Die Menschwerdung Gottes beschert uns ein schönes Fest, das alle Welt kennt und viele Menschen feiern, nicht nur die sich zum menschgewordenen Gott bekennenden Christen.
Verbunden ist das Fest mit der Sehnsucht nach heiler und friedlicher Welt, nach Idylle, in Zeiten vieler zerrissener Familien nicht zuletzt nach Familienidylle. Auf den ersten Blick entspricht das Titelbild von Otto Dix (Die Familie des Kunst- lers von 1927) dieser Erwartung. Zugleich bricht das Bild die von ihm evozierte Stimmung durch überzeichnete Physiognomien und die Nelke, die Tochter Nelly dem Betrachter entgegenstreckt, das Symbol für die Gottesmutter Maria und die Passion ]esu in der Bildtradition altdeutscher Meister. Menschwerdung ist mehr als "nur" die Geburt ]esu. Der Weihnachtsfestkreis vergegenvvärtigt die Menschwerdung Gottes in diese, nicht in eine idealisierte Welt.
Was Matthäus- und Lukasevangelium in religionspädagogisch gut verwertbaren Geschichten mit großer Wirkungsgeschichte erzählen, bringt das Johannesevangelium in theologischer Sprache knapp auf den Punkt: "Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns Wohnung genommen" (Joh 1,14). Das kreative Wort Gottes, das nach Joh 1,1 am Anfang war, wird auch am Ende sein: "Seht, ich mache alles neu." (Offb 21,5). Menschwerdung Gottes bedeutet also keine Abwertung des Wortes als Selbstmitteilung Gottes, sondern fügt eine neue Qualität zu.
Wie der Glaube, dass der Mensch, und nur der Mensch, von Gott durch das Wort nach seinem Bild geschaffen ist, das Verhältnis des Glaubenden zu Gott und der Welt verändert, so prägt der Glaube, dass Gott Fleisch wurde und damit für Menschen sichtbar und erfahrbar, seinerseits die Beziehung des Glaubenden zu Gott und zur Welt. Die Grundvollzüge einer Gemeinschaft, die die Selbstmitteilung Gottes im Fleisch glaubt, nimmt Klaus von Stosch in seinem Beitrag in den Blick. Wie die Fleischwerdung des Wortes die Sicht auf diese Welt veränderte, darauf gibt der Beitrag von Ralf Miggelbrink Antworten. Den exegetischen Befund der biblischen und im Umfeld der Bibel entstandenen Texte zur Menschwerdung Gottes in lesus von Nazaret trägt Hubert Ritt zusammen.
Der Glaube, dass der ]ude lesus der Sohn Gottes ist, trennt Christen nicht nur von unseren älteren Schwestern und Brüdern im Glauben an den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, sondern auch von den Muslimen. Trennendes und Verbindendes beschreibt Andreas Renz in seinem theologischen Beitrag; Jörg Ballnus stellt eine Lernsequenz vor, die es Schülerinnen und Schüler auch im katholischen Religionsunterricht möglich macht, die Geburt Jesu aus der islamischen Perspektive in den Blick zu nehmen.
Auf die Suche nach der persönlichen Bedeutung des Weihnachtsfestes hinter heutiger Feierkultur machen sich die beiden folgenden Lernsequenzen: Matthias Soika eröffnet Möglichkeiten, wie jüngere Schüler sich der lukanischen Weihnachtsgeschichte ungewohnt nähern und mit ihr kreativ auseinandersetzen können; Matthias Pfeufers Lernsequenz hebt den Vorhang von Werbung und Kommerzialisierung vor dem Weihnachtsfest und spürt den theologischen Gründen des schönen Brauchs des Beschenkens nach.
Das Wort ist Fleisch geworden. Welche literarische Gattung wäre zur performativen Aussage besser geeignet als die des Dramas, wo geschriebenes Wort zu gesprochenem Wort und Handlung wird. Die Form, in der Dramen heute am häufigsten miterlebt werden, ist der Film. Diese Kunstform bietet sich daher ideal an, urn die Botschaft der Menschwerdung Gottes neu darzustellen. Christian Cebulj hat dazu Atom Egoyans Film ,,Simons Geheimnis“ ausgesucht und dazu eine Lernsequenz erarbeitet. Grundsätzliches zum Einsatz von Jesusfilmen im Religionsunterricht erwägt Thomas Nauerth.
Zwei Lernsequenzen für die Qualifikationsstufe der Sek. II stellen den Bezug der Menschwerdung zum Christologiekurs her: Esther Hardebuschs Sequenz zum ,,No-name-Tischler aus Galiläa" bietet einen zeitgeschichtlich-exegetischen Zugang, Jan Woppowas Sequenz zur Chalkedon-Formel einen systematischen und ästhetischen.
Dieses Heft versucht, wie das von August Heuser interpretierte Bild von Piero della Francesca, neue Perspektiven auf das Mysterium der Menschwerdung Gottes zu eröffnen und den Folgen nachzuspüren. Es will die Leserinnen und Leser motivieren, gemeinsam mit jungen Menschen im Religionsunterricht der Frage nachzugehen: Was bedeutet mir dieses Heilsereignis der Menschwerdung Gottes?
Winfried Verburg
Inhaltsverzeichnis
Editorial . . . 1
THEOLOGISCHE GRUNDLEGUNGEN
Klaus von Stosch
Ekklesiologische Konsequenzen der Inkarnation. . . 4
Ralf Miggelbrink
Inkarnation als Schlüsselbegriff christlicher Weltdeutung . . . 7
Hubert Ritt
Menschwerdung Gottes in biblischen Texten
und außerbiblischen Kontexten. . . . 11
Andreas Renz
Der Glaube an den Mensch gewordenen Gottessohn
aus jüdischer und islamischer Sicht . . . 15
UNTERRISCHTSMODELLE
Jörg Ballnus
Die Geburt Jesu im Koran.
Eine Lernsequenz für die Jahrgangsstufen 7/8
aus islamischer Perspektive . . . 18
Matthias Soika
„Zu Bethlehem geboren ist uns ein Kindelein“ –
Was bedeutet mir die Weihnachtsgeschichte?
Eine Handlungs- und produktionsorientierte Unterrichtsreihe.
Mit kreativen Modulen die Weihnachtsgeschichte für
Schülerinnen und Schüler der 5./6. Klasse erschließen . . . 21
Matthias Pfeufer
Aufräumen mit Christkind, Weihnachtsmann & Co? . . . 26
Thomas Nauerth
Menschwerdung Jesu –
Der Jesusfilm als Medium im Unterricht. . . . 34
Christian Cebulj
Mensch-Werdung im Film „Simons Geheimnis“ . . . 39
Esther Hardebusch
Ein No-Name-Tischler aus Galiläa als Gottes Sohn.
Zeitgeschichtlicher Zugriff auf die Darstellung Jesu
als Sohn Gottes im Markusevangelium.
Unterrichtssequenz für den Religionsunterricht
der Oberstufe des Gymnasiums . . . 44
Jan Woppowa
Erkennst du die Wahrheit? Die Formel von Chalkedon
als Basis eines Christologiekurses.
Eine Lernsequenz für den Religionsunterricht
in der Oberstufe (11./12. Jahrgang) des Gymnasiums. . . . 50
UNTERBRECHUNG
August Heuser
Ein Weihnachtsbild
Piero della Francesca: Die Fleischwerdung des Wortes . . . 32
REZENSIONEN UND MEDIENTIPPS. . . 59
VORSCHAU. . . 64