhaltensweisen geht. […] So steigt auch heute manchmal das Gefühl auf: Ich gehöre nicht ganz dazu.«

Mehr oder weniger überrascht stellten viele der Frauen fest, nachdem sie ins Gespräch gekommen waren, dass sie mit ihren Befindlichkeiten nicht allein waren bzw. sind und dass auch andere vaterlose Töchter glauben, die Tatsache, dass sie ohne Vater aufgewachsen waren, sei – vielleicht schon lange un- oder halbbewusst – hochbedeutsam in ihrem Leben. Sie beobachteten, dass sie ihr wachsendes Bedürfnis – oft nach dem Tod ihrer Mütter –, die Gräber ihrer Väter ausfindig zu machen und aufzusuchen, mit anderen kriegsbedingt vaterlos aufgewachsenen Frauen teilen. Sie möchten verspätet, trauernd von ihrem Vater Abschied nehmen, was ihnen ja als Kinder nicht möglich gewesen war.

Das Bedürfnis, sich mit ihren Vätern auseinanderzusetzen – von einigen Frauen inzwischen sogar ausdrücklich als Lebens- oder vielleicht besser Daseinsthema bezeichnet – hatte viele neugierig auf Veranstaltungen gemacht, die sich mit kriegsbedingter Vaterlosigkeit beschäftigten. Es ging bei entsprechenden Angeboten für Interessierte und Betroffene nicht nur um persönliche Erlebnisse, Erfahrungen, rückblickende Wahrnehmungen sowie gegenwärtige Beunruhigungen. Es ging auch um erste Versuche, zeithistorische und psycho logische Hintergründe zu klären. Die Beschäftigung mit dem Alltagsleben im Krieg und in der Nachkriegszeit, mit zeittypischen Bildungswegen von Mädchen oder weiblichen Lebensentwürfen beispielsweise macht deutlich, dass individuelle Lebenswege nicht losgelöst von allgemeinen gesellschaftlichen Situationen und kulturellen Entwicklungen gesehen werden können.

Davon, dass das Interesse an den Erfahrungen kriegsbedingt vaterlos aufgewachsener Töchter in den letzten Jahren allgemein, auch aus journalistischer Sicht, zunahm, zeugten dann unter anderem auch eine TV-Dokumentation (2008) über die Reise einer Tochter ans Grab ihres fast unbekannten Kriegsvaters2 und eine vierteilige facettenreiche Fernsehproduktion über Kriegskindheiten (2009), in der auch die fehlenden Väter Berücksichtigung fanden, wenngleich diese Verlusterfahrung fast ausnahmslos von Menschen geschildert wurde, die vor 1939 geboren waren, also noch deutliche Erinnerungen an ihre Väter »im Frieden« hatten.3 Die zuletzt genannten Beispiele fügten sich in die seit einigen Jahren zu beobachtende breite mediale Beschäftigung mit Kriegskindheiten im Zweiten Weltkrieg ein, auf die noch einzugehen sein wird.

Die Beschäftigung mit ihrer Kindheit bzw. Jugend im und nach dem Zweiten Weltkrieg und vor allem mit dem »VaterThema« erwies sich insgesamt gesehen für viele vaterlose Töchter als ausgesprochen anstrengend, wie eine Beteiligte schriftlich mitteilte:

»Ich hätte nie für möglich gehalten, dass sich eine Wunde öffnet, die bisweilen so schmerzte, dass ich nicht weiterschreiben konnte und einige Tage pausieren musste […]. Ich glaube, ich habe nie so viel um einen Menschen oder besser gesagt, um diesen Verlust für mein Leben weinen müssen wie jetzt.«

Eine weitere teilte mit: »Dass die Seele bis heute noch leidet, habe ich beim Verfassen dieses Berichts gespürt.« Und einem ausgefüllten Fragebogen waren folgende Sätze vor angestellt: »Es ist Mitte Oktober, ein ungewöhnlich warmer Tag. In die äußerste Ecke des Gartens habe ich mich zurückgezogen – wie damals, wenn ich Zuflucht suchte. Es ist der Schauplatz meiner Kindheit, an den ich zurückkehre!«

Manche Frauen hatten weitreichende Bedenken: Durften sie sich überhaupt gestatten, sich mit ihrer Kindheit und d. h. der eigenen Geschichte zu befassen ? Wörtlich: »Zwischendurch beim Nachdenken haben mich Zweifel ergriffen, ob es nicht sehr selbstsüchtig ist, sich so sehr mit sich selbst zu beschäftigen.« Einige meinten, sie könnten gleichsam ihre Mütter verraten, wenn sie auszusprechen wagten, dass sie ihre Mutter-Tochter-Beziehungen als ambivalent erlebt hatten und nun auch den Zwiespalt ihrer Gefühle beschreiben wollten. Gleichwohl haben lediglich einige wenige mitgeteilt, das Vaterthema sei für sie derart aufwühlend, dass sie davon Abstand nehmen wollten, sich zu intensiv dar auf einzulassen, und dann auch meinten, es tue ihnen leid, sie könnten den Fragebogen nicht beantworten. Bei den meisten Frauen hatte sich das Bedürfnis, sich noch einmal oder erstmals tiefgreifend mit ihrer Kindheit und Jugend sowie damit verbundenen bilanzierenden Lebensrückblicken zu befassen, in den letzten Jahren gleichsam aufgeschichtet. Sie erlebten es als befreiend, ihre Wahrnehmungen in Worte zu fassen, obwohl nicht selten ausgesprochen schmerzlich war, sich auf die »Reise in die Vergangenheit« zu begeben.4

Oft hatten die Veranstaltungsteilnehmerinnen ebenfalls betroffene Freundinnen und Bekannte, denen sie den – erstmals 2007 verteilten – Fragebogen weiterreichten und die sich dann auch bereiterklärten, ihn zu beantworten. Es gab nach offenbar neuerlichem Nachdenken über weitere Facetten des Vater-Themas in der eigenen Lebensgeschichte immer wieder Nachträge zu dem bereits Mitgeteilten. Vor allem erwies sich die Erinnerung gewissermaßen als Puzzle, in dem sich erst langsam einzelne Teile zu einem Bild zusammenfügten. Die Frauen entdeckten Fotos und schriftliche Dokumente und legten diesen Briefe bei, in denen sie sich auch nach dem Fortgang der Arbeit an dem Buch erkundigten. Viele Beteiligte hofften ausdrücklich dar auf, sich in diesem »wiederfinden« zu können, ein Vertrauen, das zweifellos eine Verpflichtung und eine besondere Aufgabe darstellt: Es handelt sich zum einen um individuelle Lebensgeschichten, die aber zum anderen – dar in besteht ja die Anforderung an Auswertung und Deutung – exemplarische Züge tragen und den Anspruch erheben, bis zu einem gewissen Grad und bei aller gebotenen Vorsicht verallgemeinerbar für eine Erfahrungsgruppe zu sein, eben für kriegsbedingt vaterlos aufgewachsene Frauen.


1.2 Erste Annäherungen

Wenn sich in den vergangenen circa zehn bis 15 Jahren Frauen aus der Kriegskindergeneration des Zweiten Weltkriegs mit ihren Müttern und auch Vätern befassten, hatten sie zunächst vor allem nach der Schuld ihrer Eltern oder zumindest deren Verstrickungen, besonders der ihrer Väter in den Jahren zwischen 1933 und 1945 gefragt.5 Es war zweifellos einfacher, sich mit einem Vater auseinanderzusetzen, der keine Schuld auf sich geladen hatte. Es überrascht daher nicht, dass mit Wibke Bruns’ »Meines Vaters Land« 2004 das Buch einer vaterlosen Tochter erschien, die den Spuren eines Mannes folg te, dessen Leben nicht von Verstrickungen in das nationalsozialistische Unrechtsregime, sondern durch seinen aktiven Anteil am Widerstand gegen dasselbe bestimmt war. Bezeichnenderweise hatte Bruns’ Spurensuche nach dem Vater erst begonnen, nachdem die Mutter fast 90-jährig gestorben war. Impulsgebend für vaterlose Töchter scheinen in dem aus Bruns’ Recherchen hervorgegangenen Buch nachdenklich rückblickende Betrachtungen des eigenen Lebens während des Älterwerdens zu sein, die von der »Entdeckung« mit ausgelöst werden, eigentlich wenig über den Vater zu wissen und bislang auch nicht wirklich nach ihm gefragt zu haben. Bruns wörtlich:

»Nicht den Schatten einer Erinnerung gibt es in mir. Ich war ein knappes Jahr alt, als der Krieg begann. Von da an war der Vater so gut wie nie zu Hause. Aber ich erkenne mich in ihm – seine Augen sind meine Augen, ich weiß, dass ich ihm ähnlich sehe. Ich kneife mich in den Unterarm: Diese Haut gäbe es nicht ohne ihn. Ich wäre nicht ohne ihn. Und was weiß ich über ihn ? Nichts weiß ich. Warum weiß ich nichts ?«6
Ebenfalls 2004, fast zeitgleich mit Wibke Bruns’ Veröffentlichung, erschien das Buch »Söhne ohne Väter. Erfahrungen der Kriegsgeneration«.7 Die Herausgeber Hermann Schulz, Hartmut Radebold und Jürgen Reulecke, selbst Betroffene, hatten Fragebogenantworten von 44 vaterlos oder vaterfern aufgewachsenen Männern, (bis auf zwei Ausnahmen) zwi schen 1930 und 1945 geboren, dokumentiert und diese in psychoanalytische, gerontologische und zeithistorische Forschungszusammenhänge eingebunden.8
Bis zum Jahr 2005 dann, als öffentlich breit und facettenreich an die 60. Wiederkehr des Kriegsendes 1945 erinnert wurde, steuerte das wissenschaftliche und mediale Interesse an Kriegskindheiten im Zweiten Weltkrieg und ihren Folgen einem Höhepunkt zu. Mit Hilke Lorenz’ Buch »Kriegskinder. Das Schicksal einer Generation« (2003)9 und Sabine Bodes Publikation »Die vergessene Generation« (2004)10 ist ein Laienpublikum angesprochen. Auf einem stark beachteten internationalen Kongress wurden 2005 bereits geleistete Forschungen öffentlich sichtbar, nicht zuletzt Arbeiten aus der seit 2002 bestehenden interdisziplinär arbeitenden Forschungsgruppe »weltkriegs2kindheiten« (w2k). Zugleich zeichneten sich weitere offene Fragen ab, nicht zuletzt die nach den spezifischen Erfahrungen vaterloser Töchter.11 Die Journalistin Cornelia Staudacher hat 2006 in ihrem Buch »Vaterlose Töchter« einige Interviews mit vaterlos aufgewachsenen Frauen nacherzählt und mit diesem »Lesebuch« das Thema zwar aufgegriffen, aber ohne auf Hintergründe und Zusammenhänge der erzählten Lebens einzugehen.12 Ein weibliches Parallelbuch zu »Söhne ohne Väter« war also bis jetzt noch nicht geschrieben. Trotz Margarete Dörrs eindrucksvoller Dokumentation zu Kriegskindheiten, 2007 erschienen, welche auch zu vaterlosen Töchtern facettenreiches Material bot,13 blieb diese Herausforderung bestehen.14 Sie wurde mit dem Dokumentarfilm von Andreas Fischer »Söhne ohne Väter«, im Mai 2007 erstmals ausgestrahlt, in dem u. a. einige der an dem »Söhne-Buch« Beteiligten zu Wort kommen, noch einmal deutlich. Dies auch im Sinne einer konkreten Aufforderung, unter anderem von Seiten einiger Schwestern der gefilmten vaterlosen Söhne, doch nun endlich auch betroffene Frauen zu befragen.15
Was zwar nicht allen, aber zumindest doch einigen besonders anregenden unter den zahlreichen und oft auch recht umfangreichen Publikationen über die Kinder des Zweiten Weltkriegs gemeinsam ist, hat Nicholas Stargardt in einer knappen Formulierung auf den Punkt gebracht: Er befasse sich »mit der Suche nach historischer Einfühlung und historischem Verstehen« und den damit verbundenen Schwierigkeiten. Die Zeitzeugen seien eben »nicht nur einfach da«, um die »liebsten Argumente der Historiker zu illustrieren, sondern, damit wir noch einmal die Frage stellen, was wir zu wissen glauben.«16 Es geht mit anderen Worten um die Aussagekraft subjektiver Erfahrungen und – nicht zuletzt – erinnerter Lebensgeschichten. Ohne hier auf die diffizilen Probleme rückblickender Erinnerungen im Detail eingehen zu wollen: Die Frage der Differenz zwischen tatsächlich Erlebtem und Erinnertem17 war einer Reihe von beteiligten Frauen ausgesprochen bewusst. Eine vaterlose Tochter überlegte etwa, ob das Bild, das in ihrem Gedächtnis »eingebrannt« sei, überhaupt stimmen könne, und fragte sich: »Bin ich wirklich auf seinem Arm oder stelle ich es mir nur vor ?« Sie war vier Jahre alt, als sie ihren Vater zum letzten Mal sah, der dann in einem von ihr nicht näher bezeichneten Lager an Tuberkulose starb. Sie stellt sich ihren Vater bis heute als einen freundlich lächelnden Mann im Sonnenschein hinter Stacheldraht vor, der ihr sehr nahe ist, obwohl sie weiß, dass sie ihn so nicht gesehen haben kann. Offenbar sind dies innere Bilder, um die es hier geht: Das Kind auf dem Arm des Vaters und der lächelnde, hinter dem Stacheldraht unerreichbare Vater versinnbildlichen Vaterverlust und Vatersehnsucht. Beide Bilder müssen nicht realen Fotos entsprechen, um »wirklich« zu sein.


1.3 Lebenslang auf unsicherem Grund

Sicher teilen vaterlose Söhne und Töchter zahlreiche Erfahrungen: beispielsweise das Aufwachsen mit oft in hohem Maße engagierten und pflichtbewussten, doch auch erschöpften und überforderten, also zugleich starken und schwachen Müttern. Oft lebten Jungen wie Mädchen mit ihren Müttern gleichermaßen in wenig gesicherten materiellen Verhältnissen und mussten früh Verantwortung übernehmen. Doch scheinen vaterlose Töchter noch mit anderen Belastungen und Erwartungen konfrontiert gewesen zu sein als ihre ebenfalls vaterlos aufgewachsenen Brüder und andere vaterlose Jungen ihrer Altersgruppe.18 In dem »Söhne-Buch« heißt es einleitend: »Der Verlust des Vaters ist ein brutaler Einschnitt, der den Sohn […] lebenslang begleitet – und beschädigt […] Lebensgefühl und Selbstverständnis stehen […] für immer auf wackligem Boden und prägen das Leben der Betroffenen entscheidend.«19 Gilt das auch für die Frauen ? Wie denken sie, wäre ihr Leben mit ihrem Vater verlaufen ? Was wäre gewesen, wenn er wiedergekommen wäre ? Wäre er während der Schulzeit stärkend und schützend im Hintergrund gewesen ? Hätte sich seine Tochter bei ihm, wenn sie Kummer hatte, anlehnen können ? Hätte er sie ermuntert, ermutigt oder zum Lachen gebracht, wenn sie bekümmert oder unsicher war ? In einem Zeitungsinterview antwortete eine vaterlose Tochter auf die Frage, was ihr gefehlt habe, pointiert: »Es hat mich niemand ins Leben geführt.«20 Eine andere meinte in einer Fragebogenantwort: »Es hat mir niemand die Welt erklärt.« Mit diesen Formulierungen stehen die beiden nicht allein. Eine vom Tenor her ähnliche Äußerung einer anderen Betroffenen lautet: »Als ich dreizehn Jahre war, gab es mal einen Spaziergang mit einem Großonkel, der mir Sternbilder erklärte. Da kam wieder die große Sehnsucht nach jemandem, der einen an die Hand nahm und Dinge erklärte.« Diese intensive Vater-Kind-Bindung im Sinne von »auf Vaters sicherem Arm die Welt anschauen«, »zusammen mit ihm Hand in Hand gehen« oder später mit dem Vater »gemeinsam die Welt erkunden« hatte es für die vaterlosen Töchter (und natürlich auch die Söhne) nicht gegeben;21 aus entwicklungspsychologischer Sicht fehlte ihnen sowohl in ihrer Kindheit als auch in ihrer Jugend die notwendige väterliche Unterstützung.22

Die Vorstellung, ihr Leben mit ihrem Vater wäre anders verlaufen, sie hätten dann mehr Selbstsicherheit erlangt und vielleicht nicht lebenslang mit einem Mangel an Selbstgewissheit zu kämpfen gehabt, äußern vaterlose Töchter aus der Kriegskindergeneration immer wieder. Und sie betonen, innerlich sei zeitlebens – aufgrund des fehlenden Vaters, wie sie annehmen – viel von ihrer bereits in der Kindheit und Jugend empfundenen »Unsicherheit und Einsamkeit« geblieben. Aus dieser grundlegend scheinenden Selbstwahrnehmung ergeben sich Fragen, die nicht leicht zu beantworten sind: Was verbirgt sich hinter dieser Selbsteinschätzung ? Die Töchter waren doch bereits sehr früh selbständig und haben ebenfalls schon früh ganz selbstverständlich Verantwortung übernommen; sie haben ihre Mütter entlastet, Geschwister versorgt und als Heranwachsende bereits klaglos harte Arbeit verrichtet. Sie haben sich als junge Frauen pragmatisch in ihren Berufswünschen eingeschränkt, sie haben unter materiell schwierigen Bedingungen um eine gute Ausbildung gekämpft, Prüfungen bestanden und Ausbildungsziele erreicht, deren Verwirklichung mit großen Anstrengungen verbunden war. Als Ehefrauen und Mütter waren sie pflichtbewusst, verantwortungsvoll und verlässlich. Sie haben den größten Teil ihres Lebens wenig an sich selbst gedacht; die Bedürfnisse ihrer Männer und Kinder standen in der Regel für sie im Vordergrund. Mehrheitlich waren die Befragten beruflich stark engagiert und erfolgreich, manche sind es immer noch, oder sie engagieren sich ehrenamtlich. Sie haben Krisen, Umbrüche und Neuanfänge in ihrem Leben gemeistert. Sie benennen ausdrücklich eigene Stärken. War um also glauben sie dennoch, ihnen fehle Sicherheit und Selbstgewissheit ? Es scheint ein Widerspruch zwischen dem unsicheren Selbstgefühl, dem Eindruck eines Defizits an Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit und den tatsächlich in der Regel doch so stark wirkenden Frauen und ihren ebenfalls starken Müttern zu bestehen. Letztere waren ebenfalls pflichtbewusst und diszipliniert und haben ein hohes Maß an Verantwortung getragen. Konnten sie trotzdem die Aufgabe nicht übernehmen, ihre Töchter »ins Leben zu führen« ? Sie haben viel geleistet, indem sie in den Kriegs- und Nachkriegsjahren das Über leben der Familien sicherten und Doppel- sowie Mehrfachbelastungen in Beruf und Familie standhielten. Haben ihre Stärken, zu denen Bescheidenheit, Fleiß, Sparsamkeit und »Tapferkeit« gehörten, und die die Töchter auch fast immer besonders betonen, die imaginierten ( !) väterlichen Eigenschaften – welche auch immer es im einzelnen waren – nicht ersetzen können ?
Eine Betroffene schrieb, frühe Kindheitserinnerungen gebe es zwar nur spärlich, aber eine der wenigen bestehe dar in, dass ihr Vater am Klavier sitze und ein Kinderlied spiele, das sie nachsinge. Eine andere interpretierte ein Foto, auf dem sie zu ihrem Vater aufschaut, so, dass sie noch heute in seiner Haltung »Wärme und Schutz« fühle, sie stelle sich vor, sie gehe an seiner Hand (siehe Foto unten). Wieder eine andere meinte, nicht so sehr als Kind, sondern erst später als Erwachsene, in einer Lebenskrise, habe sie um ihren Vater geweint: »Ich hatte Sehnsucht nach ihm und dachte: ›Hätte ich meinen Vater, er könnte mich in den Arm nehmen und mir sicher helfen‹. Noch heute sehne ich mich nach ihm und trauere um ihn.« Trauer und dar über hin aus eine grundlegende Traurigkeit scheinen wie Schatten auf dem Leben der vaterlosen Töchter zu liegen. Nicht nur die Trauer um seinen Verlust, sondern eine nur schwer zu bestimmende Traurigkeit hat zumindest eine prominente Tochter einer vaterlosen Tochter aus der Kriegsgeneration bereits einfühlsam beschrieben: Alexandra Senfft (Jahrgang 1961), die Enkelin Hanns Ludins, der 1941 bis April 1945 Gesandter und Bevollmächtigter Hitlers in der Slowakei gewesen und 1947 wegen Beteiligung an der Deportation slowakischer Juden als Kriegsverbrecher hingerichtet worden war. Alexandra Senffts Wahrnehmung ihrer vaterlos aufgewachsenen Mutter in ihrem Buch »Schweigen tut weh« aus dem Jahre 2007 bezieht sich ausdrücklich auf den soeben angedeuteten Widerspruch: Ihre Mutter habe zwar selbständig und selbstsicher gewirkt, sei es aber nicht wirklich gewesen; sie hatte, so Senfft wörtlich, »lebhafte Augen, hinter denen sich eine tiefe Sehnsucht und Traurigkeit« verbargen.23
Wann wurde und wird, so wäre zu fragen, bei den befragten vaterlosen Töchtern die Sehnsucht nach einem Vater, der sie »im Arm hält«, lebendig ? Zu vermuten ist, dass der Eindruck fehlender Väterlichkeit in ihrem Leben sich immer dann verstärkte, wenn sie in Auf-, Umbruch- und Entscheidungssituationen standen oder Krisen durchlebten. Im Rückblick sehen die Befragten das zumindest mehrheitlich so, oft gepaart mit der Sehnsucht, wenigstens etwas von der vermissten väterlichen Nähe und Stärke beim Lesen seiner Briefe oder durch den Besuch seines Grabes stillen zu können.