Liebe Leserin, lieber Leser!
Gedichte sind nicht Konsumgüter, sondern »Produktionsmittel«, schärft uns Hans Magnus Enzensberger ein, »mit deren Hilfe es dem Leser gelingen kann, Wahrheit zu produzieren.«
Ein solcher Blick auf poetische Texte zumal im Religionsunterricht - schafft uns mit einem Schlag verbreitete Missverständnisse vom Hals. Religionsunterricht erhält kein harmloses, leicht gängiges Ambiente, er verwandelt nicht Poesie in katechetisch vorgewusste Gehalte, er ermäßigt nicht den Offenbarungsanspruch unseres Glaubens. Ein rasches Einverständnis erlauben Gedichte keinesfalls. Man muss sich zu ihnen (mit ihnen?) auf den Weg machen, genauso wie bei Dingen des Glaubens. Sie schicken auf den Weg und wenn die Begegnung mit ihnen gut geht, auf den eigenen. Gedichte produzieren keine »Fertigwahrheitert«. Ihr Anspruch heißt Sprache, Form, Wort. Und die Leere zwischen den Worten. Religiös zeichenhaft werden poetische Texte weniger durch ihr Thema als durch die Wahrnehmung ihrer sprachlichen Qualität. Nur diese vermag Wirklichkeit zu dynamisieren und neue, eigenschöpferische Impulse zu erwecken.
Zum Verhältnis von Literatur und Theologle, zur theologischen Relevanz poetischen Sprechens gibt es erfreulicherweise heute reichlich anregende Literatur. Statt mich auf entsprechende Zugänge und Begründungen einzulassen, möchte ich lieber einen Zitatfund aus dem »Leben Dantes« von Giovanni Boccaccio weitergeben: »Ich sage, dass die Theologie und die Poesie beinahe ein nämliches genannt werden dürfen, da ein und dasselbe ihr Gegenstand ist. Überdies sage ich sogar, dass die Theologie weiter nichts ist als ein Gedicht von Gott.«
Den Heftschwerpunkt »Gedichte« hat Rainer Oberthür betreut. Der zweite Schwerpunkt befasst sich mit der letztjährigen Jahrestagung des DKV zum Problemfeld Computerwelt und Wirklichkeitserfassung unter dem Thema »jederzeit@überall«. Starke Kontrasteindrücke und gewinnbringende Nachdenklichkeiten sind Ihnen bei der vergleichenden Lektüre beider Heftschwerpunkte sicher.
Wilhelm Albrecht
Schriftleiter
Inhaltsverzeichnis
82 Wie ein Gedicht zum eigenen Gedicht wird
Rainer Oberthür
Gedanken zum Umgang mit Gedichten aus religionspädagogischer Perspektive.
85 Warum Gedichte, warum Gedichte für Kinder?
Hans-Joachim Gelberg
Was ist das Besondere, Einzigartige, Unersetzliche an Literatur?
91 Der Kopf verneigt sich vor dem Herzen
Ute Andresen
Ein Plädoyer, Kindern Gedichte zu geben und sie ihnen zu lassen.
98 Der Engel der Langsamkeit
Gabriele Cramer
Praktische Beispiele, was man mit Gedichten machen kann.
104 »Ohne Ihn?« - Zeitgenössische Gedichte zur Gottesfrage
Georg Langenhorst
Zwei Vorschläge für den Religionsunterricht in der Sekundarstufe.
109 »meditationstafeln, mandalas, wegweiser ... «
Dorothea Weber
Zum Farbdruck »Sommerlinien« von Sophie Taeuber-Arp.
114 Gedichtanthologien für Kinder und Erwachsene
Rainer Oberthür
Zum Stöbern empfohlen: Gedichtsammlungen für jede Gelegenheit.
118 Akzent
Jan Heiner Schneider
Wunden, die nicht heilen dürfen: Im Zangengriff der Angst.
48 Vom Glück des Sehens
Wilhelm Albrecht
Günter Lange zum 70. Geburtstag.
120 Gefunden und notiert
jederzeit@überall
122 Das Informationsuniversum
Christian Wessely
Gedanken zu Möglichkeiten und Wirklichkeiten der digitalen Welt.
129 Das Internet als neue Heilsutopie
Gunda Ostermann
Ein Einblick in die Spiritualität der Cyber-Avantgarde.
135 Lernen im Informationszeitatter
Ralf Heinrich
Religions- und medienpädagogische Anmerkungen zu einer rasanten Entwicklung.
141 Im Blick: Gemeindekatechese
J. Markus Schlüter / Hans-Peter Theodor
Firmpastoral: Neue Materialien neue Konzepte?
147 Anmerkungen zum Vergleichsvorschlag zu LER
Werner Simon
Das Bundesverfassungsgericht auf der Suche nach einem Lösungsweg.
150 Offensiv zurück in die Materialkerygmatik?
Anton A. Bucher
Kritische Anfragen an den Beitrag von Albert Biesinger in KatBl 6/2001.
152 Bücher
156 Impressum
Materialbrief GK 1/2002
Differenzierte Wege in der Katechese