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Lienen in der Zeit des Dritten Reiches
Lienen in der Zeit des Dritten Reiches




Wilhelm Wilkens

LIT
EAN: 9783825808327 (ISBN: 3-8258-0832-7)
104 Seiten, kartoniert, 15 x 21cm, November, 2007

EUR 19,90
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Wilhelm Wilkens, Jahrgang 1927, nach Krieg und Krankheit Studium der ev. Theologie, 1957 Promotion in Basel; verheiratet mit Gisela geb. Lewerenz; fünf Kinder; von 1959-1982 Gemeindepfarrer in Lienen, 1983-1991 Superintendent des Kirchenkreises Tecklenburg; Verfasser von neutestamentlichen, kirchenhistorischen und heimatgeschichtlichen Studien.
Rezension
Die historische Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Diktatur ist aufgrund des Holocaust als prinzipiell unabschließbar anzusehen. Immer noch gibt es Orte in Deutschland, die sich einer historischen Aufarbeitung der Zeit zwischen 1933 und 1945 verweigern und versuchen die Vergangenheit zu verdrängen. Während mittlerweile zu Großstädten, Städten mittlerer Größe und Kleinstädten ausgewählte wissenschaftlich fundierte Studien zum Dritten Reich vorliegen, wurde die dörfliche Region selten Gegenstand einer historischen Untersuchung.
Umso verdienstvoller ist es daher, dass Wilhelm Wilkens (1927-2018), der von 1959-1982 Gemeindepfarrer in Lienen – eines schönen Dorfes mit zwei Ortsteilen und mit sieben Bauernschaften am Südhang des Teutoburger Waldes - war und der 1983-1991 zum Superintendent des Kirchenkreises Tecklenburg ernannt wurde, im Jahre 2007 erstmals die Geschichte seiner Wirkungsstätte während der NS-Diktatur in einem Buch aufgearbeitet hat. Als primäre Quelle musste der 1957 in Basel über das Johannes-Evangelium promovierte Theologe, der seit 1963 Mitglied der SPD ist und zudem langjährig im Kreistag saß, sich auf Zeitungsartikel über Lienen aus dem „Tecklenburger Landboten“, der regionalen Tageszeitung, aus den Jahren 1933-1944 stützen, da sämtliche Lienener Unterlagen der NSDAP von führenden Parteimitgliedern in der Zeit der britischen Besatzung vernichtet wurden und ab dem 1.1.1945 keine Regionalausgaben mehr erschienen. Trotz dieser Quellenlage gelingt es Wilkens, eine gut lesbare, anschauliche und historisch fundierte, detaillierte Studie über die Machtübernahme und die institutionelle Machtsicherung der Nationalsozialisten, die Zeit des Zweiten Weltkrieges und des Kriegsendes in Lienen zu liefern. Dabei legt er den Schwerpunkt darauf, anhand von Nazi-Reden und NS-Ritualen bei Eröffnungen von Einrichtungen sowie Kundgebungen und Gründungen von NS-Verbänden aufzuzeigen, wie die NS-Ideologie mit ihren Komponenten (Führerprinzip, Rassen-Ideologie, Sozialdarwinismus, Volksgemenschaftsideologie, Antisemitismus, Lebensraumpolitik) in Lienen von einzelnen Akteuren verbreitet wurde und sich in der Bevölkerung verankerte.
Bereits 1924, ein Jahr nach Adolf Hitlers Marsch auf die Feldherrenhalle in München, wurden im gesamten Kreisgebiet von 197 Stimmen für die NSDAP 60 in Lienen abgegeben. Sechs Jahre später gründete der Höster Landwirt Ernst Beckmann die NSDAP-Ortsgruppe. Bei der Gemeinderatswahl vom 12.3.1933 erhielt die NSDAP von 18 Stimmen bereits 11. Fünf Landwirte, ein Bäckermeister, ein Schlossermeister, ein Angestellter, zwei Arbeiter und ein Heuerling saßen für die NSDAP in der Gemeindevertretung. Schon Anfang April 1933 wurde auf Antrag des Ortsgruppenleiters der NSDAP dem Reichskanzler Hitler das Ehrenbürgerrecht verliehen. 1934 erfolgte beispielsweise auch in Lienen die Gründung der NS-Volkswohlfahrt, die ein Jahr später der Einweihung ihres Kindergarten beiwohnen konnte. 1937 erhielt Lienen die Ehrung als „Kreismusterdorf“ für seine Dorfverschönerungsmaßnahmen, aber primär als Anerkennung für seine schnelle und breitwillige Konformität gegenüber der NS-Ideologie, die sich als Ersatz-Religion gerierte. Dieses wird sehr deutlich anhand der in Wilkens Buch abgedruckten NS-Traueransprache für ein gefallenes Parteimitglied, gehalten 1943 in Lengerich-Wechte.
Über Kritik an den Nationalsozialisten und ihrer Verbände in Lienen weiß Wilkens kaum etwas zu berichten. 1930, also noch in der Zeit der Weimarer Republik, gab es einen ersten Konflikt zwischen Nazis und dem Presbyterium. Die NSDAP-Ortsgruppe legte zum Gedenken an den sogenannten „Hitler-Putsch“ in der Ehrenhalle der evangelischen Kirche Lienens einen Kranz mit Hakenkreuzschleife nieder, woraufhin der ortsansässige Pfarrer Dr. Johannes Wilkens (1896-1995) aus Gründen der politischen Neutralität die Hakenkreuzschleife aus der Kirche entfernte, was der Aufforderung des Presbyteriums entsprach, sondern diese sogar verbrannte. Der von 1929 bis 1936 in Lienen tätige Wilkens war seit 1933 Mitglied der Bekennenden Kirche und im August 1933 Hauptverfasser des „Tecklenburger Bekenntnisses“, in dem in Abgrenzung zur Position der „Deutschen Christen“ die unterschiedlichen Strukturlogiken des „Herrschaftsraum Jesu“ und des „Herrschaftsraum des Staates“ betont wurden (vgl. auch Wilhelm Wilkens: Die Evangelische Kirchgemeinde in Lienen in der Zeit des Kirchenkampfes. In: Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte 75 (1982), S. 273-295). Da es sich bei Johannes Wilkens um den Vater des Buchautors handelt, ist Wilhelm Wilkens` Werk „Lienen in der Zeit des Dritten Reiches“ zugleich auch ein Beitrag eines Zeitzeugen zur Familiengeschichte. Wilhelm Wilkens selbst wuchs von 1929 bis 1936 in Lienen auf, besuchte ab 1934 die dortige Volksschule, bevor er 1936 in Düsseldorf an das humanistische Gymnasium wechselte.
Mit seinem dritten Buch zur Geschichte Lienens - nach seinen Werken „Lienen. Die Geschichte seiner Häuser“(1993) und „Lienen. Das Dorf und seine Bauernschaften von der Sachsenzeit bis zur Gegenwart“(2004) hat Wilkens - neben seinen zahlreichen in den „Westfälischen Nachrichten“ und in „Unser Kreis. Jahrbuch für den Kreis Steinfurt“ publizierten Beiträgen - sich erneut um die fundierte heimatgeschichtliche Erforschung Lienens verdient gemacht. Im Unterschied zu anderen Orten der westfälischen Provinz besitzt historische Selbstvergewisserung in Lienen eine gute Tradition: von der ersten Festschrift „Lienen. 1000 Jahre Gemarkung Lienen 965-1965“(1965), verfasst von dem Schriftsteller und Kreisarchivar Friedrich Ernst Hunsche (1905-1994), über die vielen Arbeiten des im März 2018 gestorbenen Wilkens, der im August 2017 noch die Schrift "Der Suderberggau. Widukinddreieck von Dissen bis Lienen" vorgelegt hat, erhältlich in der Tourismusinformation Lienen, bis hin zu den neueren sprachgeschichtlich geprägten Arbeiten des Historikers Dr. Christof Spannhoff (*1979), Mitarbeiter am Institut für vergleichende Städtegeschichte der Münsteraner Universität und Mitherausgeber der Zeitschrift „Nordmünsterland. Forschungen und Funde“.
Wilkens` Büchlein aus dem „Lit-Verlag“ gehört nicht nur in die Gemeindebücherei Lienens im Haus des Gastes, am schönen Dorfteich und dem bei jungen Familien beliebten Barfußpark gelegen, sondern kann jeder Lehrkraft empfohlen werden, die im Tecklenburger Land das Fach Geschichte problemorientiert unterrichten und zur Förderung eines kritischen Geschichtsbewusstseins beitragen möchte. Lehrerinnen und Lehrer, Historikerinnen und Historiker, Journalistinnen und Journalisten werden durch die Untersuchung des Lienener Pfarrers motiviert, Projekte zur Erforschung der NS-Zeit auch an anderen Orten des Altkreises Tecklenburg durchzuführen. Wilkens beschließt sein 2007 veröffentlichtes Buch mit der Frage, was die Kirche aus den Erfahrungen mit der NS-Diktatur lernen könne. Er postuliert eine Konzentration auf zentrale Aussagen des Evangeliums und eine „weltanschauliche Auseinandersetzung“ mit Fundamentalismusvarianten, von denen er explizit den Neoliberalismus und den Islamismus nennt. Diese Warnung von Wilkens vor Formen des Anti-Humanismus – mit dem Philosophen Julian Nida-Rümelin könnte man u.a. noch den Naturalismus dazu zählen – hat auch im Jahre 2018 nichts an Aktualität eingebüßt.

Dr. Marcel Remme, für lehrerbibliothek.de
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 1
Ein spektakulärer Auftakt 3
1. Gemeinderat, Bürgermeister, Gemeindevorsteher und Ortsgruppenleiter 7
a) Ergebnis der Wahl 1933 7
b) Erste Sitzung der neu gewählten Gemeindevertretung 8
c) Konstituierende Sitzung des Kreistags 10
d) Einführung des Führerprinzips 12
2. Die Verbindung von Nationalismus und Sozialismus 15
a) Der deutsche Nationalismus 16
b) Ein nationaler Sozialismus 18
c) Wirkliche Volksgemeinschaft 21
3. Die NS-Blut- und Boden-Ideologie 23
a) Der Boden 23
b) Das Blut 26
4. Die Beanspruchung des Menschen nach Leib, Seele und Geist durch die NS-Weltanschauung 31
a) Erziehung im Geist des Nationalsozialismus 31
b) Kampf um die Seele jedes Deutschen 32
c) Nationalsozialistische Riten 33
d) Lienen Kreismusterdorf 34
e) Einweihung der neuen Dorfschule 1939 36
5. Der Führerkult 39
a) Verleihung des Ehrenbürgerrechts an Hitler 39
b) Der Deutsche Gruß: Heil Hitler 41
c) Glaube an die Macht der Bewegung und Ruf zur Führerfolge 43
6. Der Aufbau der Wehrmacht 47
a) Proklamation der allgemeinen Wehrpflicht 1935 47
b) Besetzung des Sudetenlandes 1938 sowie Böhmens und Mährens 1939 48
c) Heldengedenktag contra Volkstrauertag 49
d) Kriegsvorbereitungen 50
7. Die Kriegszeit 53
a) Maßnahmen nach Ausbruch des Krieges 53
b) Stalingrad und Scheitern des Anschlags auf Hitler am 20.7.1944 53
c) Der Anfang vom Ende 55
8. Das Ende des Zweiten Weltkrieges 59
a) Die Tage vor der Besetzung Lienens 59
b) Die Besetzung Lienens 61
c) Die "Oberen Lienens" und das Ende 62
9. Die Kirche und der Nationalsozialismus 65
a) Ausgangspunkte 65
b) Ansätze der Neubesinnung 66
c) Die Position des "Tecklenburger Bekenntnisses" 67
d) Doppelte Loyalität 69
10. Eine nationalsozialistische Trauerfeier 73
a) Zug zum Friedhof 73
b) Eine NS-Trauerrede 74
c) Der Inhalt der Ansprache 80
11. Was wäre aus der Kirche geworden, wenn ...? 83
Anmerkungen 85














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