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Qualitätsunterschiede Kulturphänomenologie als kritische Theorie
Qualitätsunterschiede
Kulturphänomenologie als kritische Theorie




Ralf Becker

Meiner Hamburg
EAN: 9783787339631 (ISBN: 3-7873-3963-9)
205 Seiten, kartoniert, 13 x 21cm, März, 2021

EUR 22,90
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Quantifizierung und Digitalisierung sind im Alltag wie als wissenschaftliche Methoden extrem erfolgreich, doch dabei gerät in den Hintergrund, was sich der Messung und Berechnung widersetzt: qualitative Unterschiede. Um diese geht es aber in der Philosophie.

Ralf Becker stellt genau solche Qualitätsunterschiede in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen: Farbe und Wellenlänge, Leben und unbelebte Materie, Teil und Ganzes, natürliche und kulturelle Tatsachen, Maßnehmen und Maßhalten. Die in seiner Analyse zur Anwendung kommende Kulturphänomenologie geht von der Wissenschaft als einer kulturellen Praxis aus, die in eine lebensweltliche Praxis des Unterscheidens eingebettet ist. Von diesem außerwissenschaftlichen praktischen Unterscheidungswissen bleibt auch die Naturwissenschaft methodisch abhängig. Zugleich bestimmt jedoch das Bild, das Menschen insbesondere von den Naturwissenschaften haben, das Bild, das sie sich von sich selbst und ihrer Stellung in der Welt machen. Die Rekonstruktion des methodischen Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Wissenschaft und Lebenswelt, die Beckers Buch leistet, hat daher auch die kritische Funktion, das positivistische und szientistische Selbstmissverständnis über sich selbst aufzuklären.
Rezension
„Die mathematische Verfahrensweise wurde gleichsam zum Ritual des Gedankens. Sie macht das Denken zur Sache, zum Werkzeug.“, schrieben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno schon 1944 in ihrer „Dialektik der Aufklärung“. Sie kritisieren in ihrem Klassiker der Kritischen Theorie die Mathematisierung der Welt. Gegenwärtig scheint diese in Form von Digitalisierung und in der Metrifizierung des Sozialen ihren Höhepunkt zu erreichen. Umso verdienstvoller sind daher Bücher, welche die omnipräsente Nivellierung des Qualitativen zugunsten des Quantitativen problematisieren.
Dazu zählt auch die Monographie „Qualitätsunterschiede. Kulturphänomenologie als kritische Theorie“ von Ralf Becker (*1975), erschienen im Felix Meiner Verlag. Fünf der elf Kapitel des Buches basieren auf überarbeiteten Fassungen von bereits publizierten Aufsätzen des Philosophieprofessors an der Universität Koblenz-Landau. Er bestimmt Philosophie als das „Studium von Qualitätsunterschieden“(S. 9). Von diesen beleuchtet er in seinen Ausführungen u.a. die zwischen: Leben und unbelebter Materie, Natur und Geist, natürlichen und kulturellen Tatsachen, Teil und Ganzes. Mit der Herausarbeitung von Qualitätsunterschieden liefert Becker eine differenzierte Phänomenologie der am Paradigma der Mathematik orientierten Weltauffassung, welche gegenwärtig universelle Geltungsansprüche erhebt. Dabei bedient er sich eines bestimmten Ansatzes einer Kulturphänomenologie, welchen er als „kritische Wissenschaftsphilosophie“(S. 46) begreift.
In seinen Ausführungen erinnert Becker gegenüber einem positivistischen bzw. szientistischen Wissenschaftsideal mit guten Argumenten an das lebensweltliche Apriori und damit an das lebensweltliche bzw. Sinn-Fundament auch der Naturwissenschaften. Der Philosophieprofessor sieht sich so einem „moderaten Kulturalismus“ verpflichtet. Ihm gelingt es, differenziert die Mythisierung von Zahlen und die Orientierungen am mathematischen Erkenntnisideal in Physik und Biologie aufzuzeigen. Bei seinen philosophischen Untersuchungen zur Erschließung der Gegenwart demonstriert er zugleich die Fruchtbarkeit von Husserls Phänomenologie, der Hermeneutik von Dilthey und Misch, der Anthropologie Plessners sowie der Kulturphilosophie Cassirers. Aufgrund der „Ambivalenz der Mathematisierung“(S. 30) plädiert Becker für eine Reaktualisierung der zentralen Differenz zwischen Verstand und Vernunft, oder in seinen Worten für die kategoriale Unterscheidung zwischen „Maßnehmen und Maßhalten“(S. 176): „Maß nehmen wir mit Hilfe des Verstandes, die Vernunft dagegen gibt Maße, die wir zu halten haben.“(S. 177) Lehrkräfte der Fächer Philosophie, Ethik und auch Mathematik werden durch sein Buch motiviert, sich in ihrem Fachunterricht oder in einem fächerübergreifenden Projekt, mit der Mathematisierung der Welt problemorientiert auseinanderzusetzen.
Fazit: Ralf Becker leistet mit seiner Abhandlung „Qualitätsunterschiede“ einen wichtigen Beitrag zur philosophischen Gegenwartsdiagnostik.

Dr. Marcel Remme, für lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Ralf Becker stellt genau solche Qualitätsunterschiede in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen: Farbe und Wellenlänge, Leben und unbelebte Materie, Teil und Ganzes, natürliche und kulturelle Tatsachen, Maßnehmen und Maßhalten. Die in seiner Analyse zur Anwendung kommende Kulturphänomenologie geht von der Wissenschaft als einer kulturellen Praxis aus, die in eine lebensweltliche Praxis des Unterscheidens eingebettet ist. Von diesem außerwissenschaftlichen praktischen Unterscheidungswissen bleibt auch die Naturwissenschaft methodisch abhängig. Zugleich bestimmt jedoch das Bild, das Menschen insbesondere von den Naturwissenschaften haben, das Bild, das sie sich von sich selbst und ihrer Stellung in der Welt machen. Die Rekonstruktion des methodischen Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Wissenschaft und Lebenswelt, die Beckers Buch leistet, hat daher auch die kritische Funktion, das positivistische und szientistische Selbstmissverständnis über sich selbst aufzuklären.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung 9
Qualitätsunterschiede 9
Gegenwartsdiagnostik 11
Qualitätsunterschiede II 17
Gegenwartsarchäologie 21
Lebensweltapriori 26
Übersicht 29
Kapitel 1: Kulturphänomenologie als kritische Theorie 31
Phänomenologie der kulturellen Praxis 31
Kulturphänomenologie und Methodischer Kulturalismus 37
Kulturphänomenologie und Kritische Theorie 40
Wissenschaftsphilosophie als Wissenschaftskritik 46
Kapitel 2: Zahlen – vom Mythos zum Logos und zurück 51
Mythos 51
Vom Mythos zum Logos 54
Logos 57
Vom Logos zum Mythos 59
Mythos 62
Kapitel 3: Phänomenologie der Übergänge 67
Vom Bekannten zum Unbekannten : Technik im Übergang 67
Vom Mittel zur Norm : Ethiko-Teleologie der Technik 69
Von der Praxis zur Theorie : die Sinnverschiebung 72
Von Energie zu Information : die Mathematisierung der Kultur 76
Vom Selbstverständlichen zum Selbstverständnis : eine Mathematik vom Menschen 81
Kapitel 4: Exkurs : Kant und die Außerirdischen 87
Kapitel 5: Abgrenzungsprobleme zwischen Physik und Biologie 97
Formbeschreibung und Kausalerklärung 97
Zur Logik der lebendigen Form und der Lebenswissenschaften 101
Die Autonomie der Erscheinung : Faktor und Modal 103
Das Beispiel der Bierhefe 107
Leben als normative Qualität 108
Kapitel 6: Das Sinnfundament der Lebenswissenschaften 111
Fundierungszusammenhänge 111
Natur als angewandte Mathematik 113
Belebte Natur als angewandte Informatik 115
Lebensform und lebendige Form 118
Der Primat der Poiesis 122
Kapitel 7: Die Idee einer verstehenden Lebenswissenschaft 125
Die Berechenbarkeit des Lebens 125
Lebensbegriff und Lebensführung 128
»Leben versteht Leben« : Naturalisierung der Hermeneutik 130
Was ist Leben ? 133
Was ist der Mensch ? 135
Natur und Geist 137
Kapitel 8: Das Ganze und seine Teile 139
Der Teil und das Ganze 139
Element und Ingredienz 142
Fragment und Komponente 146
Moment und Stück 150
Emergenz und Holismus 153
Kapitel 9: Natürliche und kulturelle Tatsachen 157
Die Kulturabhängigkeit natürlicher Tatsachen 157
Das naturalistische Missverständnis 161
Das kulturrelativistische Missverständnis 165
Methode und Sein 168
Natürliche und kulturelle Tatsachen 157
Unbenannt 157
Schluss: Maßnehmen und Maßhalten 171
Danksagung 178
Nachweise 179
Anmerkungen 181
Personenregister 203