lehrerbibliothek.deDatenschutzerklärung
Lateinamerikanische Literaturgeschichte  3., erweiterte Auflage

unter Mitarbeit von 

Walter Bruno Berg, Vittoria Borso, Hans Hinterhäuser, Karl Hölz, Dieter Ingenschay, Christopher Laferl, Klaus Meyer-Minnemann, Horst Nitschak, Wolfgang Rössig, Roland Spiller, Harald Wentzlaff-Eggebert und Gerhard Wild

herausgegeben von Michael Rössner
Lateinamerikanische Literaturgeschichte


3., erweiterte Auflage



unter Mitarbeit von



Walter Bruno Berg, Vittoria Borso, Hans Hinterhäuser, Karl Hölz, Dieter Ingenschay, Christopher Laferl, Klaus Meyer-Minnemann, Horst Nitschak, Wolfgang Rössig, Roland Spiller, Harald Wentzlaff-Eggebert und Gerhard Wild



herausgegeben von Michael Rössner

Michael Rössner (Hrsg.)

Verlag J. B. Metzler
EAN: 9783476022240 (ISBN: 3-476-02224-2)
588 Seiten, hardcover, 18 x 25cm, 2007, mit 370 Abbildungen

EUR 29,95
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Die Geschichte der reichhaltigen und vielgestaltigen Literatur Lateinamerikas in einem Band - gegliedert nach sieben Großräumen unter Einbeziehung des portugiesischsprachigen Brasilien. Das Buch beginnt mit der Literatur der Inka, Maya und Azteken, widmet sich ausführlich der Kolonialzeit und setzt einen besonderen Akzent auf die gegenwärtigen Entwicklungen -in der dritten Auflage erweitert bis in das 21. Jahrhundert hinein.
Rezension
Die 3. Aufl. ist gegenüber der 2. Aufl. insbesondere durch einen neuen Einband und Ergänzungen uin der Bibliographie verändert und erweitert;das Textcorpus ist gleich geblieben. Das ist in Ordnung so, da die 2. Aufl. bereits bis in die jüngste Vergangenheit (2002) herangeführt hatte. Lateinamerikanische Literatur genießt in Europa eigentlich erst seit kurzer Zeit eine gewisse Aufmerksamkeit; wir kennen einige Schriftsteller/innen der letzten 50 Jahre. Diese "Lateinamerikanische Literaturgeschichte" eröffnet einen weiteren Horizont, ohne die Gegenwart zu vernachlässigen. Insofern wird auch mit Gewinn lesen, wer an der Kolonialisierung Lateinamerikas, an der Unabhängigkeit und an den gesellschaftlichen Strukturen (Militärdiktaturen und wirtschaftliche Abhängigkeiten) interessiert ist. Die Literatur ist nicht selten ein Reflex dieser Gegebenheiten. Insofern keineswegs nur für Spanisch-Lehrkräfte von Bedeutung!

G. Buschmann, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Von den Inka über die Kolonialzeit bis heute
Neu in der 3. Auflage: Andahazi, Chico Buarque, Villoro, Roncagliolo, Bolaño u. v. m.
Mit Auswahlbibliografie auf dem neuesten Stand

Streifzug durch den südamerikanischen Kontinent. Von den Inka über die Kolonialzeit, von Borges und Neruda bis Volpi und Villoro stellt die Literaturgeschichte alle bedeutenden Schriftsteller Lateinamerikas ins Rampenlicht. Augenfällig wird dabei der gesellschaftliche und kulturelle Wandel. Jetzt aktualisiert um die jüngsten Entwicklungen lateinamerikanischer Literatur.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort VII
Zur zweiten Auflage XII
Zur dritten Auflage XIII

Indigene Literaturen und die frühe Kolonialzeit
(1492–1650)


Die Reisen des Kolumbus und die Folgen 1
Azteken und Maya / Das Vizekönigreich Neu-Spanien/Mexiko 10
Das Inka-Reich / Das Vizekönigreich Neu-Kastilien/Peru 28
Informations- und Missionsliteratur aus Brasilien 54

Die Blüte der Kolonialliteratur
(1640–1750)


Urbanes Leben und barocke Literatur 61
»Öffentliche« und »private« Literatur im Vizekönigreich Neu-Spanien 70
Kulteranismus und Neoklassizismus im Vizekönigreich Peru 83
Brasilianischer Barock und jesuitische Tradition 93

Das Ende der Kolonialzeit und die Unabhängigkeitsepoche
(1750–1830)


Reformen, katholische Aufklärung, Unabhängigkeitskriege 105
Die Literatur Neu-Spaniens bis zur Unabhängigkeit Mexikos 110
Die Vizekönigreiche Peru, Neu-Granada und R´ıo de la Plata 116
Brasilien: arkadische Dichtung und Unabhängigkeit 124

Die Literaturen Lateinamerikas bis zum Modernismo
(1820–1900)


Das Werden der lateinamerikanischen Staaten und ihrer Identitäten 130
Mexiko im 19. Jahrhundert 137
Die verzögerte Ausbildung von »nationalen Identitäten« und Literaturen in Mittelamerika 149
Die spanischen Kolonien in der Karibik: Unabhängigkeitsideen und Sklaventhematik 152
Die Literaturen Kolumbiens und Venezuelas 160
Die Andenländer im 19. Jahrhundert 167
Cono Sur (Chile, La-Plata-Staaten, Paraguay): Aufbruch zu neuen Ufern 176
Brasilien bis zum Ende des Kaiserreichs 190

Der Modernismo und die frühen Avantgardebewegungen in Lateinamerika
(1880–1930)


Modernismo und Modernisierung: der geschichtliche Wandel um die Jahrhundertwende 200
Der hispanoamerikanische Modernismo 205
Brasilien: die Jahrhundertwende und »modernistisches Jahrzehnt« 225
Die hispanoamerikanischen Avantgardebewegungen: ein Überblick 236

Nach dem Modernismo
(1920–1970)


Emanzipation, Revolution, neues Selbstbewusstsein und Rückfall in die Krise 255
Mexiko 1910–1968: der Mythos der Revolution 263
Mittelamerika 1920–1970: die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen 284
Die spanischsprachige Karibik vom Modernismo bis zur kubanischen Revolution 294
Die Literaturen Kolumbiens und Venezuelas 1920–1970: periphere Regionen gegen das Zentrum 309
Die Andenländer 1920–1970: die Erfahrung des »Anderen« 329
Cono Sur (Chile, La-Plata-Staaten, Paraguay): die Belebung durch
das »populäre Genre« und die Blüte der phantastischen Literatur 347
Brasilianische Literatur 1920–1970: das neue Interesse für die Regionen 372

Von der Kubanischen Revolution zum Ende der Militärdiktaturen
(1960–1995)


Zwischen Militärdiktaturen, Schuldenkrise und der Hoffnung auf einen neuen Anfang 394
Mexiko 1968–1995: das Trauma von Tlatelolco und die Folgen 406
Mittelamerika: die Veränderungen in Nicaragua und ihre Auswirkungen auf die Region 423
Literatur der spanischsprachigen Karibik 433
Kolumbien und Venezuela: Violencia und Aufbau einer demokratischen Identität 443
Literatur der Andenländer: Brüche und Aufbrüche 454
Cono Sur (Chile, La-Plata-Staaten, Paraguay): der Terror und seine Verarbeitung in der Literatur 466
Die brasilianische Literatur seit 1960: Militärdiktatur, Wirtschaftswunder und neue »Öffnung« 482

An der Schwelle zum 21. Jahrhundert (1989–2002) 499

Bibliographie 531
Personen- und Werkregister 540
Bildquellen 575

Leseprobe:
Vorwort
So gebräuchlich uns der Begriff »Lateinamerika« zwecks Unterscheidung
vom »großen Bruder« USA geworden ist, so sehr ihn hierzulande ein
wachsendes Leserpublikum auch mit einer bestimmten Art von Literatur
verbindet, so wenig selbstverständlich ist es, sieht man genauer hin, eine
lateinamerikanische Literaturgeschichte in deutscher Sprache zu konzipieren.
Das beginnt schon mit dem Begriff »lateinamerikanisch« und der
Frage nach seinem Umfang und Inhalt. Natürlich wissen wir hierzulande
längst, dass damit die Länder des Kontinents südlich des Rio Grande
gemeint sind, von Mexiko bis Feuerland, und dass man in den meisten
von ihnen Spanisch spricht und schreibt. Aber ist es tatsächlich allgemein
bekannt, dass in Brasilien die Landessprache nicht Spanisch, sondern
Portugiesisch ist, und dass der sich gegen Ende des 19. Jhs. herausbildende
Begriff »Latein-Amerika« unter anderem dem Wunsch entsprungen ist, Latein-Amerika
sich nicht nur gegen das »angelsächsische« Amerika des Nordens abzusetzen,
sondern auch von den ehemaligen iberischen Kolonial-Mutterländern
zu emanzipieren und stattdessen an das »modernere« Frankreich
mit seiner quasi-mythischen Hauptstadt Paris im Geiste einer vagen
»Latinität« anzuschließen?
Hält man sich diese historische Wurzel der im Namen Lateinamerikas
enthaltenen »Latinität« vor Augen, dann wird auch deutlich, warum es zu
rechtfertigen ist, in einer Geschichte der lateinamerikanischen Literatur
französischsprachige Kulturen Amerikas wie die der kanadischen Provinz
Québec, Guyanas, Haitis oder der französischen Antillen nicht einzubeziehen.
So sehr gerade Haiti für eine Selbstdarstellung der lateinamerikanischen
Literatur wie Alejo Carpentiers Konzept des »Wunderbar
Wirklichen in Amerika« zum Bezugspunkt geworden ist, so wenige Übereinstimmungen
gibt es lange Zeit hindurch im Verhältnis der Haitianer
und Antillenbewohner zu der (ehemaligen) Kolonialmacht Frankreich
einerseits und dem der »Latein«-Amerikaner zu ihrem europäischen »Kulturmodell-
Land« andererseits (für die Québec-Kanadier liegen die Dinge
noch einmal anders).
Die Einbeziehung
Brasiliens
Freilich könnte auch schon die Einbeziehung von Brasilien in einen
quasi vereinheitlichten lateinamerikanischen Kulturraum Bedenken hervorrufen.
Brasilien teilt zwar die eben angedeutete Perspektive einer Dreiecksbeziehung:
iberische Kolonialmetropole – Lateinamerika – Paris, gegen
seine Hereinnahme spricht dennoch manches, vor allem die wechselseitige
Nichtbeachtung der hispanoamerikanischen und der brasilianischen
Literatur, die bis in die 60er Jahre unseres Jahrhunderts reicht. Aber
wenngleich die beiden Literaturen lange Zeit hindurch kaum eine direkte
Wechselwirkung aufweisen, so sind sie doch in sehr ähnlichen Kontexten
entstanden (die spanische und portugiesische Literaturgeschichte sind eng
miteinander verzahnt, die Begegnung mit den amerikanischen Realitäten
VII
ist ebenfalls beiden Literaturen gemeinsam), haben auf ähnliche Herausforderungen
zu antworten gehabt und sind daher in sehr produktiver
Weise miteinander vergleichbar.
Mit der Einbeziehung Brasiliens ist freilich auch ein grundlegendes
Problem angesprochen: Schreibt man eine Literaturgeschichte, so schreibt
man üblicherweise entweder die Geschichte der »Weltliteratur« oder die
einer »Nationalliteratur«, wie das die bisherigen Bände dieser Reihe auch
getan haben; eine solche definiert sich entweder durch eine gemeinsame
Sprache oder einen gemeinsamen Staat (oder durch beides); die hier
behandelte Literatur ist aber in zwei verschiedenen Sprachen und (seit der
Unabhängigkeit) in zwanzig verschiedenen Staaten entstanden. Liegt also
in der Idee, all diese Literaturen in einer Geschichte zusammenzufassen,
nicht eine ziemlich überhebliche, eurozentrisch-kolonialistische Perspektive,
sollten wir nicht lieber zwanzig einzelne »Nationalliteraturgeschichten
« nebeneinanderstellen, wie das in einigen ähnlichen Versuchen auch
geschehen ist?
Nun, so bestechend dieses Argument auf den ersten Blick erscheint: Es
übersieht nicht nur das tatsächlich in den Literaturen der lateinamerikanischen
Länder ausreichend dokumentierte Gefühl einer kulturellen Gemeinsamkeit,
sondern auch historisch dokumentierbare Zusammenhänge,
die in den großen Figuren »reisender« Schriftsteller wie Andrés Bello oder
Rubén Darío ebenso zum Ausdruck kommen wie in manchen kontinentalen
Bewegungen, unter denen an erster Stelle der »Modernismo« der
Jahrhundertwende zu nennen ist. Andererseits dürfen diese nachweisbaren
Zusammenhänge nicht zum Anlass für eine vollständige und künstliche
Homogenisierung der hier behandelten Literaturen genommen werden,
wie sie – in tatsächlich eurozentrischer Perspektive – vor noch nicht
allzu langer Zeit im deutschen Verlagswesen vorherrschend war, als uns
jeder lateinamerikanische Autor als Mischung aus echtem Indio, tropischem
Fabulierer, machistischem Latin lover und Guerillero verkauft
Gliederung
nach Großräumen
wurde. Die lateinamerikanischen Literaturen (ab hier sei der Plural erlaubt)
weisen bei allen Gemeinsamkeiten doch auch grundlegend verschiedene
Traditionen auf, die in Geschichte, Bevölkerungsstruktur, wirtschaftlichen
Gegebenheiten, literarischer Infrastruktur und vielen anderen
Einzelheiten begründet sind; freilich fallen diese Unterschiede nicht immer
mit den Staatsgrenzen zusammen. Eine Vermittlung dieser kulturellen
Vielfalt, wie sie eine Literaturgeschichte zu leisten hat, bedarf daher einer
gewissen Differenzierung, aber nicht notwendigerweise der Zersplitterung
in die zwanzig »Einzelliteraturen«; wir haben deshalb das Konzept von
»Großräumen« gewählt. Für das spanischsprachige Amerika entsprechen
in der Kolonialzeit diese Großräume den beiden ursprünglichen Vizekönigreichen
Mexiko und Peru. In der Zeit nach der Unabhängigkeit sind es
dann sechs: Mexiko, Mittelamerika, die spanischsprachige Karibik, Kolumbien
und Venezuela, die Andenländer und der sogenannte »Cono
Sur«, bestehend aus Paraguay, Chile und den beiden La-Plata-Staaten Argentinien
und Uruguay. Als letzter Abschnitt tritt jeweils Brasilien hinzu.
Die einzige Ausnahme von diesem Konzept, das dem Leser mit ausgeprägt
regionalen Interessen auch eine rasche Orientierung ermöglicht,
bildet die erwähnte kontinentübergreifende Strömung der Jahrhundertwende,
der Modernismo, der zusammen mit den Avantgardebewegungen
synthetisch für ganz Hispanoamerika bzw. Brasilien behandelt wird.
Damit sind wir bei der zweiten Problematik einer lateinamerikanischen
Literaturgeschichte angelangt, und die liegt eben in der Frage nach der
VIII Vorwort
Vom »Panorama«
zur Geschichte der
lateinamerikanischen
Literaturen
»Geschichte«. Zwar hat es immer wieder Versuche gegeben, lateinamerikanische
Literatur darzustellen, aber die meisten im deutschen Sprachraum
unternommenen beschränken sich auf das 20. Jh. (allenfalls auf das
19. und 20.), wenn sie nicht überhaupt anstelle der Geschichte lieber ein
Panorama der Literatur seit 1950 zeichnen, eben jener Autoren und
Werke, die hierzulande im Gefolge des sogenannten »Booms« besondere
Bekanntheit und Beliebtheit erreicht haben. Auch wenn diese Jahre tatsächlich
einen gewissen Höhepunkt in der Entwicklung der lateinamerikanischen
Literatur darstellen, ist das wiederum eine eurozentrische
Perspektive, die sogar um einiges bedenklicher erscheint als die geographische
»Homogenisierung«. Es ist nicht nur die in den letzten Jahren
zu beobachtende Mode des historischen Romans in Lateinamerika, die
uns dazu veranlasst hat, eine solche Optik zu überdenken und in unserer
Darstellung den Lateinamerikanern sozusagen »ihre Geschichte zurückzugeben
«, wie das vor 25 Jahren schon die erste und bisher einzige
vollständige Literaturgeschichte des Kontinents von Rudolf Grossmann
versucht hat; es ist auch, ja vor allem, die Erkenntnis, dass ein Verstehen
dieser schönen und reichen Literatur gar nicht möglich ist, ohne ihre
frühesten Wurzeln, ohne die am Beginn stehenden traumatischen Erfahrungen
des »Kulturschocks«, der »Begegnung mit dem Anderen«, zu
kennen.
Dieser Erkenntnis Rechnung tragend, haben wir frühen Epochen –
insbesondere der Zeit von der Fahrt des Kolumbus bis zur stabilen Eingliederung
in den spanischen bzw. portugiesischen Kultur- und Verwaltungsraum
in der Mitte des 17. Jhs. – mehr Raum zugestanden, als es
selbst in von Lateinamerikanern geschriebenen Literaturgeschichten üblich
ist. Natürlich ist die Literatur in der Kolonialzeit auch Bestandteil
Die Andersartigkeit
des Gleichen
in Lateinamerika
der spanischen bzw. portugiesischen Literatur. Und dennoch: Die Emanzipation
von den europäischen Themen beginnt schon mit den Texten des
Kolumbus. Die Krise des Selbstverständnisses angesichts der Erfahrung
des Anderen, das Erlebnis der Ohnmacht angesichts der Gewalt der Natur
sind zwei von vielen dominanten Themen, die immer schon den in diesem
Kontinent geschriebenen Texten einen anderen Hintergrund verliehen.
Um eine Geschichte des Argentiniers Jorge Luis Borges abzuwandeln:
Hätte ein Peruaner in der andinen, noch von indigenen Dorfgemeinschaften
geprägten Landschaft den Don Quijote Wort für Wort genauso
geschrieben, wie es Cervantes in Europa tat, wäre es dennoch nicht
dasselbe Buch; der Petrarkismus der »Antarktischen Akademie« von Lima
um 1600, der barocke Gongorismus der mexikanischen, peruanischen
und brasilianischen Autoren ist nicht dasselbe wie der Petrarkismus oder
Gongorismus ihrer europäischen Kollegen, die ähnliche Texte in Florenz,
Salamanca oder Coimbra schreiben; er ist ein absurder, fast magischrealistischer
Akt, eine Negation der Umgebung des Schreibenden in einem
ästhetischen credo quia absurdum.
Man musste also nicht auf den so intensiv vermarkteten »Magischen
Realismus« eines Asturias, García Márquez oder einer Isabel Allende
warten, um von einer spezifisch lateinamerikanischen Schreibweise sprechen
zu können. Deshalb darf man diese Autoren unseres Jahrhunderts
auch nicht als »sympathische Naturkinder« missverstehen, sondern sollte
sie vor dem Hintergrund der fünfhundertjährigen Entwicklung dieser
Schreibweise lesen. Aus durchaus parallelen Erwägungen ist hier übrigens
auch die neueste, nach dem »Boom« angesiedelte Entwicklung ausführlicher
dargestellt; denn das »Bekannte«, sprich: die großen Autoren und
Vorwort IX
Werke der Zeit zwischen 1949 und 1975, wird erst dadurch richtig
erfassbar und verstehbar, dass es in den ihm eigentümlichen Kontext der
Tradition und des Fortwirkens gestellt und nicht nur mit europäischen
Augen betrachtet wird, so wesentlich Wechselwirkungen mit Europa auch
in der Geschichte dieser Literatur stets gewesen sind.
Periodisierung nach
lateinamerikanischen
Kriterien
Dieser scheinbar paradoxe Versuch, als Europäer auch nicht-europäische
Kategorien einzubeziehen und sie zugleich europäischen Lesern zu
vermitteln, prägt die Konzeption des vorliegenden Bandes. Er drückt sich
auch in der hier verwendeten Periodisierung aus. Es erschien uns nicht
sinnvoll – wie es Grossmann 1969 tat –, den eigenständigen Charakter der
lateinamerikanischen Literatur dadurch vorzuführen, dass man dennoch
ausschließlich europäische Periodenbegriffe auf sie anwendet und dann
die Abweichungen in »Amero-Romantik«, »Amero-Realismus«, »Amero-
Expressionismus« und »Amero-Existentialismus« dokumentiert. Wir haben
stattdessen versucht, uns bei den Perioden an dem Kontinent eigenen
historischen Zäsuren zu orientieren: die »Conquista« mit ihren psychologischen
und literarischen Nachwirkungen; die barocke Hofkultur; die
katholische Aufklärung und die Unabhängigkeitskriege; die mexikanische,
später die kubanische Revolution, schließlich das Scheitern der
Militärregimes in den letzten zehn Jahren. Und wir haben auch versucht,
die solchen Periodisierungen innewohnende Willkürlichkeit dadurch ein
wenig zu mildern, dass die als Grenze festgesetzten Jahreszahlen fast
immer »überlappend« gewählt wurden, sodass jedes Kapitel auch die in
der vorherigen Periode gelegenen Anfänge der behandelten Strömungen
aufnehmen und ihre Nachwirkungen in der folgenden andeuten kann.
Wenn die Literaturen Lateinamerikas sich in diesem Jahrhundert also
endgültig von ihren europäischen Mutterländern emanzipiert haben, dann
war es hoch an der Zeit, diesen Versuch einer dem lateinamerikanischen
Denken und Schreiben möglichst adäquaten Vermittlung in einer deutschsprachigen
Literaturgeschichte zu unternehmen, die sich gleichermaßen an
ein akademisches Publikum wie an die vielen Freunde lateinamerikanischer
Texte unter den Lesern wenden soll. Wir haben versucht, einen
Kompromiss zu finden und trotz der prinzipiellen Offenheit für ein nichtakademisches
Publikum in den einzelnen Beiträgen auch durchaus ein
wissenschaftliches Profil sichtbar werden zu lassen. Dennoch musste der
Herausgeber aus vierzig Einzeltexten von insgesamt dreizehn Autoren, die
fünfhundert Jahre Geschichte der literarischen Produktion von zwanzig
Ländern behandeln, ein Buch machen; es galt also, erbarmungslos zu
kürzen, Übergänge zu finden, die Texte aufeinander abzustimmen, um sie
zu einem einzigen, nicht zu sehr nach Collage klingenden Text werden zu
lassen. Die Mitarbeiter haben diese »Vergewaltigung« mit bewundernswerter
Gelassenheit und Toleranz ertragen; dem Herausgeber bleibt nur,
nun auch vom Leser Verständnis für die Unvollkommenheiten des Resultats
zu erbitten: Was man Gutes in diesem Buch findet, ist den Autoren zu
danken; die – zahlreichen – Schwächen hat der Herausgeber zu verantworten.
Nicht zuletzt bedarf die Geschichte einer immer noch »fremden« Literatur
wie der lateinamerikanischen auch sehr oft der Hintergrundinformation,
der Aufzählung von manchen Spezialisten banal erscheinenden
Fakten. Auch hier galt es, einen Kompromiss zu finden zwischen der zur
Vermittlung notwendigen Information und den Möglichkeiten einer auf
begrenztem Raum operierenden Literaturgeschichte. Für eine umfassende
Einführung in das Phänomen Lateinamerika ist sicherlich die begleitende
X Vorwort
Lektüre eines Geschichtswerkes zu empfehlen. Der erwähnten Orientierung
am Leser, der aus Freude an der Literatur liest, wurde durch möglichst
umfängliches Bildmaterial und lektüreleitende Randglossen Rechnung
getragen, die nicht nur die Literatur selbst, sondern auch die immer
noch »fremdartige« Welt Lateinamerikas als Hintergrund der Texte erfahrbar
machen sollen. Der Verlag, insbesondere die betreuenden Lektoren
und Lektorinnen Petra Wägenbaur, Oliver Schütze, Andrea Rupp und
Sybille Paulus sowie Bernd Lutz selbst, hat dabei jede nur mögliche
Unterstützung geleistet; immer hilfreich waren auch die Ibero-Amerikanischen
Forschungsinstitute in Berlin und Hamburg sowie Thomas Scheerer
mit seiner Datenbank BiLA in Augsburg. Ein spezieller Dank gilt schließlich
David Lagmanovich und Gustav Siebenmann für ihre Anregungen
und meinen Münchner Mitarbeitern Daniela Nardi, Ana Ribeiro-Kügler
und Martin Weidlich für ihre unermüdliche Hilfe bei Korrekturlesen,
Registererstellung und Komplettierung der Bibliographie.
Die Orientierung dieses Bandes am Leser drückt sich schließlich in dem
Bestreben aus, überschaubar zu bleiben: Bei der für jede Literaturgeschichte
notwendigen Selektion ist bewusst auf auch nur den Schein
enzyklopädischer Vollständigkeit verzichtet worden. Viele Autoren und
Werke fehlen; dafür haben wir versucht, statt einer »kommentierten
Liste« von Namen und Titeln dem Leser durch die ausführlichere Vorstellung
von Autoren und Werken paradigmatischen Charakters ein anschauliches
Bild der literarischen Epoche des jeweiligen Raumes mit Ansätzen
zu kritischer Betrachtung aus möglichst vielfältiger Perspektive zu
liefern. Aus dem Vorstehenden dürfte eines klar geworden sein: Die große
Herausforderung bestand darin, einerseits diese Literaturen dem europäischen
Leser näher zu bringen, andererseits der Versuchung zu widerstehen,
sie ausschließlich mit unseren Kategorien, in einer überheblichbelehrenden
eurozentrischen Perspektive zu betrachten. Glücklicherweise
gibt es dafür einige Vorbilder. So berichtet einer der frühesten deutschen
Hispanoamerikanisten, der Münchner Romanist Karl Vossler, über eine
vor 60 Jahren absolvierte Vortragsreise nach Argentinien: »Ich, der ich
nach Südamerika gekommen war, um einige Vorträge über Themen meines
Faches zu halten, bemerkte bald, dass meine vornehme Mission noch
einen anderen Aspekt in sich trug, einen bescheideneren zwar, aber auch
einen wichtigeren: Zuhören, Annehmen, mit freundlichem Echo Anregungen
geben.« Dieses kurze Programm war es auch, von dem die Autoren
der vorliegenden Literaturgeschichte sich leiten ließen. Lateinamerika
hat eine große Zahl von Gesichtern; wir haben versucht, möglichst
viele von ihnen für möglichst viele deutschsprachige Leser erfahrbar zu
machen.
München, im Juli 1995 Michael Rössner
Vorwort XI
Vorwort zur zweiten Auflage
Das ungebrochen große Interesse der deutschen Leser an der lateinamerikanischen
Literatur hat es notwendig gemacht, nach wenigen Jahren
eine zweite Auflage unserer Literaturgeschichte vorzulegen. Dabei ist die
Erstausgabe von 1995 durch ein Kapitel über das letzte Jahrzehnt ergänzt
worden, gekennzeichnet durch die Eckdaten 1989 (Fall der Berliner
Mauer und Zusammenbruch des »real existierenden Sozialismus«) und
2001, als das »globalisierte Weltsystem« durch das Attentat auf das
New Yorker World Trade Center erstmals grundlegend in Frage gestellt
wurde.
Eine solche Ergänzung konnte schon wegen des relativ geringen Textumfangs
nicht in der nach sieben Großräumen gegliederten Form erfolgen;
ich denke aber, dass gerade das neue Generationsbewusstsein der
Autoren, die in diesem Jahrzehnt zu führenden Repräsentanten der lateinamerikanischen
Literatur geworden sind, wie schon zu Zeiten von Modernismo
und Avantgarde eine kontinentübergreifende Betrachtung durchaus
rechtfertigt. Die Welt der lateinamerikanischen Kultur – und damit auch
die der Literatur – war in diesen Jahren gekennzeichnet von einer unerhört
starken Präsenz US-amerikanischer Zivilisation in allen Lebensbereichen,
aber zugleich auch von einer immer stärkeren Präsenz der »Latin
Culture« in den USA selbst. Diese Hybridisierung, das neue Selbstbewusstsein
der Lateinamerikaner und die neuen Ausdrucksformen, vor
allem im Bereich des Films, sind vorrangig Gegenstand der Ergänzungen
dieser Auflage. Der Spaziergang durch die Literatur des letzten Jahrzehnts
ist subjektiv (und der Autor/Herausgeber bekennt sich dazu), er will trotz
der unübersehbaren Fülle der Texte einen Rest von Erzählcharakter und
Anschaulichkeit in der Darstellung erhalten – was impliziert, dass viele,
auch wesentliche Texte ungenannt bleiben müssen. Aber eine Literaturgeschichte,
die die Gegenwart mitumfasst, ist immer ein unabgeschlossenes
Unternehmen, und die dritte Auflage in einigen Jahren wird hoffentlich
die ärgsten Lücken schließen – allerdings wohl nur, um dafür wieder neue
aufzureißen.
Es galt, die enorme Vitalität der neuen und neuesten lateinamerikanischen
Literatur darzustellen, die sich programmatisch von den alten Klischees
des Magischen Realismus und des Macondismo löst und als eine
hybride »Bastardliteratur« selbstbewusst zu positionieren sucht – mittlerweile
durchaus mit beachtlichem internationalen Erfolg, sodass sogar
schon von einem »neuen Boom« gesprochen wurde. So weit sind wir wohl
noch nicht, aber diese neue Auflage unserer Literaturgeschichte kann dem
deutschsprachigen Leser gegenüber der Erstauflage nicht nur eine Ergänzung,
sondern durchaus ein verändertes, faszinierendes Bild dieser reichen
und vielgestaltigen Literatur bieten.
München, im Juni 2002 Michael Rössner
XII Vorwort
Vorwort zur dritten Auflage
Als 2002 die zweite Auflage dieser Literaturgeschichte erschien, waren die
seit der Erstausgabe 1995 aufgetretenen Entwicklungen rund um die
Jahrtausendwende in der Literatur- und Kulturgeschichte der lateinamerikanischen
Länder so bedeutend, dass sie ein eigenes, kontinentübergreifendes
Kapitel rechtfertigten. Für die fünf Jahre zwischen 2002 und dem
Jahr 2007, in dem das offenbar in den letzten Jahren erneut gestiegene
Interesse eine weitere Auflage erforderlich macht, kann man das nicht
behaupten. Das gewichtigste Ereignis in dieser Zeit ist wohl der frühe Tod
des chilenischen Autors Roberto Bolaño im Jahr 2003 gewesen, der seine
zentrale Stellung in der Autorengeneration der Jahrtausendwende noch
verstärkt hat, so dass er nun zusammen mit Vertretern der Boom-Generation
wie García Márquez, Borges und Rulfo zu den »Klassikern« gezählt
und in Kolloquien seiner Autorenkollegen als »Wegbereiter einer neuen
Literatur« vorgestellt wird. Ansonsten haben sich 2002 festgestellte Tendenzen
zu einer Globalisierung, aber auch zur Diversifizierung der
Schreibweisen, verstärkt, der eine oder andere neue Autorenname hat sich
aufgedrängt; und so wurde neben einer Durchsicht des Gesamttexts besonders
der des letzten Kapitels aktualisiert, ergänzt und mit einigen
neuen Akzenten versehen, die auch der in den letzten Jahren deutlich
spürbaren stärkeren Präsenz junger Autorinnen und Autoren bei europäischen
und speziell deutschen Verlagen Rechnung tragen.
Bei jeder neuen Auflage ist aufs Neue den vielen Freunden, Kollegen,
Mitarbeitern und Literaturkennern zu danken, die mir die Aktualisierung
durch ihre Anregungen und die praktische Unterstützung bei der Realisierung
erst möglich gemacht haben. Besonderen Dank schulde ich diesmal
Bernadette Kalz, Astrid Vogel, Piero Salabè, Stephen Uhly und Benjamin
Meisnitzer.
München, im Mai 2007 Michael Rössner
Vorwort zur dritten Auflage XIII
Indigene Literaturen
und die frühe Kolonialzeit
(1492–1650)
Die Reisen des Kolumbus und die Folgen
Wie kaum eine andere hat die lateinamerikanische Literatur einen genau
zu bestimmenden Geburtstag: den 3. August 1492, mit dem die erste
Eintragung im Bordbuch des Kolumbus datiert ist. Natürlich gab es schon
zuvor auf dem amerikanischen Kontinent Literatur, wie auch aus den
Beiträgen dieses ersten Abschnitts hervorgehen wird; aber sie war noch
nicht von jener konfliktreichen Wechselwirkung der lateinisch-europäischen
und der indianischen Kultur getragen, die für die lateinamerikanische
Literatur konstitutiv geworden ist. Und natürlich sind die Schriften
des Kolumbus ihrerseits nicht aus dem Kontext einer Jahrhunderte alten,
von der Suche nach dem irdischen Paradies und vom Streben nach neuen
wissenschaftlichen Entdeckungen getragenen europäischen Tradition des
Denkens und Schreibens zu lösen. Dadurch aber, dass die darin beschriebene
Reise tatsächlich auf das Andere trifft, die Spekulation also mit
einer – wenn auch durch Vorurteile verzerrten – Erfahrungswirklichkeit
konfrontiert werden muss, überwinden sie diese Tradition und begründen
eine neue Art des Schreibens, die als lateinamerikanische Literatur angesehen
werden kann.
Die erste Reise
des Kolumbus
Die Reise des Kolumbus erscheint so als Bindeglied und Bestandteil der
Literatur: Selbst ein Produkt der Lektüre der sagenhaften Reisebeschreibungen
des Mittelalters von Marco Polo bis zu den Briefen des Presbyters
Johannes, dokumentiert sie sich im Akt des Schreibens, in dem die alles
Bekannte übersteigenden Erfahrungen im Bordbuch festgehalten werden.
Besonders stark ist die Bindung des Entdeckers an mittelalterliche Vorstellungen
vom irdischen Paradies, wobei sich in seinem Projekt die beiden
wesentlichen Traditionen (die Insel im Westen und der Berg im [indischen]
Osten) dadurch idealtypisch verbinden, dass er dachte, in Amerika
(»Westindien«) das irdische Paradies gefunden zu haben. Ein Hauptantrieb
für die Reise war aber wirtschaftlicher und politischer Natur:
Nachdem die Renaissance vor allem in Italien eine Belebung des Handels
herbeigeführt hatte, brach durch den Fall Konstantinopels 1453 die kurze
Verbindung zum Orient über das östliche Mittelmeer zusammen, auch die
Landroute wurde fast unpassierbar. Schon 1474 hatte der florentinische
Humanist Paolo Toscanelli dem portugiesischen König Afonso V. deshalb
den Westweg nach Indien empfohlen und dabei die Ausdehnung Asiens
weit überschätzt; der genuesische Seefahrer Kolumbus steigerte diesen
Fehler noch und vertrat so die ganz falsche Überzeugung, man müsste in
einigen wenigen Tagen über den Atlantik gelangen. In demselben Jahr, in
dem mit Granada das letzte maurische Königreich in Spanien fiel, bot sich
ihm nun die Möglichkeit, seine spekulativ-literarische Vorstellung vom
1
Paradies und von außereuropäischen Reichtümern an der Wirklichkeit zu
erproben. Sein Text, das Bordbuch der ersten Reise, liegt uns nicht im
Original, sondern in einer auszugsweisen Transkription des Paters Las
Casas vor, der wohl kein unverdächtiger Herausgeber ist, sondern diese
Schriften auch im Kontext seines Kampfes für die Rechte der Indios
einsetzen wollte.
Das Bordbuch berichtet in eher lakonischer Form von der 33 Tage
dauernden Überfahrt, bis man an dem legendären 12. Oktober im Morgengrauen
Land erblickt. Ab dieser Landung wird der Text zum ersten
Dokument der Kulturbegegnung bzw. des Kulturschocks, wenn Kolumbus
schildert, wie er im Angesicht »nackter Eingeborener« durch das Schwenken
zweier Fahnen und eine notarielle Erklärung vor Zeugen die Insel für
die spanischen Könige in Besitz nimmt. Die Indios werden dabei als
Paradiesmenschen von »schönem Körperbau« beschrieben, die auch im
Charakter wahrhaft paradiesische Eigenschaften zeigen: »Es kann unmöglich
jemals gutherzigere, selbstlosere und dabei so schüchterne Geschöpfe
gegeben haben als jene Eingeborenen.« Stets ist der Entdecker um die
religiöse und ökonomische Rechtfertigung seines Unternehmens bemüht:
So verspricht er einerseits, allen Ertrag der Reisen für die Eroberung
Jerusalems zu spenden, und berichtet andererseits ständig von ganz nahen,
überaus reichen Goldminen, von Mastix-Harz und verschiedenen
Gewürzen, die er gefunden habe. Schließlich zwingt ihn der Schiffbruch
Erdkarte aus Claudius
Ptolemäus’
Cosmographia
(Ulm 1486)
Zeitgenössische
Darstellung des
primitiven Wilden
(um 1590)
2 Indigene Literaturen und die frühe Kolonialzeit (1492–1650)
der Santa Maria vor der Insel Haiti/Hispaniola dazu, vierzig Männer
zurückzulassen, für die aus dem Holz des gestrandeten Schiffes die Siedlung
Villa de la Navidad gebaut wird. Schon beim Aufbruch zur Rückreise
bringt Kolumbus auch noch die Abenteuer- und Horrorseite der Neuen
Welt ins Spiel, indem er den friedliebenden Paradiesmenschen die wilden
Kannibalen entgegenstellt (mit denen es auch zu einem Scharmützel
kommt, das zwei Verletzte fordert) und von einer sagenhaften Amazoneninsel
erzählt. Dominant bleibt im Bordbuch durchgehend die Entlehnung
der fiktiven Reise aus den Texten der mittelalterlichen Reiseliteratur.
Alles, was Kolumbus sieht, wird sofort dem »Hauptreiseführer«, Marco
Polos Il milione, angepasst, sodass der Admiral stets versucht, bekannte
Ortsnamen (v. a. das Goldland Cipango = Japan) aus den Äußerungen der
Indios herauszuhören, die er als »Untertanen des Großen Khan« betrachtet.
Mit der Landung in Lissabon bricht das Bordbuch ab, aber das
Märchen geht weiter: Nach einer Art antikem Triumphzug mit Indios und
Papageien im Gefolge wird Kolumbus Ende April am Hof in Barcelona ein
feierlicher Empfang mit allen Ehren bereitet.
Aufteilung
der »Neuen Welt«
Im Vertrag von Tordesillas (1494) teilen sich Spanien und Portugal die
»Neue Welt« auf. Die Entdeckungen finden sofort großes Interesse in
ganz Europa, Flugschriften mit Holzschnittillustrationen erscheinen, und
während große Unsicherheit über die tatsächliche Gestalt und Lage des
Landes herrscht, wird in den populärwissenschaftlichen Berichten eine
Reihe von Mythen verbreitet: Amazonen, Fabeltiere, die Legenden von
der Quelle der Ewigen Jugend und von El Dorado u. a.m. Kolumbus selbst
verspricht in dem im Druck verbreiteten Brief an seinen Financier Santángel
(1493) große Reichtümer und lockt damit eine große Zahl von Freiwilligen
zu seiner zweiten Reise an, zu der er am 25. September 1493 mit
17 Schiffen und 1200 Teilnehmern aufbricht. Im Februar 1494 schickt
Kolumbus von Haiti/Hispaniola 12 Schiffe mit Gewürzen, Holz, etwas
Erste Darstellungen
von der Landung des
Kolumbus (Basel 1494)
Die Reisen des Kolumbus und die Folgen 3
Gold und Indio-Sklaven nach Spanien zurück. Mit an Bord ist der wichtigste
Text über diese Reise: der Memorial, eine Art Liste von Anweisungen
für seinen Beauftragten Antonio Torres. Darin wird vorgeschlagen,
die notwendige Ausrüstung (Geräte, Saatgut, Tiere) mit Sklaven aus
wilden Kannibalen zu bezahlen. Die würde man damit (durch ihre Christianisierung)
vor der Hölle retten, die sanften Indios würde man vor ihnen
schützen, und das wirtschaftliche Problem wäre auch gelöst.
Das Scheitern
des Kolumbus
Eine literarische, an Don Quijote gemahnende Szene spielt sich ab, als
Kolumbus im April mit drei Schiffen nach Westen über Jamaica zur
Südküste Kubas fährt, um endlich das Festland (das Goldreich des Großen
Khan) zu finden. 50 Meilen vor der Westspitze der Insel gibt er der
rebellierenden Mannschaft nach und kehrt um, weil die Schiffe leck
geworden und die Vorräte aufgebraucht sind. Vorher lässt er jedoch alle
schriftlich einen Eid ablegen, dass man nun das Festland erreicht habe;
wer das Gegenteil behaupten würde, erhalte eine Geldstrafe oder es würde
ihm die Zunge abgeschnitten. Die Schwierigkeiten des Admirals (auf
Drängen der Siedler unternimmt er Strafexpeditionen gegen die Indios
und schickt Hunderte Gefangene nach Europa, gleichzeitig rebellieren die
Kolonisten immer offener gegen ihn) sind zwar kaum in seinen Schriften
dokumentiert, führen aber zu seiner Entmachtung und Rückkehr nach
Spanien. Gouverneur wird nun sein Bruder Bartolomé, die Polizeigewalt
übernimmt Francisco Roldán. Die spanische Politik hat durch den Konflikt
mit Frankreich mittlerweile wieder andere Interessen, die dritte Fahrt
(1498–1500) steht daher unter wesentlich ungünstigeren Vorzeichen: Da
sich kaum Freiwillige für eine neue Expedition finden, nimmt Kolumbus
Strafgefangene an Bord. Erhalten ist ein kurzer Bericht über den Beginn
der Reise, auf der er zur Orinoco-Mündung gelangt, wo der mittlerweile
zu spekulativer Theologie neigende Admiral das irdische Paradies vermutet.
Konfrontiert mit dem Aufstand Roldáns, muss Kolumbus in einem
Vertrag den Siedlern ein repartimiento zugestehen, d. h. die faktische
Macht über eine gewisse Zahl von Indios, die ihrem Schutz und ihrer
Führung anvertraut sind und dafür Arbeitsleistungen erbringen müssen
(später mit dem mittelalterlichen Ausdruck encomienda bezeichnet). 1499
ersucht der Admiral selbst Spanien um die Entsendung eines Richters, weil
er sich gegen die Amerika-Spanier nicht durchsetzen kann. Dieser Richter,
Francisco de Bobadilla, lässt dann zuerst die drei Kolumbus-Brüder verhaften
und schickt sie nach Spanien zurück, wo Kolumbus sein Libro de
las profecías schreibt, eine Sammlung von kommentierten Bibelzitaten,
die seiner Reise einen mystisch-religiösen Hintergrund verleihen soll.
Mittlerweile kommt es zu einer Flut von Entdeckungen in Mittel- und
Südamerika: Nach den Reisen von Ojeda und Vespucci nimmt 1501 Pedro
Alvares Cabral Brasilien für Portugal in Besitz. In dieser Situation soll
Kolumbus noch einmal versuchen, den Seeweg nach Indien zu finden (das
wäre eine Weltumsegelung, die aber erst dem Portugiesen Magalhães
(Magellan) 1517 in spanischen Diensten gelingt). Er unternimmt daher
die vierte und letzte Fahrt (1502– 04). Als man ihm die Landung in
Hispaniola verwehrt, sieht er zu, wie seine ärgsten Feinde Roldán und
Bobadilla im Sturm untergehen, während nur das Schiff mit dem ihm
zustehenden Goldanteil verschont bleibt. Er segelt dann entlang der Küsten
von Honduras, Nicaragua und Costa Rica, findet aber keine Durchfahrt
und kaum Gold, es gibt immer wieder Kämpfe mit den Indios, die
Schiffe sind kaum mehr seetüchtig. Der kleine Trupp schafft es gerade
noch bis Jamaica. Einige Leute werden in einem Kanu nach Hispaniola
Don Crist ´ obal Col ´on bei
der Eroberung der Welt