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Kinder und Jugendliche mit speziellem Versorgungsbedarf Beispiele und Lösungswege für Kooperation der sozialen Dienste
Kinder und Jugendliche mit speziellem Versorgungsbedarf
Beispiele und Lösungswege für Kooperation der sozialen Dienste




Silke B. Gahleitner, Hans Günther Homfeldt (Hrsg.)

Juventa Verlag
EAN: 9783779922636 (ISBN: 3-7799-2263-0)
290 Seiten, paperback, 15 x 23cm, 2012

EUR 24,95
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Kinder und Jugendliche mit speziellem Versorgungsbedarf benötigen multimodale Unterstützungsnetzwerke. Wie jedoch kann die immer dringlicher werdende Kooperation zwischen Kinder- und Jugendhilfe, Gesundheitswesen, Behindertenhilfe und Schule gelingen?

Im vorliegenden Band werden sowohl fallübergreifend Voraussetzungen zur Kooperation zwischen den sozialen Diensten erörtert als auch Hindernisse und Lösungswege an konkreten Beispielen vorgestellt.

Dabei geht es um Frühe Hilfen, Frühförderung, traumatisierte und chronisch kranke Kinder und Jugendliche, um Kinder und Jugendliche psychisch- und suchterkrankter Eltern bzw. Elternteile, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, um Kinder mit seelischer und körperlicher Behinderung, Jugendliche in therapeutischen Wohngemeinschaften und um schulabsente Kinder und Jugendliche. Zwei Autoren eines Wohlfahrtsverbandes stellen Überlegungen zum speziellen Versorgungsbedarf von Kindern mit Behinderungen bzw. drohender Behinderung im Sinne einer „Großen Lösung“ an. Stand und Perspektiven zu Kooperationsnotwendigkeiten der sozialen Dienste in rechtlicher Sicht erörtert ein weiterer Beitrag. Die in den einzelnen Beiträgen entwickelten Überlegungen zur Kooperation werden in einem zusammenfassenden Übersichtskapitel gesichtet und mit der aktuellen Literatur diskutiert. Mit Hilfe der Eckpunkte „Agency - Biografie - Gemeinwesen“ werden abschließend ermutigende Perspektiven zur Kooperation entworfen.
Rezension
Immer mehr Kinder sind von diversen Problemsituationen betroffen: z.B. traumatisierte und chronisch kranke Kinder und Jugendliche, Kinder und Jugendliche psychisch- und suchterkrankter Eltern bzw. Elternteile, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, Kinder mit seelischer und körperlicher Behinderung, Jugendliche in therapeutischen Wohngemeinschaften oder schulabsente Kinder und Jugendliche. Um diesen Kindern angemessen helfen zu können bedarf es einer dringenden Vernetzung und Kooperation verschiedener Institutionen, zu denen auch die Schule gehört: Kinder- und Jugendhilfe, Gesundheitswesen und Behindertenhilfe. Dieser Band zeigt die Schwierigkeiten, aber auch die Möglichkeiten der Kooperationsnotwendigkeiten der sozialen Dienste auf.

Oliver Neumann, lehrerbibliothek.de
Inhaltsverzeichnis
Hans Günther Homfeldt und Silke B. Gahleitner
Kinder und Jugendliche mit besonderem Versorgungsbedarf – eine Einführung 11

Ute Ziegenhain
Frühe Hilfen 34

Luise Behringer und Susanne Dillitzer
Frühförderung 53

Ute Thyen
Kinder und Jugendliche mit chronischen Gesundheitsstörungen:
gesundheitsbezogene Versorgung und Unterstützung für eine gute Teilhabe 75

Margret Dörr und Andreas Schrappe
„Bin ich hier eigentlich richtig bei Ihnen?“ –
Kinder und Jugendliche mit psychisch kranken und suchterkrankten Eltern 97

Norbert Beck
Kinder und Jugendliche in Therapeutischen Gruppen 115

Marc Schmid, Martin Schröder und Nils Jenkel
Traumatisierte Kinder zwischen Psychotherapie und stationärer Jugendhilfe – gemeinsame Falldefinition und Hilfeplanung anhand von EQUALS 133

Hans Günther Homfeldt und Caroline Schmitt
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge – transnationale Vernetzung als Potenzial 159

Karlheinz Thimm
Schulabsentismus – Herausforderung für Vernetzung und Kooperation 184

Jörg M. Fegert
Inklusion für Kinder und Jugendliche mit (drohender) Behinderung: Welche Rolle spielt die „Große Lösung“? 206

Roland Fehrenbacher und Christiane Bopp
Erst ausgliedern, dann eingliedern? – Kinder und Jugendliche mit speziellem Versorgungsbedarf aus der Perspektive eines Wohlfahrtsverbandes 222

Reinhard Wiesner
Rechtliche Perspektiven zu den Kooperationsnotwendigkeiten der sozialen Dienste 234

Silke B. Gahleitner, Hans Günther Homfeldt und Jörg M. Fegert
Gemeinsam Verantwortung für Kinder und Jugendliche mit speziellem Versorgungsbedarf übernehmen?
Hindernisse und Lösungswege für Kooperationsprozesse 247

Hans Günther Homfeldt und Silke B. Gahleitner
Agency – Biografie – Gemeinwesen: eine gemeinsame Basis für Kooperation 273

Autorinnen und Autoren 285



Leseprobe:

Hans Günther Homfeldt und Silke B. Gahleitner
Kinder und Jugendliche mit besonderem
Versorgungsbedarf – eine Einführung

Thomas ist acht Jahre alt. Er ist sehr verschlossen, kann schwer Kontakt
aufnehmen, manchmal reagiert er jedoch auch ungehalten und aggressiv. In
der Schule wird er von den anderen Kindern gemobbt und ausgegrenzt. Für
Thomas ist es sehr schwer, dem Unterricht zu folgen. Thomas und seine drei
älteren Schwestern (zwölf, 18 und 20 Jahre) leiden aufgrund einer Alkoholembryopathie
durch den Alkoholabusus der Eltern während der Schwangerschaft
unter einer kognitiven Beeinträchtigung. Eine geistige Behinderung
ist zwar nicht diagnostiziert, eine Umschulung in die Förderschule
wird bereits überlegt. In der Familie ist eine Familientherapeutin tätig, die
in einem zumeist aufsuchenden Setting die Familie begleitet.
Die drei älteren Schwestern sind fremd untergebracht, die zwölfjährige
Kathrin in einer Pflegefamilie, die 18-jährige Marina nach einem mehrjährigen
Heimaufenthalt in einer eigenen Wohnung mit Mann und Kind – aufgrund
einer Alkoholproblematik in engmaschiger Einzelfallbetreuung – und
die 20-jährige Susanne in einem geschützten Arbeitsprojekt: Arbeiten und
Wohnen. Die drei Schwestern gaben bei der Unterbringung vor vier Jahren
schwere häusliche Gewalt durch den häufig stark alkoholisierten Vater an.
Die Eltern jedoch äußerten, dass gegen die Kinder niemals Gewalt stattgefunden
habe. Der Vater räumte allerdings ein, von Zeit zu Zeit ausfallend
gegenüber seiner Ehefrau gewesen zu sein. Gewalt wird jedoch auch hier in
Abrede gestellt.
Thomas war aus mehreren Unterbringungsformen entwichen und gab
ebenfalls an, niemals Gewalt erlebt zu haben. Der Junge ist stark an beide
Elternteile gebunden. Das Jugendamt entschied sich daher übergangsweise
für eine Kombination verschiedener ambulanter Hilfen. Da Thomas an vielen
Entwicklungshürden ohne Unterstützung gescheitert ist und die Eltern
sich diesbzgl. keinen Rat wussten, wurde ihm zusätzlich zur Familientherapie
eine Einzeltherapie „verschrieben“. Die Familientherapeutin arbeitete
bereits seit mehreren Jahren in der Familie und hatte auch die Mädchen in
die Unterbringungen vermittelt. Eine regelmäßige Familien- oder Einzelfallhilfe
lehnten die Kindeseltern – ebenso wie die Fremdunterbringung des
Jungen – ab.
Leseprobe aus: Gahleitner, Homfeldt, Kinder und Jugendliche mit speziellem Versorgungsbedarf,
© 2012 Beltz Juventa Verlag, Weinheim Basel
http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-7799-2263-6
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Nach der KIGGS-Studie des Robert-Koch-Instituts (vgl. Bundesgesundheitsblatt
2007) verfügt die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen heute
über bessere Entfaltungschancen als je zuvor. Nie zuvor war das Leben individuell
so nach eigenen Interessen, Begabungen und Neigungen gestaltbar.
Nach den Ergebnissen derselben Studie geht diese Entwicklung jedoch
mit einer besorgniserregenden Abwärtsbewegung für einen anderen Teil der
Kinder und Jugendlichen einher (vgl. ebd.; vgl. auch Keupp 2009). Sie leben
in gesundem Aufwachsen abträglichen Verhältnissen und sind von so
vielen Verhaltensauffälligkeiten betroffen wie nur 5 % oder sogar 1 % der
Kinder und Jugendlichen der Gesamtbevölkerung (vgl. Fegert/Besier 2010,
S. 992). „In den sich verschärfenden Verteilungskämpfen um finanzielle
Mittel“, so kommentiert auch der aktuelle Kinder- und Jugendbericht (BTDrs.
16/12860 2009), verschlechtert sich die „gesundheitsbezogene Chancengleichheit
vor allem für sozioökonomisch benachteiligte Bevölkerungsgruppen“
(ebd., S. 161).
Auch die Familie, in der Thomas lebt, hat kein Einkommen zur Verfügung.
Vater und Mutter haben keine abgeschlossene Ausbildung und schon
lange aufgegeben, auf dem Arbeitsmarkt Chancen wahrzunehmen oder zu
entwickeln. Die Kinder kennen nichts anderes als das monatliche Zurechtkommen
mit den staatlichen Zuwendungen. Die Armut erstreckt sich jedoch
bei Weitem nicht nur auf materielle Belange. Entwicklungsbedingungen
und -chancen geraten in eine Diskrepanz zwischen „scheinbarer Möglichkeit“
und „überfordernder Wirklichkeit“: Heutiges Leben ist nicht nur gestaltbar,
es ist auch dringend gestaltungsbedürftig (vgl. Keupp 2012).
„Das ‚moderne Individuum‘ benötigt eine hohe Flexibilität, … ein waches
Monitoring und eine ausgeprägte Kapazität der Selbststeuerung mit
der Fähigkeit, das eigene Handeln selbstwirksam zu beeinflussen. …
Die Mehrzahl der jungen Leute schafft diese Anstrengung – aber eine
Gruppe von heute schon etwa 20 bis 25 Prozent ist eindeutig überfordert.
Sie kommt meist aus sozial benachteiligten Familien, die bildungsmäßig
schwach und kulturell schlecht integriert sind.“ (Hurrelmann
2009, S. 13)
Wissenschaftliche Belege dafür häufen sich in den letzten Jahren. Nach den
Daten des aktuellen WHO-Jugendgesundheitssurveys (vgl. Richter/Hurrelmann/
Klocke/Melzer/Ravens-Sieberer 2008) ist bei Kindern und Jugendlichen
aus Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status die Krankheitshäufigkeit
am höchsten (vgl. Ravens-Sieberer/Erhart 2008, S. 38 ff.).
Sie erleiden häufiger Verletzungen, konsumieren häufiger psychoaktive
Substanzen, haben ein schlechteres Ernährungsverhalten, sind häufiger übergewichtig
und insgesamt häufiger physisch und psychisch beeinträchtigt. In
der Kinderbetreuung oder Schule werden sie – wie Thomas – leichter zu
Mobbing-Opfern (vgl. Melzer/Bilz/Dümmler 2008, S. 136). Ähnliche ZuLeseprobe
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© 2012 Beltz Juventa Verlag, Weinheim Basel
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sammenhänge gelten für die Situation der Eltern dieser Kinder. Sie sind
weniger zufrieden als die Normalbevölkerung, häufiger physisch oder psychisch
krank und geben so bereits Ausgangsbelastungen an ihre Kinder weiter
(vgl. Ravens-Sieberer/Erhart 2008, S. 38 ff.). Es mangelt an wichtigen
physischen wie psychischen Grundbedürfnissen (vgl. Borg-Laufs/Dittrich
2010).
Wenn man in den Überlegungen zudem berücksichtigt, dass Kinder aus
Migrationsfamilien häufiger in Familien mit einem niedrigen sozioökonomischen
Status leben, wie komplex sich traumatische Erfahrungen im späteren
Leben entfalten können (vgl. dazu Gahleitner/Loch/Schulze 2012)
und dass behinderte Kinder häufiger psychische Krankheiten entwickeln,
wird deutlich, wie stark die oben beschriebene Komplexität noch mit zahlreichen
anderen Einflussfaktoren angereichert ist. Bei einem beträchtlichen
Anteil dieser Kinder und Jugendlichen können daher so schwere gesundheitliche
Einschränkungen und ein so großer Mangel an Teilhabe am gesellschaftlichen
Leben verzeichnet werden, dass sie einen „besonderen Versorgungsbedarf“
aufweisen. Auch für sie gilt nach dem 13. Kinder und Jugendbericht
(vgl. BT-Drs. 16/12860 2009, S. 103) jedoch der Anspruch auf
ein ungeschmälertes gesundes Leben. Dabei ist Gesundheit nicht als Selbstzweck
zu betrachten, sondern bezieht sich auch auf Bereiche wie Lebensqualität
und Teilhabe. Gesund ist demnach der, dem nichts fehlt, und zwar
im persönlichen, im gesellschaftlichen und umweltbezogenen Mit-Sein
(vgl. Meyer-Abich 2010, S. 377).
Auch die UN-Behindertenrechtskonvention (UN A/RES/61/106 2007; in
Deutschland 2009 in Kraft gesetzt) vertritt den Anspruch, in allen Lebensbereichen
Inklusion und Partizipation umzusetzen. Von einem Diversity-
Ansatz ausgehend, wird „Behinderung als Bestandteil menschlicher Normalität,
Vielfalt und Bereicherung betrachtet“ (Theunissen 2010, S. 24). Dadurch
werden sämtliche Formen von Behinderung und Beeinträchtigung
entindividualisiert und es entsteht die Chance, durch gezielte Beseitigung
struktureller Barrieren einen umfassenden Antidiskriminierungsansatz umzusetzen
(vgl. § 9 der UN-Behindertenrechtskonvention: UN A/RES/61/106
2007). Im Unterschied zum Integrationsgedanken, der von beeinträchtigten
Menschen eine „Einpassung“ in bestehende Strukturen fordert und dabei
„lediglich unterstützt“, verlangt der Gedanke der Inklusion vom umgebenden
System die Bereitstellung gleicher Entwicklungschancen qua Programm
und Struktur.
Das war auch der Gedanke des 13. Kinder- und Jugendberichts für Kinder
und Jugendliche mit „besonderem Versorgungsbedarf“. „Der junge
Mensch muss im Mittelpunkt der verantwortlichen Teilsysteme stehen“
(BT-Drs. 16/12860 2009, S. 13). Die Aussage wird systematisch auch auf
Kinder und Jugendliche mit Behinderungen und schweren psychosozialen
Belastungen bezogen, auf Kinder wie Thomas. Dieser menschenrechtlich
fundierte Anspruch stellt das Gesellschaftssystem jedoch vor große HerausLeseprobe
aus: Gahleitner, Homfeldt, Kinder und Jugendliche mit speziellem Versorgungsbedarf,
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forderungen, denn bei Kindern und Jugendlichen mit besonderem Versorgungsbedarf
sind die sozialpädagogischen Strategien des Empowerments,
der Ressourcenorientierung und auch die Annahmen der Agency-Theorien
(vgl. Homfeldt/Schröer/Schweppe 2008) nicht unhinterfragt voraussetzbar.
Da sich chronisch kranke Kinder und Jugendliche, unbegleitete minderjährige
Flüchtlinge und traumatisierte Kinder und Jugendliche auch nicht „als
Subjekte marktfähig“ (Böhnisch/Schröer 2011, S. 45) einbringen können,
stellt ihre gesellschaftliche Teilhabe die Nagelprobe für den fett gedruckten
Satz in der Stellungnahme der Bundesregierung dar.
1. Im Mittelpunkt der verantwortlichen Teilsysteme?
Ein besonderer Versorgungsbedarf bei Kindern und Jugendlichen besteht,
wenn wegen massiver manifester bzw. drohender Risiken physischer, entwicklungsbezogener,
verhaltensbezogener und seelischer Belastungen sowie
Beeinträchtigungen ambulante, teilstationäre oder stationäre Hilfen
über übliche Hilfeleistungen hinaus erforderlich werden (vgl. Kanth/Kusch
2011, S. 75–107). Nach dem 13. Kinder- und Jugendbericht (vgl. BT-Drs.
16/12860 2009, S. 103 f.) handelt es sich um Jungen und Mädchen mit entweder
dauerhaften oder längerfristig bestehenden gesundheitlichen, verhaltens-
und entwicklungsbezogenen Beeinträchtigungen, die Behinderungen
anzeigen oder aber zu ihnen führen können. Oftmals sind die Kinder und
Jugendlichen von multiplen Problemkonstellationen betroffen. Bereits im
frühen Kindesalter wurde bei Thomas z. B. eine bestehende seelische Behinderung
festgestellt. Nach § 35a SGB VIII hat er damit einen Rechtsanspruch
auf die Gewährung von Eingliederungshilfen zur Teilhabe am gesellschaftlichen
Leben. Die Form der Hilfe richtet sich nach dem Bedarf des
Einzelnen und kann entweder in ambulanten oder (teil-)stationären Einrichtungen
geleistet werden.
1990 wurde das Jugendwohlfahrtsgesetz durch das Kinder- und Jugendhilfegesetz
(SGB VIII) abgelöst. 1993 wurde das SGB VIII dahin gehend
geändert, dass die Eingliederungshilfe zum eigenständigen Leistungstatbestand
wurde. Der Bereich der seelischen Behinderung mit § 35a SGB VIII
wurde damals der Jugendhilfe zugewiesen (vgl. Lempp 2004, S. 9). Nachdem
die sog. „Große Lösung“, also die Integration aller Kinder und Jugendlichen
im SGB VIII, aufgrund zahlreicher Bedenken von Elternverbänden
körperlich und geistig behinderter Kinder und der zuständigen Trägerverbände
nicht zustande gekommen war, einigte man sich auf diesen Kompromiss;
er wird daher als „kleine Lösung“ bezeichnet. Das Jugendamt ist
damit gegenüber Thomas für den Bereich der seelischen Behinderung zum
Rehabilitationsträger (vgl. Hahn/Herpetz-Dahlmann 2010, S. 3) geworden,
während die geistige und körperliche Behinderung nach wie vor der Eingliederungshilfe
nach SGB XII zugeschlagen ist.
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Diese Aufteilung ist in praktischer Hinsicht jedoch weitestgehend obsolet.
Der Grad der geistigen Behinderung im Zuge einer Alkoholembryopathie
bei Thomas z. B. befindet sich ziemlich exakt an der Schnittstelle der
beiden Systeme. Dieses Schicksal teilt Thomas mit vielen anderen Kindern.
Bereits der Begriff der seelischen Behinderung ist schwer abzugrenzen, diagnostisch
betrachtet ist bei Entwicklungsstörungen die Abgrenzung zu anderen
Formen der Behinderung äußerst schwierig. Zudem können viele verschiedene
psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter zu einer seelischen
Behinderung führen (siehe unten, diagnostische Feststellung des Bedarfs).
Diesen Gedanken hat der Gesetzgeber auch aufgegriffen. Schwerpunkt
der Betrachtung nach § 35a SGB VIII soll nicht in erster Linie die Erkrankung
selbst sein, sondern die darauf beruhende eingeschränkte Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben. Bei der Hilfeplanung muss daher die sozialarbeiterische
und sozialpädagogische Perspektive ebenso berücksichtigt werden
wie die medizinisch-rehabilitative. In der Praxis vor Ort zeigt sich dabei,
dass die realen Bedarfe sich keineswegs an den vorgegebenen Kategorien
des Gesetzgebers orientieren, sondern – wie auch bei Thomas – Zuordnungsprobleme
verursachen. Das Sozialsystem wiederum ist so organisiert,
dass die Zuweisung eines „Falles“ zu einem bestimmten Teil des Sozialsystems
die Möglichkeiten der Hilfeleistung bahnt, zugleich jedoch auch
rahmt. Diese Vorgehensweise birgt die Gefahr, dass die Versorgung sich
weniger am Wohl der Betroffenen orientiert als an der Minimierung entstehender
Kosten. Kinder und Jugendliche werden von einem Ressort zum
nächsten „verschoben“ und fallen unterwegs durch den Rost (vgl. Borg-
Laufs 2007, S. 913 ff.).
Daraus entsteht häufig für Fachkräfte, Eltern und Kinder eine Odyssee
zwischen verschiedenen scheinbar nicht zuständigen Kostenträgern (vgl.
Fegert 1999). Funktionierende Kooperation zwischen den Zuständigkeitsbereichen
Gesundheit, Soziales und Jugendhilfe wird an dieser Stelle zu einer
entscheidenden Grundlage, um diagnostisch zusammenzuarbeiten, bestehende
Barrieren der adäquaten Teilhabe am Leben bei Kindern und Jugendlichen
zu überwinden und Kindern und Jugendlichen adäquate Hilfen
und Entwicklungschancen zu bieten. Dies gilt insbesondere, wenn bereits
die Teilhabe der Eltern am gesellschaftlichen Leben so eingeschränkt ist
wie im Falle der Familie von Thomas. Die über lange Jahre anhaltende Alkoholproblematik,
Arbeitslosigkeit und nicht aufgegriffene Gewaltdynamik
hat die Kluft zwischen der Familie und dem Hilfesystem schwer überbrückbar
gemacht. In der Sozialen Arbeit spricht man daher von der „hardto-
reach-Klientel“, die eine professionelle Unterstützung dringend benötigt,
von Hilfeangeboten jedoch nicht oder nicht mehr profitieren kann (vgl.
Labonté-Roset/Hoefert/Cornel 2010).
Auch für Thomas stellten die mehrfach bereitgestellten Versuche einer
Fremdunterbringung – im Gegensatz zu seinen drei älteren Schwestern –
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keine Entwicklungsmöglichkeit mehr dar. Thomas scheint weder für die
Psychotherapeutin noch Familientherapeutin auf der Beziehungsebene erreichbar.
Thomas ist inzwischen selbst „hard to reach“.
2. Entwicklungschancen und -risiken
Inzwischen ist Thomas zehn Jahre alt. Die Therapeutin berichtet auf der
Hilfekonferenz nach 15 Monaten Arbeit mit dem Jungen, dass sie Thomas
nur unregelmäßig sehe, sich erst langsam mehr Kontakt etabliere und sie
das Gefühl habe, er lebe in einem hermetisch abgeschlossenen System nahezu
ohne jede Teilhabe an der Außenwelt und Sozialisationsinstanzen sowie
den sich dort bietenden Entwicklungsmöglichkeiten. Auch die Familientherapeutin
sieht die Familie nicht regelmäßig, obwohl sie seit mehreren
Jahren in der Familie arbeitet. Sie fühlt sich durch den Fall immer wieder
bis an ihre Grenzen gefordert. Der Vater komme quasi gar nicht zu den vereinbarten
Treffen, die Mutter habe mehrere Termine wahrgenommen. Immer
wieder habe sie den Verdacht auf häusliche Gewalt, die Kindesmutter jedoch
gebe stets andere Gründe für die Verletzungen und Knochenbrüche
an. Sie verweise in ihren Erzählungen erschöpft und vorwurfsvoll auf die
Zuständigkeit des Jugendamts, das sich vorerst erneut entschieden hat, den
Jungen weiter in der Familie zu belassen. Der Junge bringe verbal wie
nonverbal auch nach wie vor zum Ausdruck, dass er sich ein Leben in einer
Fremdunterbringung nicht vorstellen könne, obwohl die Problemlagen in
der Schule und zuhause immer mehr eskalieren. Nach der Einschulung in
die Förderschule kann Thomas schon nach wenigen Monaten auch hier
dem Unterricht kaum folgen. Neben der sozialen Isolierung häufen sich aggressive
Durchbrüche und unkontrollierte Handlungen gegenüber anderen
Kindern. Mit den drei Geschwistern besteht kein Kontakt mehr. Insbesondere
die älteste Schwester grollt Thomas und dem Jugendamt, weil Thomas
nach wie vor in der gewaltträchtigen Familie lebt. Bei Thomas wurde inzwischen
eine Schädelfissur ungeklärten Ursprunges diagnostiziert.
Werden in Fällen wie bei der Familie von Thomas frühe, präventive und
resilienzfördernde Maßnahmen versäumt oder setzen sie zu spät ein, so
greifen sie häufig nicht mehr. Der Hilfeverlauf bei Thomas und seiner Familie
ist ein gutes Beispiel für solche und ähnliche Entwicklungen. Betrachtet
man Thomas’ Entwicklung vor dem Hintergrund zentraler Ressourcen
und Entwicklungsmöglichkeiten, die Kinder und Jugendliche für ein gesundes
Aufwachsen im Sinn der Ottawa Charta (vgl. WHO 1986) benötigen,
stellt man eine große Distanz fest.
„Um ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden
zu erlangen, ist es notwendig, dass sowohl einzelne als auch GrupLeseprobe
aus: Gahleitner, Homfeldt, Kinder und Jugendliche mit speziellem Versorgungsbedarf,
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pen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen
und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern bzw. verändern
können.“ (ebd., S. 1)
Offenbar sind wir von der Forderung der Charta, allen Bürgern gesundheitliches
Wohlergehen zu ermöglichen, noch weit entfernt.
Auf der Basis salutogenetischer Theoriebestände und Überlegungen zu
Verwirklichungschancen (capability) und Befähigungsmöglichkeiten (agency)
für Kinder und Jugendliche nennt Keupp (vgl. 2009, S. 101 ff.) als zentrale
Ressourcen für gesundes Aufwachsen: „Urvertrauen“, eine Dialektik
von Bezogenheit und Autonomie, die Entwicklung von Lebenskohärenz,
die Schöpfung sozialer Ressourcen durch Netzwerkbildung, materielles
Kapital als Bedingung für Beziehungskapital, demokratische Alltagskultur
durch Partizipation und Selbstwirksamkeitserfahrungen durch Engagement.
Welche dieser Ressourcen stehen Thomas zur Verfügung?
Stabile Bindungsverhältnisse, die Kontinuität und Verlässlichkeit bieten,
jedoch auch angemessen Räume für die Exploration der Außenwelt und
Autonomieprozesse sind als Grundlage für eine erfolgreiche Kompetenzentwicklung
auf emotionaler, kognitiver und sozialer Ebene existenziell
(vgl. Bowlby 2006). Thomas ist zwar stark an seine Eltern gebunden, das
geschlossene, gewaltgeprägte System führt jedoch zu einer „Angstbindung“,
die wie in einem Teufelskreis immer engere destruktive Bindungsverhältnisse
innerhalb des Systems etabliert, sich nach außen jedoch abschottet
(vgl. Gahleitner 2011, S. 38; vgl. auch Grossmann/Grossmann 2004).
„Eine Bindung, die nicht das Loslassen ermutigt, ist keine sichere Bindung,
deswegen hängt eine gesunde Entwicklung an der Erfahrung der Dialektik
von Bezogenheit und Autonomie.“ (Keupp 2009, S. 101)
Auf dieser Basis ist auch die Entwicklung von Lebenskohärenz und Lebenskompetenz
beeinträchtigt. Die aktuellen Lebensbedingungen haben
viele Aspekte bisher gültiger Wertesysteme endgültig hinter sich gelassen
(vgl. Beck 1997). Das eröffnet vielen Kindern und Jugendlichen Chancen
der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, erfordert aber auch Fähigkeiten
und Kompetenzen in der Lebensgestaltung (vgl. Keupp 2012).
Eine sichere, Halt gebende Basis, die die Verarbeitung externer Eindrücke
und Einstellungsmuster willkommen heißt und unterstützt, ist für Thomas
nicht gegeben. Regeln, Normen, Ziele und Wege zu verstehen, in einem
demokratischen Teilhabeprozess mit auszuhandeln und mitzugestalten, wird
für ihn nur sehr schwer möglich sein. Die kognitive Beeinträchtigung
stellt ihn zusätzlich vor Orientierungsschwierigkeiten und tagtägliche Ohnmachtserfahrungen
in einer Welt, in der „Erwachsenwerden ein Projekt ist,
das in eine Welt hineinführt, die zunehmend unlesbar geworden ist“ (Keupp
2001, S. 3).
Eine gute soziale Eingebundenheit könnte hier unterstützend wirken.
„Für offene, experimentelle, auf Autonomie zielende Identitätsentwürfe ist
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die Frage nach sozialen Beziehungsnetzen von allergrößter Bedeutung“
(Keupp 2009, S. 102). Der Aufbau sozialer Bezüge gestaltet sich für
Thomas – wie bei vielen Kindern und Jugendlichen, die einem gesteigerten
Risiko ausgesetzt sind, problembelastete Lebensverläufe zu entwickeln und
nicht angemessen am Leben teilhaben zu können – jedoch schwierig. Peerbeziehungen
und außerfamiliale Kontakte, die für Thomas in der weiteren
Entwicklung immer zentralere Bedeutung erhalten werden, sind nicht vorhanden,
in der Schule wird er massiv ausgegrenzt. Die materielle Armut der
Familie verhindert die Möglichkeit, andere Teilhabesysteme zu etablieren,
in denen von den Kindern Selbstwirksamkeitserfahrungen gemacht, neue
Lebensformen erprobt und eigener Lebenssinn entwickelt werden könnten
(vgl. Biwo/Hammer 2010).
„Unser ‚soziales Kapital‘, die sozialen Ressourcen, sind ganz offensichtlich
wesentlich mitbestimmt von unserem Zugang zu ‚ökonomischem Kapital‘“
(Keupp 2009, S. 102). Gerade Menschen aus sozial benachteiligten
Schichten wie Thomas haben daher nicht nur besonders viele Belastungen
zu verarbeiten, die dafür erforderlichen Unterstützungsressourcen in ihren
Lebenswelten sind auch eher unterentwickelt. Gezielte professionelle und
sozialstaatliche Förderung der Netzwerkbildung bei diesen Bevölkerungsgruppen
ist daher besonders relevant (vgl. ebd.). Eine angemessene professionelle
Antwort auf gesundheitliche Überforderungen durch psychosoziale
Verarbeitungsprozesse postmoderner Lebensverhältnisse würde hier eine
Chance darstellen. Die Kontaktaufnahme zu professionellen Helfern ist in
der Familie von Thomas allerdings inzwischen angstbesetzt und aufgrund
der Fremdunterbringung der Geschwister gestört. Weitere Hilfeabbrüche
verringern die Wahrscheinlichkeit, neues Vertrauen in das Hilfesystem zu
entwickeln (vgl. Gahleitner 2011, S. 18 f.; vgl. auch Schmid 2010).
3. Die Schwierigkeit, kooperativ zu denken
Zielsetzung wäre, Kinder und Jugendliche, die „verletzt wurden, verletzt
sind und selbst verletzen“ (Opp 2008, S. 75) in besonderem Maße zu versorgen.
„Besonderer Versorgungsbedarf“ bedeutet in diesem Zusammenhang,
Lösungen für solche und andere hohe Konzentrationen von Belastungssituationen
zu finden (vgl. Schmid 2010). Nach aktuellen Ergebnissen
ist der Hilfebedarf gerade bei mehrfach belasteten Kindern und Jugendlichen
massiv gestiegen (vgl. EVAS: Institut für Kinder- und Jugendhilfe
2004). Dabei hat insbesondere der Anteil der gemeinsamen Klientel der
Sektoren Jugendhilfe und Jugendgesundheit zugenommen (vgl. Beck/Warnke
2009). Von früheren Untersuchungen, die 10–15 % gemeinsame Kinderund
Jugendliche im Jugendhilfe- und Gesundheitssystem ausweisen, belegen
die Zahlen bereits um das Jahr 2000 30 % gemeinsame Klientel (vgl.
Darius/Hellwig/Schrapper 2001, S. 111 ff.). Die momentane Versorgung beLeseprobe
aus: Gahleitner, Homfeldt, Kinder und Jugendliche mit speziellem Versorgungsbedarf,
© 2012 Beltz Juventa Verlag, Weinheim Basel
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antwortet offenbar nicht ausreichend die dringlichen psychosozialen Problemlagen,
die aus Familienzerfallsprozessen, aus Migrationsprozessen, aus
sozialer Ausgrenzung bzw. Randständigkeit oder aus Armut resultieren (vgl.
BT-Drs. 16/12860 2009). Es bedarf daher einer gezielten (Weiter-)Entwicklung
adäquater Interventionsformen, um psychosozial bedingte Beeinträchtigungen
zu beeinflussen und zugleich der sozial bedingten Ungleichheitsverteilung
als Entstehungsursache angemessen begegnen zu können (vgl.
Pauls/Mühlum 2005; vgl. auch Pauls 2004, 12 f.).
Die Umsetzung einer Hilfe im Falle sog. „seelischer Behinderung“ nach
§ 35a SGB VIII erfordert daher nicht umsonst qua Gesetz den Einsatz von
verschiedenen Fachkräften aus den Bereichen Medizin, Psychologie, (Heil-)
Pädagogik und der Sozialen Arbeit. Kooperative und partnerschaftliche Arbeitsweisen
im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen den beiden Hilfesegmenten
gewinnen also zunehmend an Bedeutung (vgl. Franzkowiak/
Homfeldt/Mühlum 2011, S. 257 ff.). Die Abgrenzungsprobleme bei Hilfen,
für die unterschiedliche Trägersysteme zuständig sind, sind dabei nur eines
der genannten Probleme. Kooperation und Vernetzung werden zwar überall
propagiert, der inhaltliche, zeitliche und finanzielle Aufwand dafür jedoch
häufig massiv unterschätzt. Der bekannteste Abwehrreflex gegen die damit
einhergehenden Überforderungen ist „fachlicher Autismus“ (du Bois 2004).
Als Stolpersteine für Kooperation in Bezug auf die alltägliche Praxis
zwischen Kinder- und Jugendhilfe sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie
identifiziert auch Möller (2001, S. 187) einen gegenseitigen Informationsmangel,
einen unterschiedlichen Rechtsrahmen, betriebswirtschaftliche
Gründe, unterschiedliche Problemverständnisse, verschiedene „Sprachen“
und bisweilen auch die Unterstellung, die besonders Schwierigen würden in
das jeweils andere Versorgungssystem weitergeleitet. Tatsächlich existieren
auch beträchtliche Unterschiede im Zugang zu den uns anvertrauten Kindern
und Jugendlichen auf der theoretischen Ebene. Das drückt sich bereits
darin aus, wie Kinder und Jugendliche im Hilfesystem benannt werden. Der
Gesundheitsbereich spricht von „PatientInnen“ bzw. „KlientInnen“, die Jugendhilfe
von „AdressatInnen“ und auch von „NutzerInnen“, obwohl die
Kinder und Jugendlichen in jedem Einzelfall AkteurInnen mit einer eigenen
Handlungsmächtigkeit sind.
Demnach folgt das Gesundheitssystem der Logik eines medizinischen
Modells der Krankheitsbewältigung, das von einem Defizit oder einer Störung
ausgeht. Es will Leiden verhindern, abbauen oder zumindest lindern,
Ursachen klären und „heilen“. Soziale Arbeit hingegen orientiert sich am
Modell der Entwicklungsförderung. Sie will Kräfte wecken, die sich zu
einer Höher- und Weiterentwicklung nutzen lassen und sich an den gesunden
Anteilen der Kinder und Jugendlichen orientieren. Je nach fachlicher
Orientierung sollen also „‚Verhaltensauffälligkeiten behandelt‘ oder ‚belastende
Lebenssituationen bewältigt‘ werden“ (du Bois/Ide-Schwarz 2005,
S. 1428). Die Folge ist eine ausgrenzende Handlungspraxis: Für den mediLeseprobe
aus: Gahleitner, Homfeldt, Kinder und Jugendliche mit speziellem Versorgungsbedarf,
© 2012 Beltz Juventa Verlag, Weinheim Basel
http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-7799-2263-6
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zinisch-psychotherapeutischen Bereich bleibt die Jugendhilfe auf die Funktion
eines „Dienstleisters“ beschränkt, sie nutzt ihrerseits wiederum den
medizinisch-psychiatrischen und psychotherapeutischen Bereich als „Reparaturbetrieb“.
Nicht nur auf der Ebene der konkreten Praxis, sondern auch auf der abstrakteren
Ebene der Wissensbestände lassen sich Verhaltensaufälligkeiten
und Krankheiten – unter Einbezug interdisziplinärer Theorie und Forschung
– häufig viel besser als Ausdruck von Bewältigungsversuchen (an-)
erkennen: im Sinne eines Überlebens in Armut, Diskriminierung, nicht vorhandener
Bindung und Versorgung, Benachteiligung etc. (vgl. Gahleitner
2010, vgl. auch 2011, S. 74 ff.). Erst dann kann Mehrperspektivität gelingen
und „das Zusammenwirken von sozialstrukturellen und psychosozialen Einflussfaktoren
thematisiert und strukturiert werden“ (Böhnisch 2005,
S. 203). An dieser Stelle zeigt sich jedoch die Versäulung und Grabenbildung
zwischen verschiedenen disziplinären Herangehensweisen. Während
diagnostische und methodische Aspekte der psychosozialen Arbeit stark
von medizinischen und psychologischen Konzepten dominiert sind, die ihre
disziplinäre Logik am Individuum und seiner innerpsychischen oder innerphysischen
Veränderung ausrichten, sind Ansätze, die Wissen über Differenzaspekte
wie materielle Verhältnisse, politische Verhältnisse, Hautfarbe,
Geschlecht, kulturellen Hintergrund, Bildungshintergrund etc. einbeziehen,
stark durch sozialwissenschaftliche und kulturwissenschaftliche
Quellen geprägt.1
Multiperspektivität auf den Ebenen von Praxis, Theorie und Forschung
kann nur mit einem Blick auf Subjekt und Struktur zugleich entwickelt
werden. Entsprechend erfordert die Bewältigung komplexer Störungen in
der Praxis eine aufeinander abgestimmte Organisation von Helfen, Fördern,
Bilden, Heilen und Betreuen und mit ihr verbunden wissenschaftliche Hintergrundtheorien
und Vorgehensweisen. Multiperspektivität in theoriebezogener
Hinsicht sollte medizinisch-psychologische Ansätze mit sozialwissenschaftlichen,
wie den Disability Studies, verknüpfen.
Kinder- und Jugendhilfe, Gesundheitshilfe in Gestalt der Psychotherapie
und Kinder- und Jugendpsychiatrie, Behindertenhilfe und auch Schule haben
daher zwar unterschiedliche gesellschaftliche Aufgaben der Unterstüt-
1 Vgl. beispielsweise zum Thema Trauma als Übersicht Schulze/Loch/Gahleitner
2012; zu Trauma, Terror und Gesellschaft: Auchter/Büttner/Schultz-Venrath/Wirth
2003; Becker 1992; Diaz/Becker 1993; Kühner 2007, 2008; Schneider 2007; Zeller
2004; zu Trauma und Geschlecht: Scheffler 2007; Herausgeberbände Gahleitner/
Gunderson 2008, 2009; zu Trauma und Migration: Lamott 2007; Kluwe-Schleberger
2002; My Hanh Derungs 2007; Schulze 2008; zur Schädigung durch Heimaufenthalte:
Rutter 2006; Burschel 2008; Apitz 2007; Kuhlmann 2008; Kappeler 2009; zu
Folter, Flucht und Krieg: Becker 2006; Bolz 2004; dela Cruz 1996; Egger 2008;
Elcheroth 2006; Kleck 2006; Ottomeyer 2008; Awosusi 2008; Rössel-Cunovic 2008;
Spitzer 1999; Wirtgen 2008.
Leseprobe aus: Gahleitner, Homfeldt, Kinder und Jugendliche mit speziellem Versorgungsbedarf,
© 2012 Beltz Juventa Verlag, Weinheim Basel
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zung und beziehen sich auch auf wissenschaftliche Disziplinen mit unterschiedlichen
Parametern, die es nicht einzuebnen gilt. Es ist jedoch notwendig,
sich diese Situation wieder und wieder bewusst zu machen und
nicht einfach bei den Differenzen stehen zu bleiben, sondern auf der Grundlage
eines gemeinsamen Ziel- und Aufgabenverständnisses in der Praxisgestaltung
in Bezug auf Kinder und Jugendliche mit speziellem Versorgungsbedarf
Kooperationen zu ermöglichen. Jeder einzelne soziale Dienst für
sich ist den komplexer gewordenen Problemlagen nicht mehr gewachsen
und erzeugt daher – abgeschottet von anderen – durch jeweils nachgeordnete
„Behandlungen“ häufig neue Problemlagen.
4. Die Schwierigkeit, kooperativ zu handeln
Die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Kinder und Jugendliche mit
besonderem Versorgungsbedarf ein gesundes Leben führen können, überfordert
soziale Dienste nicht nur im Denken, sondern auch in der alltäglichen
Praxis. So stellt Ader (2001) fest, immer wieder gebe es Kinder und
Jugendliche, die das Hilfesystem – gemeint ist die Kinder- und Jugendhilfe
– ratlos machten und an ihre Grenzen brächten, „an die Grenzen von
Strukturen und Handlungskonzepten, von Zuständigkeiten, gesetzlichen
Aufträgen und Finanzen, an die Grenzen der Geduld von Professionellen
und auch an die Grenzen öffentlicher Akzeptanz für abweichendes und auffälliges
Verhalten“ (ebd., S. 108).
Aus einer ganz anderen Perspektive betrachtet, sticht im sog. „Grünbuch
psychische Gesundheit“ der Europäischen Union (Kommission der Europäischen
Gemeinschaften 2005) eine Gruppe von Kindern und Jugendlichen
hervor, die in wirtschaftlicher Hinsicht weitreichende gesellschaftliche Folgekosten
im Bildungssystem, in der Justiz und im Arbeitssektor „verursacht“.
Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass es sich um die oben
genannte Gruppe vielfach belasteter und gesellschaftlich benachteiligter
Kinder und Jugendlichen handelt. Präventionschancen oder frühe Hilfen
wurden versäumt.
Ein knappes Jahrzehnt später hat sich wenig verändert, einzig das Problembewusstsein
ist gewachsen. Beim Umgang mit problematisch verlaufenen
Kinderschutzfällen in Deutschland erfassten Fegert, Ziegenhain und
Fangerau (2010, S. 234) z. B. insgesamt 15 Schwachstellen auf der Grundlage
einer ExpertInnenbefragung, u. a. Probleme in der interprofessionellen
Kooperation, mangelnde Kooperation unterschiedlicher Behörden, rechtliche
Vorschriften zur Datenübermittlung, Selbstüberschätzung der MitarbeiterInnen
und auch zu spätes Eingreifen in das Erziehungsgeschehen. Als
besonders wichtig wird bei der interprofessionellen Kooperation erachtet,
dass die Professionellen unterschiedlicher sozialer Dienste voneinander
wissen müssten, auch um ihre Stärken und Grenzen (vgl. ebd., S. 248), zuLeseprobe
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mal aufgrund seiner Komplexität der Kinderschutz zumeist nur noch gemeinsam
funktioniere. Es wird im ExpertInnenhearing darauf verwiesen,
dass insbesondere zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Gesundheitswesen
immer noch erhebliche Verständigungsprobleme und Stolpersteine
herrschten (vgl. ebd., S. 250).
„Besonders schwierige Fälle“ resultieren nicht selten aus der Tatsache,
dass chronisch kranke Kinder und Jugendliche und solche mit körperlichen,
geistigen und seelischen Funktionsbeeinträchtigungen einzig einem speziellen
Dienst im Gesundheits- wie Sozialwesen ausgesetzt sind, obwohl – wie
bei Thomas – die gesamte Lebensführung im Zusammenhang mit Familie,
Schule und Freundeskreis betroffen ist. Anders als bei akut Erkrankten gilt
für chronisch Erkrankte und für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen,
dass sie überdauernd bzw. für eine längere Zeitspanne eine Form finden,
um die Funktionsbeeinträchtigung als Teil ihres Lebens zu integrieren
(vgl. von Kardorff 2011, S. 298). Im Bereich der Kinder mit speziellen ...