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Konzepte des Humanen Ethische und kulturelle Herausforderungen
Konzepte des Humanen
Ethische und kulturelle Herausforderungen




Mariacarla Gadebusch Bondio, Hania Siebenpfeiffer (Hrsg.)

Verlag Karl Alber
EAN: 9783495484982 (ISBN: 3-495-48498-1)
219 Seiten, kartoniert, 10 x 18cm, April, 2012

EUR 29,00
alle Angaben ohne Gewähr

Rezension
„Gesundheit ist ein Zustand vollständigen psychischen, physischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen“, lautet die klassische Definition von Gesundheit, die sich seit 1948 in der Präambel der Weltgesundheitsorganisation (WHO) findet. Eine solche umfassende Bestimmung von Gesundheit unterscheidet sich wesentlich von unserem Alltagssprachgebrauch, indem Gesundheit und Krankheit überwiegend als gegensätzliche Begriffe benutzt werden. In den Medien dominieren Fragen zur Gesundheitsökonomie die Diskussionen über Gesundheit und Krankheit, ohne dass die Begriffe Gesundheit und Krankheit präzise definiert, geschweige denn das deren logisches Verhältnis zueinander bestimmt wird, was der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky mit seinem Modell der Salutogenese schon in den 1970er Jahren geleistet hat.
Solchen Themen widmen sich die interdisziplinär ausgerichteten Gesundheitswissenschaften/Health Sciences, welche eine Vielzahl unterschiedler Disziplinen beinhalten, die sich aber auf einen Gegenstandsbereich konzentrieren, nämlich auf die „personen- aber vor allem bevölkerungs- und systembezogene Analyse von Gesundheits- und Krankheitsprozessen sowie die Ableitung von bedarfsgerechten Versorgungsstrukturen und deren Evaluation“(Hurrelmann, Klaus/Laaser, Ulrich/Razum, Oliver (5. Aufl., 2012): Entwicklung und Perspektiven der Gesundheitswissenschaften in Deutschland. In: Klaus Hurrelman/Oliver Razum (Hrsg.): Handbuch Gesundheitswissenschaften. Weinheim/Basel, S. 32).
Zu den Einzeldisziplinen der Gesundheitswissenschaften, die dem naturwissenschaftlichen Paradigma verpflichtet sind, zählen u.a. Human- und Biomedizin, Arbeits- und Umweltmedizin, Epidemiologie, Psychiatrie und Neurologie, Verhaltens- und Sozialmedizin. Einzeldisziplinen des sozialwissenschaftlichen Paradigmas, die von Gesundheitswissenschaftlern herangezogen werden, sind u.a. Gesundheitspsychologie, Gesundheitspädagogik, Medizinsoziologie und Gesundheitspolitik, Gesundheitsökonomie, Gesundheitskommunikation und Organisations- und Managementwissenschaften.
Der Interdisziplinarität der Gesundheitswissenschaften trägt auch der von der Medizinhistorikerin Mariacarla Gadebusch Bondio, Professorin an der TU München, und der Germanistin Hania Siebenpfeiffer, Juniorprofessorin an der Universität Greifswald, herausgegebene Band „Konzepte des Humanen“ Rechnung. Die Aufsätze dieses Buches stammen von universitären Vertretern der Medizin, der Wissenschaftsgeschichte, der Philosophie, der Literatur- und Medienwissenschaft, die im Sommersemester 2009 und im Wintersemester 2009/10 Vorträge im Rahmen einer Ringvorlesung gehalten haben. In den einzelnen Beiträgen wird die Intention verfolgt, die „bioethischen, naturphilosophischen und kulturwissenschaftlichen Dimensionen des Humanen“(S. 9) zu beleuchten.
Dazu wird u.a. die Anthropologie des Materialisten Julien Offray de La Mettrie einer genauen Analyse unterzogen, die Fiktion der vertauschten Köpfe in Literatur und Film dargestellt, die Aktualität von Hans Jonas Analyse biologischer Technik angesichts der Entwicklungen in der Synthetischen Biologie überprüft, das Konzept einer Individualisierten Medizin im Rahmen von Gesundheitsmanagement untersucht und die zunehmende Digitalisierung der Medizin diskutiert. Ausführlich analysiert Karl Wehkamp in seinem Aufsatz „Gesundheit als Potenzial“ die Tragweite des klassischen Gesundheitsbegriffs der WHO. Der Hamburger Gesundheitswissenschaftler würdigt weniger den utopischen Charakter einer solchen Auffassung von Gesundheit, vielmehr fordert er eine Revision des Gesundheitsbegriffs der WHO. Er sieht nämlich in der „umfassenden Versorgung“ als Ziel des Gesundheitssystems die Gefahr eines „Anreiz[es] für den Konsum von Dienstleistungen aller Art zur Verschönerung des Lebens und der Steigerung des Genusses“(S. 106). Eine solche „Wellness-Medizin“ – so Wehkamp – sei weder finanzierbar noch vereinbar mit einer im deutschen Sozialgesetzbuch geforderten „Medizin für Alle“ (S. 107).
Demgegenüber verweist er auf seine zusammen mit Johannes Bircher 1996 in dem „Meikirch-Modell“ erarbeitete Definition von Gesundheit: „Gesundheit ist ein komplexes Potenzial, bestehend aus biologischen und psycho-sozialen Komponenten, das genügt, um den alters- und kulturspezifischen Anforderungen des Lebens in Eigenverantwortung gerecht zu werden.“ (S. 116) Hierbei stellt sich zurecht die Frage, ob die in der „Ottawa-Charta“ 1986 betonte sozialpolitische Dimension von Gesundheit und Krankheit, wie sie zum Beispiel durch Studienergebnisse von Richard Wilkinson und Kate Pickett zur Sozial Epidemiologie, erschienen im englischen Original unter dem Titel „The Spirit Level. Why More Equal Societies Almost Always Do Better“ (2009), untermauert wird, nicht zugunsten eines neoliberal eingefärbten Selbstoptimierungskonzepts ausgeblendet wird. Ebenfalls könnte im Unterricht trefflich darüber diskutiert werden, ob Wellness- und Enhancement-Medizin zur Medizin zählen, was Wehkamp aufgrund seines auf das Individuum fixierten Gesundheitsbegriffs ablehnen muss. Der Einzelne hat dem Gesundheitswissenschaftler zufolge die „primäre Verantwortung für seine Gesundheit“ (S. 116) zu tragen, dem Staat kommt nur eine subsidiäre Funktion zu. Anschließend an diese These könnte diskutiert werden, ob der Verantwortungsbegriff von Wehkamp nicht unterkomplex gebraucht wird. Im verantwortungsethischen Diskurs wird unterschieden zwischen Kausalhandlungs-, Rollen-, universalmoralischer, rechtlicher und Sein-Verantwortung.
Wer sich als Lehrkraft für Gesundheitsfachberufe mit anthropologischen und moralischen Fragestellungen der Gesundheitswissenschaften wissenschaftlich fundiert auseinandersetzen möchte und Anregungen für kontroverse Themen sucht, dem kann der Band „Konzepte des Humanen“ nur empfohlen werden.

Dr. Marcel Remme, für lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Zu den wesentlichen Herausforderungen, die mit den neuesten Entwicklungen der Lebenswissenschaften einhergehen, gehört die Definition des Humanen. Am An¬fang von medizinischer Praxis und Forschung wie von bioethischen Fragen ste¬hen anthropologische Konzepte, aus denen die Auffassungen vom ‚normalen', ‚gesunden' und ‚kranken' Menschen abgeleitet werden. Wenn Entscheidungsfindungen in diffizilen Zusammenhängen zum moralischen Dilemma werden, bedarf es in der Regel einer Klärung oder Revision solcher grundlegender anthropologischer Bilder. Vorliegender Band ist aus der Überzeugung entsprungen, dass fundamentale Begriffe wie „Menschsein“ oder „mensch¬lich“ das höchst komplexe Produkt wissenschaftlicher und kultureller Prozesse darstellen, die sich wiederum in sozialen, historischen und politischen Kontex¬ten konkretisieren und immer wieder neu erfinden lassen. Die Beiträge sind aus dem Dialog zwischen Lebens- und Geisteswissenschaften entsprungen.

Autoreninfo:
Mariacarla Gadebusch Bondio ist Medizinhistorikerin und Philosophin. Nach einer medizinhistorischen Promotion an der Freien Universität Berlin (1995) und Forschungsaufenthalten an der Herzog August Bibliothek (Wolfenbüttel) erfolgte 2003 die Habilitation an der Medizinischen Fakultät der Universität Greifswald zum Thema „Medizinische Ästhetik und plastische Chirurgie zwischen Antike und früher Neuzeit“. Sie leitet seit April 2011 das Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der Technischen Universität München.

Hania Siebenpfeiffer ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin. Sie ist mit einer Studien zu Gewaltverbrechen in Diskursen der Weimarer Republik an der FU Berlin promoviert worden und war bis 2007 wiss. Mitarbeiterin zuerst an der HU Berlin und dann der WWU Münster. 2007 Max-Kade Visiting Professor an der University of Illinois/UC. Seit 2008 Juniorprofessorin für Neuere deutsche Literatur mit den Schwerpunkten Literatur/Kultur der Frühen Neuzeit und Literatur und Wissen an der Universität Greifswald. Weitere Forschungsaufenthalte an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, am Maison de l'Homme in Paris sowie am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften/IFK in Wien. Sie arbeitet gegenwärtig an einer Studie zur visuellen Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 9

Mariacarla Gadebusch Bondio und Hania Siebenpfeiffer
Das Humane definieren – an Stelle einer Einleitung 11

Nicole C. Karafyllis
Julian Offray de La Mettrie: „Der Mensch als Pflanze“(1748) . Zu Versuchen einer Anthropologie jenseits von Tier- und Maschinenmodell 25

Irmela Marei Krüger-Fürhoff
Die vertauschten Köpfe. Körperkonzepte und Verwandtschaftsmodelle in literarischen und filmischen Fiktionen der Transplantationsmedizin 55

Kristian Köchy
Sind die Überlegungen von Hans Jonas zum Sonderstatus biologischer Technik angesichts der Entwicklung in der Synthetischen Biologie noch haltbar? 81

Karl Wehkamp
Gesundheit als Potenzial. Warum der WHO-Gesundheitsbegriff verändert werden sollte! 103

Mariacarla Gadebusch Bondio und Susanne Miehl
Von der Medikalisierung des Humanen. Das Individuelle als Herausforderung in der Medizin 117

Martin Langanke und Tobias Fischer
Gesundheitsmanagement liegt mir im Blut: Individualisierte Medizin und gesundheitliche Eigenverantwortung 139

Astrid Deuber-Mankowsky
Gesundheit und Optimierung in Zeiten in Health 2.0 173

Spyridon Koutroufinis
Organismus-Verständnis zwischen Zweckmäßigkeit und Entropie. Eine historisch-theoretische Betrachtung 191

Autorinnen und Autoren 207