lehrerbibliothek.deDatenschutzerklärung
Literatur des Expressionismus  Reihe: Sammlung Metzler, Band 329
2., aktualisierte und erweiterte Auflage
Literatur des Expressionismus


Reihe: Sammlung Metzler, Band 329

2., aktualisierte und erweiterte Auflage



Thomas Anz

Verlag J. B. Metzler
EAN: 9783476123299 (ISBN: 3-476-12329-4)
281 Seiten, paperback, 12 x 19cm, 2010

EUR 14,95
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Die kulturrevolutionäre Bewegung des Expressionismus erfasste zwischen 1910 und 1920 alle Künste und blieb für das ganze 20. Jahrhundert von herausragender Bedeutung. Nach einer Klärung der Begriffe >Expressionismus<, >Moderne< und >Avantgarde< informiert diese Einführung über typische Themen, Motive, Formen und ästhetische Konzepte expressionistischer Literatur und Kunst. Der Autor berücksichtigt dabei Debatten über die Moderne und Postmoderne ebenso wie gegenwärtige Fragestellungen der Kulturwissenschaften.
Rezension
Diese Darstellung führt in alle wichtigen Begriffe, Themen und Konzepte der Literatur des Expressionismus ein. Verständlich werden grundlegende Kenntnisse der literarischen Avantgarde zwischen 1910 und ca. 1920/1925 vermittelt. Nach einer Verortung des Expressionismus in der Moderne
werden kompakt und präzise die zentralen Themen und Tendenzen der Epoche herausgearbeitet mit ihren Schlüsselbegriffen und Schlüsselfiguren, aber auch mit dem Verhältnis zur Politik und dem durchaus ambivalenten Verhältnis zur Moderne. Ästehtik und Poetik bilden das 3. Kapitel, bevor ein abschließender Ausblick Bilanz zieht und die Expressionismusrezeption darstellt.

Oliver Neumann, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Das beliebte Standardwerk jetzt aktualisiert und erweitert
Alle wichtigen Begriffe, Themen und Konzepte
Neu in der 2. Auflage: Überblick über die jüngste Forschung

Autor
Thomas Anz (geb. 1948) ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Marburg.

Prägende Bewegung des frühen 20. Jahrhunderts. Der Band informiert über die zentralen Themen und Motive der expressionistischen Literatur und Kunst. Insbesondere im Blick sind die Spannungen zwischen zivilisatorischen Modernisierungsprozessen und ästhetischer Moderne mit ihren poetologischen Konsequenzen. Resümiert wird auch die aktuelle Forschung, wie z.B. die Postmoderne-Diskussionen, die Debatten über das Verhältnis von ästhetischer Moderne und totalitären Systemen oder jüngste Fragestellungen der Kulturwissenschaften.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur zweiten Auflage V
Vorwort zur ersten Auflage VII

I. Expressionismus und Moderne 1

1. Vorbemerkungen: »Entartete Kunst« 1
2. Begriffsklärungen und erste Einblicke 2
2.1 Expressionismus 2
2.2 Moderne und Avantgarde 11
2.3 Zivilisatorische und ästhetische Moderne 18
3. Soziologie einer Subkultur 24
3.1 Gruppierungen und Milieus 24
3.2 Alter, Bildung, Ethnizität und Geschlecht 31
3.3 Medien und Öffentlichkeit 36

II. Themen und Ordnungen der Diskurse 45

1. Schlüsselbegriffe und Leitdifferenzen 45
1.1 Der neue Mensch: Weltende, Wandlung und Utopie 45
1.2 Leben 50
1.3 Geist 61
1.4 Masse und Mensch, Entfremdung und Gemeinschaft 67
2. Schlüsselfiguren 76
2.1 Bürger und Künstler 76
2.2 Väter und Söhne 80
2.3 Irre 84
2.4 Kranke 90
2.5 Tiere 94
2.6 Gefangene 98
3. Unbehagen in der Moderne 101
3.1 Großstadt und Massenmedien 101
3.2 Exkurs: Modernität des Expressionismus und philosophische Postmoderne 109
3.3 Wissenschaft, Rationalität und Sprache 112
3.4 Technik 118
3.5 Apparate der Bürokratie 125
4. Literatur und Politik 129
4.1 Aktivismus 129
4.2 Krieg 134
4.3 Revolution 144

III. Ästhetik und Poetik 150

1. Synästhetik: Gesamtkunstwerk, Intermedialität, Theatralisierung 150
2. Wortkunst und Abstraktion 157
3. Pathos, Erlebnis und emotionale Kommunikation 162
4. Negative Ästhetik des »Abjekten«: das Hässliche und Groteske 166
5. Simultanität und Parataxe 175
6. Gattungspoetik: Lyrik, Prosa, Drama 180

IV. Ausblicke: Expressionismusrezeption und Bilanz 195

Literaturverzeichnis 209
Personenregister 265



Leseprobe:
I. Expressionismus und Moderne
1. Vorbemerkungen: »Entartete Kunst«
1925 erschien der erste Band einer später in zahllosen Aufl agen
nachgedruckten Kampfschrift. Ihr Autor war 1889 geboren und
gehörte somit zumindest dem Alter nach der ›expressionistischen
Generation‹ an. Ein erfolgloser Künstler machte in dieser Schrift
der erfolgreicheren Kunst der Moderne den Prozess, sprach von den
»krankhaften Auswüchsen irrsinniger und verkommener Menschen,
die wir unter dem Sammelbegriff des Kubismus und Dadaismus seit
der Jahrhundertwende kennenlernten«. Er schrieb von den »Wucherungen
«, »geistigen Degeneraten«, »Halluzinationen von Geisteskranken
oder Verbrechern« und von der Aufgabe »der Staatsleitung,
zu verhindern, daß ein Volk dem geistigen Wahnsinn in die Arme
getrieben wird.« Die »Krankheit« der modernen Kunst galt dem Kulturkritiker
freilich nur als Zeichen einer weit umfassenderen Zeitkrankheit,
»einer Erkrankung der sittlichen, sozialen und rassischen
Instinkte«. Und wer sich solchen Erkrankungen überlasse, der habe
sein Lebensrecht verwirkt. In dem Buch steht der durch Sperrdruck
hervorgehobene Satz: »Wenn die Kraft zum Kampfe um die eigene
Gesundheit nicht mehr vorhanden ist, endet das Recht zum Leben
in dieser Welt des Kampfes.«
Diese Sätze stehen in Adolf Hitlers Mein Kampf (Hitler 1925,
S. 282-288). Und wir wissen, dass Hitler später seine Drohungen aus
dem Jahr 1925 auf furchtbare Weise in die Tat umsetzte. Die Künstler
und die Kunst der Moderne hatten nach seiner Machtergreifung
am 30. Januar 1933 ihr Lebensrecht in Deutschland verloren. 1937
arrangierten die Nationalsozialisten in München die Ausstellung
»Entartete Kunst«. Ausgestellt wurden hier viele Kunstwerke auch
des Expressionismus. Der deutschen Bevölkerung sollte vor Augen
geführt werden, dass diese Kunstwerke Produkte von Geisteskranken,
Bolschewisten und Juden waren und daher in Deutschland kein
Existenzrecht hätten. Der modernen Literatur hatte man schon vier
Jahre vorher den Prozess gemacht. Am 10. Mai 1933 wurden in
vielen deutschen Städten als Höhepunkt einer »Aktion wider den
undeutschen Geist« Zehntausende von Büchern verbrannt. Wieder
waren es bevorzugt literarische Werke aus dem Umkreis des Expressionismus,
die hier vernichtet wurden.
2
Keine Schriftstellergeneration in diesem Jahrhundert hat unter
der Geschichte so sehr gelitten wie die expressionistische. Von den
Nationalsozialisten als »entartet« diffamiert und verfolgt, gehen die
meisten nach 1933 einen Weg, der in Todeslagern, mit dem Freitod
oder im lange währenden Exil endet. Die Todesdaten und Todesarten
sprechen für sich (Raabe 1985, S. 602ff.).
In Konzentrations- und anderen Vernichtungslagern kamen um:
Erich Mühsam (1934), Hermann von Boetticher (1941), Paul Kornfeld
(1942), Jakob van Hoddis (1942), Otto Freundlich (1943), Ite
Liebenthal, Walter Serner, Arthur Ernst Rutra, Alfred Grünewald
(alle 1943 oder 1944), Kurt Finkenstein (1944), Emil Alphons
Rheinhardt (1945).
Hingerichtet wurden: Felix Grafe (1942), Alexander Bessmertny
(1943), Theodor Haubach (1945).
Das Leben nahmen sich: Reinhard Goering (1936 bei Jena),
Ernst Toller (1939 in New York), Richard Oehring (1940 in Holland),
Ernst Weiß (1940 in Paris), Walter Hasenclever (1940 in Les
Milles), Carl Einstein (1940 bei Pau), Arthur Kronfeld (1941 in
Moskau), Alfred Wolfenstein (1945 in Paris).
Zwischen 1933 und 1945 sind etwa zwanzig weitere Autorinnen
und Autoren in der Emigration beziehungsweise im Ausland gestorben,
nach 1945 weit mehr. Viele von ihnen waren nach Kriegsende
aus dem Exil nicht mehr zurückgekehrt. Mit der Vernichtung und
Vertreibung der Juden ging in Deutschland auch die Vernichtung
und Vertreibung des Expressionismus einher.
Der »Führer durch die Ausstellung Entartete Kunst« von 1937 ist faksimiliert
in Roh 1962; vgl. dazu auch Barron 1992 und Zuschlag 1995. Eine
Dokumentation zur Bücherverbrennung von 1933 enthält Sauder 1983. Zu
den Diskursen der Antimoderne siehe Bollenbeck 1999; zur Diskussion über
das Verhältnis zwischen Expressionismus und deutschem Faschismus siehe
S. 198-201 in diesem Band.
2. Begriffsklärungen und erste Einblicke
2.1 Expressionismus
Der Begriff ›Expressionismus‹ ist keine nachträgliche Erfi ndung
zur Bezeichnung einer kunst- und kulturrevolutionären Bewegung,
sondern ziemlich exakt so alt wie diese selbst. Die aufschlussreiche
Geschichte des Begriffs hat in ihren Anfängen gewichtigen Anteil an
der Konstitutierung, am Erfolg und an den permanenten Selbstbe-
Expressionismus und Moderne
3
schreibungen dieser Bewegung. Ihren innovativen Ansprüchen kam
die Neuheit des Begriffs entgegen. Die Wortbildung mit dem Suffi x
»-ismus« wiederum erlaubte in optimaler Weise, an jene »Ismen«, die
vor und um 1900 zirkulierten, anzuknüpfen und sich zugleich ihnen
gegenüber zu profi lieren: Realismus, Naturalismus oder vor allem
Impressionismus. Die Durchsetzungskraft des Begriffs war langfristig
so stark, dass Literaturhistoriker ihn noch heute relativ unumstritten
verwenden. Der im Jahr 2000 erschienene Band 7 von Hansers Sozialgeschichte
der deutschen Literatur ist dafür eines der jüngsten Beispiele.
Der dritte Teil trägt den Titel »Das expressionistische Jahrzehnt«.
Vereinzelte Verwendungen der Bezeichnung ›Expressionist‹ vor
diesem Jahrzehnt im angelsächsischen Sprachraum, in Frankreich
und auch in Deutschland (vgl. Arnold 1966, S. 9-15) blieben unkonturiert
und historisch folgenlos. Als Schlagwort für neueste Tendenzen
in der Malerei der jüngsten Künstlergeneration, die sich gegen
den Impressionismus und auch gegen den Naturalismus richteten, ist
die Bezeichnung ›Expressionismus‹ in Vorworten von Ausstellungskatalogen
und kunstkritischen Essays seit 1911 nachgewiesen. Den
bislang frühesten schriftlichen Beleg für diese Begriffsverwendung
hat man im Vorwort zum Katalog der XXII. Ausstellung der Berliner
Secession gefunden, die im April 1911 eröffnet wurde. »Ferner haben
wir«, so heißt es da, »noch eine Anzahl jüngerer französischer
Maler, der Expressionisten, untergebracht, die wir glaubten, nicht
dem Publikum und namentlich nicht den Künstlern vorenthalten
zu dürfen« (S. 11). Die Besprechungen zu dieser Ausstellung griffen
den im Katalog gefundenen Begriff wiederholt auf und sorgten
damit für seine bemerkenswert rasche Verbreitung. So auch die des
Lyrikers und Kunstschriftstellers Walther Heymann, die im Juli 1911
in Herwarth Waldens Berliner Zeitschrift Der Sturm erschien. Der
Artikel erwähnt in dieser Zeitschrift, die später eine Art Alleinvertretungsanspruch
des Expressionismus für sich reklamierte, das Wort
zum ersten Mal:
Um Verklärung, Steigerung, Ausdruckskraft, Expression geht dies allgemeine
Ringen. [...] Das Zimmer der Expressionisten ist während dieser Ausstellung
ein Schauplatz des Elements unserer künstlerisch-kulturellen Zustände geworden.
Alles Talente von gut durchschnittlicher Begabung, alle etwas durch
Fanatismus der Theorien verwildert; Kenner versicherten mir, es gäbe bedeutendere
Kräfte dieser Bewegung im Ausland. Und warum lud man nicht
lieber die besten Einheimischen ein, einen Pechstein, einen Melzer. Da hatte
die Jury wohl Hintergedanken (Heymann 1911, S. 543).
Zu den durchschnittlichen Begabungen, von denen hier die Rede
ist und die in dem gesonderten Expressionisten-Zimmer der ansons-
Begriffsklärungen und erste Einblicke
4
ten durch führende Impressionisten geprägten Ausstellung präsentiert
wurden, gehörten keine Geringeren als Georges Braque, André
Dérain, Raoul Dufy, Albert Marquet, Pablo Picasso und Maurice
de Vlaminck. Die »Einheimischen«, die die neueste Kunstrichtung
auch hätten dokumentieren können und die Heymann vermisste,
waren in der Ausstellung deshalb nicht vertreten, weil sie sich 1910
von der Berliner Sezession getrennt und die »Neue Sezession« gebildet
hatten, nachdem ihre Bilder von der alten, schon nicht mehr
innovationswilligen Sezessions-Jury abgewiesen worden waren. Um
1910 waren nicht mehr, wie noch um die Jahrhundertwende, die
aus den konventionellen Standesorganisationen ausgebrochenen »Sezessionen
« treibende Kräfte innovatorischer Bewegung, sondern die
»Neuen Sezessionen«, die an ihnen maßgeblich beteiligten Künstlergemeinschaften
»Brücke« (1905 in Dresden gegründet) und »Neue
Künstlervereinigung München«, die sich von dieser Ende 1911 abspaltende
Gruppe »Der Blaue Reiter« sowie der 1910 mit seiner ersten
Ausstellung hervortretende »Sonderbund westdeutscher Künstler
und Kunstfreunde«.
Eine Berliner Kunstausstellung war es also, die den Expressionismus-
Begriff in Umlauf brachte. Er etikettierte zunächst vornehmlich
die französischen Fauves und Kubisten, wurde indes auch für
jene deutschen Künstler als treffend empfunden, die sich 1910 in
der »Neuen Sezession« organisiert hatten. Ein Artikel über diese war
es denn auch, der in Franz Pfemferts Berliner Zeitschrift Die Aktion
den ersten erläuternden Verweis auf den »Expressionismus« brachte.
Walter Serner, der spätere Dadaist, hat ihn geschrieben. Er konstatierte
in der jüngsten Kunstszene der europäischen Großstädte einen
»gemeinsamen Trieb, der überall zugleich hervorbricht. Das neue
Kunstbedürfnis, das er entfacht, hat in den Ausstellern der Neuen
Sezession seine Berliner Exponenten und bekam von der leidigen Etikettierungssucht,
die mit Richtungen arbeitet und mit einer Registratur,
bereits ein Mäntelchen: Expressionismus« (Serner 1912, Sp. 174).
Der Expressionismus in der Kunst wurde rasch als internationales
Phänomen eingeschätzt. Schon im Mai 1912 setzte sich die
Sonderbund-Ausstellung in Köln das Ziel,
einen Überblick über den Stand der jüngsten Bewegung in der Malerei [zu]
geben, die nach dem atmosphärischen Naturalismus und dem Impressionismus
der Bewegung aufgetreten ist und nach einer Vereinfachung und Steigerung
der Ausdrucksformen, einer neuen Rhythmik und Farbigkeit, nach
dekorativer oder monumentaler Gestaltung strebt, einen Überblick über
jene Bewegung, die man als Expressionismus bezeichnet hat. Die jüngeren
Künstler fast aller europäischen Kulturländer haben sich dieser Bewegung
angeschlossen (zit. nach Anz/Stark 1982, S. 15f.).
Expressionismus und Moderne
5
Zu diesem Zeitpunkt war ›Expressionismus‹ innerhalb der deutschen
Kunstprogrammatik und -kritik bereits ein weit verbreiteter Begriff,
der offensichtlich auch als werbewirksam galt: Der Piper Verlag, der
die neueste Kunst maßgeblich förderte, empfahl in einer Anzeige
auf der letzten Seite seines Almanachs Der blaue Reiter (Mai 1912)
Kandinskys im Januar erschienene Schrift Über das Geistige in der
Kunst mit einem Rezensionsauszug aus dem Mannheimer Tageblatt:
»Das Programm des Expressionismus wird in ihr entwickelt, derjenigen
Kunstrichtung, die die Verinnerlichung, Vergeistigung der Kunst
(und besonders der Malerei) verlangt und als oberstes Gesetz die
Notwendigkeit des Gemalten hinstellt.« Der Almanach selbst verwendet
den Begriff noch nicht, doch in einer Fußnote der 2. Auflage
spielt Kandinsky offen auf ihn an, wenn er von der »Neigung«
schreibt, »Natur nicht als äußerliche Erscheinung darzustellen, sondern
überwiegend das Element der inneren Impression, die kürzlich
Expression genannt wurde, kundzugeben« (Kandinsky 1970, S. 96).
Im Piper Verlag erschien 1914 die erste Monographie (von Paul
Fechter), die den Begriff im Titel verwendete. Spätestens zu diesem
Zeitpunkt war er in den Diskursen über die jüngste Kunst fest etabliert.
In denen über die damals jüngste Literatur hat es nur wenig
länger gedauert.
Was die Literatur angeht, so wurde der Begriff ›Expressionismus‹
nicht nur, wie in der Kunst, von Berlin aus verbreitet, sondern
er bezog sich zunächst auch auf Berliner Autoren: auf die »Jüngst-
Berliner«, wie Kurt Hiller, einer der damals rührigsten Verfasser programmatischer
Schriften, sie im Juli 1911 in einem Zeitungsartikel
nannte. Schon drei Monate nach der ersten nachweislichen Begriffsverwendung
im Bereich der Malerei übertrug Hiller in diesem Artikel
das Wort auf die Literatur. »Expressionisten« nannte er hier eine
literarische »Clique [...], die sich, in Berlin, gegenwärtig für die neue
Generation hält« (Hiller 1911, S. 33). Gemeint waren die Mitglieder
des im März 1909 gegründeten und von Hiller präsidierten »Neuen
Clubs« und des aus ihm 1911 hervorgegangenen »Neopathetischen
Cabaretts«. Hier lasen unter anderen Ernst Blass, Jakob van Hoddis
und Georg Heym ihre Gedichte. Dieser literarische Klub und dieses
Kabarett, über die Richard Sheppard (1980 und 1983) mit zwei
Dokumentenbänden umfassend informiert, gelten als Keimzellen
der expressionistischen Literatur in Deutschland.
Durchsetzen konnte sich der Begriff im Hinblick auf Literatur jedoch
erst während des Krieges. Davor war man terminologisch noch
wenig festgelegt. Man sprach gleichermaßen von »futuristischer«,
»fortgeschrittener«, »neopathetischer«, »aktivistischer«, »expressionistischer
« oder »jüngster« Literatur. Anders als für den Sturm hatte
Begriffsklärungen und erste Einblicke
6
der Begriff, mit dem sich kein bedeutender Autor ganz identifi zieren
mochte, für damals maßgebliche Zeitschriften wie Die Aktion, Die
weißen Blätter (hg. von René Schickele) oder Das Forum (hg. von
Wilhelm Herzog) kein programmatisches Prestige. Separatistische
Neigungen einer anarchisch gesinnten Autorengeneration, das Insistieren
auf der »Freiheit eines Dichtermenschen« (Döblin 1918, S. 69)
sowie auf dem »Ziel, eigener, originaler, einmaliger Natur zu leben«
(Sternheim 1918, S. 68), standen der Übernahme eines kollektivierenden
Etiketts grundsätzlich entgegen. Schon 1912 hatte Döblin an
Marinetti den dafür bezeichnenden Satz gerichtet: »Pfl egen Sie Ihren
Futurismus. Ich pfl ege meinen Döblinismus« (Döblin 1989, S. 119).
Zu Vorbehalten gegenüber dem Begriff und seinen Inhalten hat
wohl auch beigetragen, dass ausgerechnet Hermann Bahr, der sich
seit über zwei Jahrzehnten gegenüber jedem neuen Trend allzu rasch
und lautstark aufgeschlossen zeigte, 1916 die erste Monographie mit
dem Titel Expressionismus vorlegte, die sich vor allem auf Literatur
bezog. Sie wurde gerade von jüngeren Autoren zum Teil heftig kritisiert
(Dokumente dazu in Pörtner 1960/61, Bd. 2, S. 195-204).
Dass sich ›Expressionismus‹ dennoch als Sammelbegriff für konkurrierende
Autoren und Gruppierungen innerhalb der jüngsten
Literatur durchsetzte, dazu trug maßgeblich Kasimir Edschmids
programmatische Rede »Expressionismus in der Dichtung« vom
13. Dezember 1917 bei. Der viel beachtete Abdruck im März-Heft
1918 der Neuen Rundschau leitete eine Expressionismus-Diskussion
ein, an der sich unter anderen Hermann Hesse und Alfred Döblin
mit wichtigen Beiträgen beteiligten (Nachdrucke in Anz/Stark 1982,
S. 42-55, 69-74, 86-90).
Die zeitgenössischen Versuche, konstitutive Bedeutungsmerkmale
des Begriffs zu fi xieren, unterschieden sich zum Teil erheblich,
doch kristallisierten sich relativ rasch ständig wiederkehrende
Stichwörter und sprachliche Wendungen heraus, mit denen der Expressionismus
stereotyp charakterisiert wurde. Man nannte ihn mit
Vorliebe eine »Bewegung« und grenzte diese vom Impressionismus
wie vom Naturalismus vor allem durch diverse Umschreibungen der
Merkmalsopposition ›aktiv‹ und ›passiv‹ ab. »Den Impressionismus
schreibt längst niemand mehr auf ein Panier«, schrieb 1913 Kurt
Hiller, der später den Begriff »Aktivismus« bevorzugte, in seiner
»Zeit- und Streitschrift« Die Weisheit der Langeweile. »Man stellt
sich unter ihm heut weniger einen Stil vor als eine unaktive, reaktive,
nichts-als-ästhetische Gefühlsart, der man als allein bejahbar
eine wieder moralhafte entgegensetzt (Gesinnung; Wille; Intensität;
Revolution); und man neigt dazu, den Stil, den diese neue Gefühlsart
erzeugt, wegen seiner konzentrierten Hervortreibung des volun-
Expressionismus und Moderne
7
tarisch Wesentlichen Expressionismus zu nennen« (Hiller 1913a,
S. 37). Mit Recht hob später einer der besten Kenner des Expressionismus,
Wolfgang Rothe (1979, S. 119ff.), die »voluntaristischen,
decisionistischen und aktivistischen Züge« des Expressionismus hervor,
die mit der Hochschätzung des Begriffs der ›Tat‹ und der Figur
des ›Täters‹ einherging und für die schon der Zeitschriftentitel Die
Aktion symptomatisch ist. Kasimir Edschmid machte seinerzeit in
der genannten Rede die aktivistischen Komponenten des Expressionismus
zur Abgrenzung vom Naturalismus und seinem »Photographieren
der Wirklichkeit« geltend:
Niemand zweifelt daran, daß das Echte nicht sein kann, was als äußere Realität
erscheint. Die Realität muß von uns geschaffen werden. Der Sinn des
Gegenstands muß erwühlt sein. Begnügt darf sich nicht werden mit der
geglaubten, gewähnten, notierten Tatsache, es muß das Bild der Welt rein
und unverfälscht gespiegelt werden. Das aber ist nur in uns selbst.
So wird der ganze Raum des expressionistischen Künstlers Vision. Er
sieht nicht, er schaut. Er schildert nicht, er erlebt. Er gibt nicht wieder, er
gestaltet. Er nimmt nicht, er sucht. Nun gibt es nicht mehr die Kette der
Tatsachen: Fabriken, Häuser, Krankheit, Huren, Geschrei und Hunger. Nun
gibt es die Vision davon. Die Tatsachen haben Bedeutung nur soweit, als
durch sie hindurchgreifend die Hand des Künstlers nach dem greift, was
hinter ihnen steht (Edschmid 1918, S. 46).
Künstlerisch aktive Konstruktion der Wirklichkeit steht hier erneut
gegen eine reaktive Unterordnung unter ihre nur scheinbare
Subjektunabhängigkeit und Dominanz. Zeitgleich mit der Phänomenologie
Edmund Husserls, auf die sich damals unter anderen Max
Picard in einem Vortrag über »Expressionismus« berief (Picard 1919)
und die 1925 Albert Soergels erste umfassende Darstellung des Expressionismus
zu dessen philosophischen Grundlagen rechnete (Soergel
1925, S. 394f.; vgl. dazu auch Fellmann 1982), charakterisierten
etliche Programme und Beschreibungen des ›Expressionismus‹ diesen
als einen künstlerischen Konstruktivismus. Picard schrieb ihm
eine die Komplexität der Wirklichkeit reduzierende Leistung zu,
eine »Tendenz zur Orientierung im Chaos«, und grenzte ihn damit
auch von der positivistischen Wissenschaft ab, an deren Prestige der
Naturalismus noch teilzuhaben versuchte. Die damit einhergehende
Kritik des Kausalitätsdenkens und der Psychologie artikulierte
sich in aufschlussreichen Argumentationen wie der folgenden:
Der Expressionist ist also nicht psychologisch, aber er ist psycho-analytisch.
Das ist kein Widerspruch. Im Gegenteil: Die Psychologie läßt von einem
Ding auf tausend Dinge gleiten, die Psycho-Analyse geleitet von tausend
Dingen zu einem. Sie sammelt tausend zerstreute Erlebnisse, bis sie sich in
Begriffsklärungen und erste Einblicke
8
eine Reihe ordnen und schließlich zu einem einzigen Erlebnis hinführen.
Dieses einzige Erlebnis erstrebt man, nach ihm orientieren sich alle andern;
das Chaos aber ist kleiner geworden, weil tausend Erlebnisse aus ihm gesichtet
und aus der Zerstreutheit um ein einziges Erlebnis gruppiert wurden
(Picard 1919, S. 570).
Eine wissenschaftskritische Stoßrichtung (s. S. 112 f.) hatte die konstruktivistische
Perspektive auch in einem der substantiellsten Beiträge,
die bis 1920 zum Expressionismus geschrieben wurden. Er
stammt von dem Dresdener Schriftsteller und Kunstkritiker Friedrich
Markus Huebner, der viel in expressionistischen Zeitschriften
publizierte und während des Kriegs, als Diplomat in Brüssel tätig, zu
einer zentralen Figur des Expressionismus in Belgien wurde (Roland
1999 u. 2009). Huebner stellte die konstruktivistischen Tendenzen
des Expressionismus in die philosophischen Kontexte von Schopenhauers
»Einsicht: ›die Welt ist unsere Vorstellung‹« (Huebner 1920,
S. 5) und von Hans Vaihingers Schrift Die Philosophie des Als Ob
(Berlin 1911). Und auch er verband die Distanz zum Naturalismus
mit der Skepsis gegenüber der positivistischen Wissenschaft des 19.
Jahrhunderts:
Der Expressionismus verhält sich gegenüber der Natur feindselig. Er aberkennt
ihre Übermacht; er zweifelt an ihrer »Wahrheit«. Er stellt fest, daß
auch die Wissenschaft nur ein Versuch der Ausdeutung ist, daß sie nicht unumstößliche
Erkenntnisse, sondern äußerst einwandzugängliche Hypothesen
liefert. Die Instrumente, die sich der Mensch erfi ndet, und mit denen er das
Leben zu greifen, die Wahrheit zu sieben hofft, sind ebenso viele Werkzeuge,
mit denen er sich hinter das Licht führt. Die Natur ist nicht ein objektiv
Unveränderliches und nichts Größeres als der Mensch. Sie bietet sich dar
für jede Art von Vorstellung; sie ist das Nichts und wird erst zu Form und
Gestalt durch den Menschen, der sie mit Sinn beseelt. Sie ist der unendlich
biegsame und knetbare Urstoff, in welchem alle Möglichkeiten schlummern.
Der Expressionismus glaubt an das Allmögliche. Er ist die Weltanschauung
der Utopie. Er setzt den Menschen wieder in die Mitte der Schöpfung,
damit er nach seinem Wunsch und Willen die Leere mit Linie, Farbe, Geräusch,
mit Pfl anze, Tier, Gott, mit dem Raume, mit der Zeit und mit dem
eigenen Ich bevölkere (Huebner 1920, S. 5).
Aktive Transzendierung der Wirklichkeit durch den Geist der Utopie
(Bloch 1918), »Wesensschau« (Husserl), Typisierung der dargestellten
Personen (s. S. 160), Ablehnung von Psychologie und Kausalitätsdenken,
Aufwertung elementarer Gefühle, Pathos (s. S. 162 f.),
Aktion sind ständig wiederkehrende Stichworte in den zeitgenössischen
Selbst- und Fremdbeschreibungen des Expressionismus.
Ihre literarhistorische Kanonisierung erfuhren sie 1925 zusammen
mit dem Begriff selbst in der monumentalen, 900 Seiten umfas-
Expressionismus und Moderne
9
senden Bestandsaufnahme von Albert Soergel. Sie blieb mit ihrem
Anspruch, »eine Einführung in die Entwicklung der deutschen Literatur
zwischen 1900 und 1920« zu geben und »zugleich eine Begriffsbestimmung
und -entwicklung dessen, was man sich gewöhnt
hat, mit dem vieldeutigen Worte Expressionismus zu bezeichnen«
(Soergel 1925, S. VII), in ihrem Kenntnis- und Materialreichtum
bis heute unübertroffen.
In der literaturwissenschaftlichen Forschung zur deutschen Literatur
zwischen 1910 und 1920, die seit der berühmten Ausstellung
in Marbach von 1960 kaum mehr überschaubare Dimensionen angenommen
hat, konnte sich der Begriff ›Expressionismus‹ bis heute
behaupten. Nach wie vor umstritten bleibt jedoch, was mit ihm bezeichnet
werden soll. Die zeitgenössischen Merkmalsbestimmungen
haben sich längst als viel zu begrenzt erwiesen. Weitgehend gescheitert
sind die Festlegungen auf einheitliche Stilformen. Wenig überzeugend
blieben auch die Versuche, den Expressionismus zu einem
internationalen oder gar überzeitlichen Phänomen zu erklären. Und
auch als eine ›Epoche‹ der deutschen Literaturgeschichte kann der
Expressionismus nur in eingeschränktem Sinn gelten. Das ›expressionistische
Jahrzehnt‹ war gekennzeichnet durch die Gleichzeitigkeit
des Ungleichen, war auch die Zeit eines noch keineswegs abgeschlossenen
Naturalismus, eines weiter wirksamen Ästhetizismus,
eines epigonalen Klassizismus oder der antimodernen Heimatkunst.
Zwischen 1910 und 1920 gehörten Hauptmann, Heinrich und Thomas
Mann, Hofmannsthal, Rilke, Hesse oder George weiterhin zu
den dominierenden Schriftstellerpersönlichkeiten – von Publikumslieblingen
wie Ganghofer, Rosegger, Frenssen oder Courths-Mahler
ganz abgesehen. Eine umfassende Literaturgeschichte dieser Zeit
hätte zu berücksichtigen, dass Carl Einsteins Roman Bebuquin oder
Die Dilettanten des Wunders oder Franz Jungs Erzählungen Das Trottelbuch
(die als expressionistisch gelten) im selben Jahr erschienen
wie Der Tod in Venedig (1912), Carl Sternheims Lustspiel Die Hose
im selben Jahr wie Hauptmanns Die Ratten oder Hofmannsthals
Jedermann (1911). Sie hätte neben dem Expressionisten-Verlag Kurt
Wolff ebenso den kulturkonservativen Eugen Diederichs Verlag mit
einzubeziehen, neben dem expressionistischen Aktions- oder dem
Sturm-Kreis auch den George-Kreis oder den Einzelgänger Kraus
und Die Fackel.
Der Expressionismus ist eine Konstruktion der Literaturgeschichtsschreibung.
Sie hat durch die Übernahme des historischen
Begriffs den Vorzug, an das Selbstverständnis und die Konstruktionen
jener vergangenen Kulturszenerie anknüpfen zu können, die
sie zu beschreiben versucht, ohne sich in der Gegenwart fest an sie
Begriffsklärungen und erste Einblicke
10
binden zu müssen. Zu den negativen Folgen der literarhistorischen
Kanonisierung des Expressionismus-Begriffs gehörte es allerdings,
den Blick auf das zu verstellen, was von dem Begriff ausgeschlossen,
aber zur gleichen Zeit geschrieben und gelesen wurde. Die mittlerweile
etablierte Rede von der ›Gleichzeitigkeit des Ungleichen‹ versucht
diesem Umstand Rechnung zu tragen, übersieht jedoch ihrerseits,
dass das vom Begriff Ausgeschlossene in vielen Aspekten dem
Expressionismus auch gleicht. Sogar ein Autor wie Thomas Mann,
den niemand als expressionistisch bezeichnen würde, auch deshalb
nicht, weil er sich in den Betrachtungen eines Unpolitischen (1918)
ausdrücklich vom Expressionismus distanzierte (vgl. den Auszug in
Anz/Stark 1982, S. 90-92), stand diesem in den zehner Jahren weniger
fern, als es scheint. Das gilt auch für Karl Kraus oder für Stefan
George und seinen Kreis. Dass es trotz solcher Entstellungen, die der
Begriff ›Expressionismus‹ und auch noch die inzwischen beliebtere,
weil vorsichtigere Rede von der ›Zeit des Expressionismus‹ oder vom
›expressionistischen Jahrzehnt‹ zur Folge hatten, weiterhin sinnvoll
und auch pragmatisch gerechtfertigt ist, ihn zu verwenden, versucht
dieser Band erneut zu begründen. Er bevorzugt die Wendung ›expressionistische
Moderne‹ und konzipiert damit den Expressionismus
als deutschsprachige Erscheinung der europäischen Moderne im
zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Zusammen mit Klärungen
zum Begriff der ›Moderne‹ soll das im Folgenden erläutert werden.
Geschichte und Problematik des Begriffs ›Expressionismus‹: Pörtner 1960,
S. 6-30; Arnold 1966, S. 9-15; Perkins 1974, S. 11-18; Vietta/Kemper
1975, S. 11-20; Rötzer 1976 (Dokumente und Aufsätze); Anz/Stark 1982,
S. XV-XVIII, S. 14-112 (Überblicke, Kommentare und Dokumente); Stark
1982, S. 23-27; Gehrke 1990; Fähnders 2010, S. 134-139.
Umfassende Monographien und Aufsatzsammlungen zum literarischen Expressionismus:
Soergel 1925; Sokel 1960; Steffen 1965; Arnold 1966; Paulsen
1968; Rothe 1969a; Eykman 1974; Rötzer 1976; Vietta/Kemper 1975
(grundlegende Einführung); Rothe 1977; Anz 1977; Hamann/Hermand
1976; Knapp 1979; Stark 1982; Anz/Stark 1994; Sprengel 2004 (im Rahmen
einer Epochendarstellung 1900-1918); Donahue 2005; Bogner 2005
(Einführung); Krause 2008a.
Regional differenzierende Darstellungen und Textsammlungen: Stern 1981
(Schweiz); Fischer/Haefs 1988 (Wien); Amann/Wallas 1992 und 1994,
Wallas 1995 (Österreich); Nowak u.a. 1999 (Thüringen).
Umfassende Dokumenten- und Textsammlungen: Pörtner 1960; Raabe/Greve
1960; Raabe 1965b; Best 1976; Anz/Stark 1982; Raabe 2009 (Digitalisierte
Zeitschriften, Jahrbücher, Sammelwerke, Anthologien).
Lexikalische und bibliographische Hilfsmittel: Perkins 1971 (Bibliographie
zeitgenössischer Dokumente); Raabe 1964 (bibliographische Erfassung
und Portraits expressionistischer Zeitschriften); Raabe 1972 (die 18 Bände
Expressionismus und Moderne
11
erfassen mit dem Anspruch auf Vollständigkeit die Beiträge in den Zeitschriften
und Jahrbüchern des literarischen Expressionismus zwischen 1910
und 1923); Raabe 1985 (grundlegendes und umfassendes Handbuch über
Autoren und Bücher des Expressionismus).
Forschungsberichte: Brinkmann 1961; Paulsen 1962; Brinkmann 1980 (der
bislang umfassendste Bericht); Knopf 1983; Anz 1987; Korte 1994 (über
die Forschung 1980-1990); Fähnders 2010, 275–296 (Bericht zur Moderneund
Avantgarde-Forschung 1999-2010).
2.2 Moderne und Avantgarde
In der Literaturgeschichte wurde das Adjektiv ›modern‹ zur Kennzeichnung
innovativer Ansprüche schon im frühen Mittelalter, in
der Neuzeit mit zunehmender Häufi gkeit und seit dem 18. Jahrhundert,
in dem sich die Forderungen nach künstlerischer Originalität
durchzusetzen beginnen, mit wachsender Emphase gebraucht.
Dagegen ist das Substantiv ›Moderne‹ ein neu gebildetes Wort in
den literarischen Debatten und Programmen an der Wende vom 19.
zum 20. Jahrhundert. Im September 1886, in einer Zeit, in der alle,
die in irgendeiner Weise als fortschrittlich oder sogar revolutionär
gelten wollten, die Auszeichnung ›modern‹ für sich reklamierten,
sprach der Literaturhistoriker Eugen Wolff bei einem Vortrag im
naturalistischen Verein »Durch!« vermutlich zum ersten Mal, in einer
sprachlichen Analogiebildung zu der ›Antike‹, von der ›Moderne‹.
Seine Thesen wurden noch im gleichen Jahr (siehe den Nachdruck
in Brauneck/Müller 1987, S. 58-60) und kurz darauf ein weiteres
Mal (am 1.1.1887 in der Deutschen Universitätszeitung) veröffentlicht.
Das Substantiv, das nicht nur eine neue Richtung, sondern
ein neues Zeitalter in der Entwicklung von Literatur und Kunst bezeichnen
wollte, wurde rasch zu einem Modewort; es ging bald in die
Titel zahlreicher Artikel und Bücher ein. 1891 erschien eine kurzlebige
naturalistische Zeitschrift mit dem Titel Die Moderne. Schon
1894 nahm der Große Brockhaus das Substantiv in seine 14. Aufl age
auf – als »Bezeichnung für den Inbegriff der jüngsten sozialen, literarischen
und künstlerischen Richtungen« (Bd. 11, S. 975). Lange
nachdem der Literaturkritiker Samuel Lublinski 1904 eine Bilanz der
Moderne gezogen und im Titel eines weiteren Buches vom Ausgang
der Moderne (1909) gesprochen hatte, wurde der Begriff von der akademischen
Literaturgeschichtsschreibung übernommen: zur Kennzeichnung
einer epochalen Aufbruchsbewegung, die in der Literatur
und Kunst des gesamten 20. Jahrhunderts ihre Spuren hinterließ.