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Intoleranz im Zeitalter der Revolutionen
Intoleranz im Zeitalter der Revolutionen




Aram Mattioli (Hrsg.)

Reihe: Kultur - Philosophie - Geschichte


Orell Füssli
EAN: 9783280060124 (ISBN: 3-280-06012-5)
304 Seiten, hardcover, 16 x 22cm, Mai, 2004

EUR 36,00
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Verpönte Liebe und verbotene Lektüren, Ketzerei und konfessionelle Gettos. Seit dem Zeitalter der Glaubensspaltung hat die Forderung nach Toleranz immer wieder herbe Rückschläge erlitten. Die junge Universität Luzern hat unter dem Titel „Intoleranz im Zeitalter der Revolutionen. Europa 1770-1848“ einen Kongress mit hochkarätiger Beteiligung durchgeführt. Aus interdisziplinärer Perspektive wurde das komplexe Wechselspiel von Toleranz und Intoleranz analysiert.

Daraus resultiert nun ein Sammelband mit vierzehn gut lesbaren Essays von Ulrich K. Preuß, Jürgen Habermas, Kaspar von Greyerz, Markus Ries, Claudia Opitz, Enno Rudolph, Manfred Henningsen, Wolfgang Schmale, Jonas Römer, Olaf Blaschke, Aram Mattioli, Helmut Berding, Heidi Bossard-Borner, Dieter Langewiesche.






Rezension
Intoleranz ist trotz der 1995 von der UNESCO verabschiedeten „Declaration of Principles on Tolerance“ leider in einigen Staaten noch immer an der Tagesordnung. So werden Grundrechte wie Religions- und Pressefreiheit eingeschränkt, Demonstrationen gewaltsam bekämpft und Minderheiten von der politischen Partizipation ausgeschlossen. Zwar hat die Geschichtswissenschaft die Lebensbedingungen von verfolgten oder stigmatisierten Minderheiten erforscht, aber eine profilierte „Intoleranzforschung“ ist bisher an den Universitäten vernachlässigt worden. Zu diesem Themenkomplex fand im März 2002 an der jungen Universität Luzern eine internationale Tagung mit dem Titel „Intoleranz im Zeitalter der Revolutionen. Europa 1770-1848“ statt. Die Forschungsresultate, ergänzt um weitere Beiträge, erschienen im Jahre 2004 unter dem Tagungstitel im „Orell Füssli Verlag“, herausgegeben von den Luzernern Professoren Aram Mattioli (Neueste Geschichte), Markus Ries (Kirchengeschichte) und Enno Rudolph (Philosophie).
Die Herausgeber verfolgten mit ihrer interdisziplinären Tagung die Intention, „eine integrierte, problemorientierte und transdisziplinäre Sicht auf spezifische Formen der Intoleranz im Zeitalter der europäischen Revolutionen“ (S. 7) zu geben. Neben dieser immanent wissenschaftlichen Perspektive ist mit den Abhandlungen auch die Absicht verbunden, „zur Selbstaufklärung der Gegenwartsgesellschaft beizutragen und das philosophische und historische Wissen für eine wirkliche Kultur der Toleranz bereitzustellen.“ (S. 17) Die Herausgeber gehen dabei von der Prämisse einer antithetischen Bezogenheit von Toleranz und Intoleranz aus (S. 11). So wird „Intoleranz“ thematisiert als „(Un-)-Kultur der Nichtachtung, Unterdrückung und Auslöschung von Differenz“ (S. 13). Näheres über den Zusammenhang von „Intoleranz und Diskrimierung“ erfährt man aus den Reflexionen des Sozialphilosophen Jürgen Habermas.
Die einzelnen Beiträge der Wissenschaftler demonstrieren, dass in der „Sattelzeit“(Koselleck) zwar „altüberlieferte Formen der Intoleranz“ abgebaut, aber „neue, meist säkulare Formen der Intoleranz“(S. 17) produziert wurden. In der Differenzierung zwischen verschiedenen Formen der Intoleranz wie politischer, konfessioneller, kultureller und Graden der Intoleranz liegt ein entscheidender Beitrag des Bandes für die Geschichtswissenschaft. Gleichzeitig bestätigen die einzelnen Wissenschaftler die von Immanuel Kant 1784 in seiner berühmten „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung ?“ formulierte Erkenntnis, dass man zu seiner Zeit ‚nur‘ von einem „Zeitalter der Aufklärung“, nicht von einem „aufgeklärten Zeitalter“ sprechen könne. Als Beispiele für die „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“(Bloch), die in dem Buch ausführlich behandelt werden, seien genannt: die Hexenverfolgung kurz vor Beginn der Französischen Revolution 1789 und die Judenverfolgungen bei Ausbruch der Revolutionen von 1848. So belegt Helmut Berding in seinem Aufsatz „Judenemanzipation in Deutschland: Ambivalenz – Widerspruch – Widerstand“, dass in der Zeit der Restauration und des Vormärz es zu „grössere[n] flächendeckende[n] Krawalle[n]“ gegenüber Juden kam, die in dem Ausmaß im deutschen Kaiserreich nicht zu verzeichnen waren (S. 255).
Enno Rudolph untersucht in seiner Abhandlung das Toleranzverständnis Kants und kommt zu dem Ergebnis, dass bei dem Aufklärungsphilosophen ein „ambivalentes Toleranzbewusstsein“ vorliegt (S. 123). Die Gender-Perspektive findet in dem Beitrag Wolfgang Schmales zur Anthropologie der Französischen Revolution Berücksichtigung. Der Historiker deckt nämlich auf, dass in der Phase des Terreurs ein „totalitäre[s] und hegemoniale[s] Männlichkeitskonzept“ verbreitet wurde (S. 159). Auf den Konnex von Nationalismus und Intoleranz verweist der Tübinger Historiker Dieter Langewiesche in seinen Ausführungen. Diese Beispiele mögen unterstreichen, dass der Tagungsband bisher kaum bekannte historische Erkenntnisse über die Zeit zwischen 1770-1848 elaboriert.
Welche Bedeutung besitzen diese nun für den heutigen Geschichtsunterricht ? Zunächst einmal schärft der problemgeschichtliche Ansatz das Bewusstsein für die „Schattenseiten“ der Aufklärungs- und Revolutionsepoche. Die Lehrkraft wird gemahnt, nicht nur die Dokumente der Menschenrechtsentwicklung aus den Jahren 1776, 1789, 1809, 1848 zu behandeln, sondern auch im Sinne der Realgeschichte die zur gleichen Zeit präsenten verschiedenen Spielarten der Intoleranz zu berücksichtigen. Zweitens ermöglichen die einzelnen, gut lesbaren Beiträgen des Buches dem Lehrer bzw. der Lehrerin mit den Schülern abgestufte Formen der Intoleranz auszumachen und diese zu diskutieren.
Fazit: Jedem Geschichtslehrer bzw. jeder Geschichtslehrerin, die sich in ihrem Unterricht den didaktischen Prinzipen Differenzierung und Problemorientierung verpflichtet sieht, kann das Buch „Intoleranz im Zeitalter der Revolutionen“ aus dem „Orell Füssli Verlag“ nur zur 'historischen Aufklärung' empfohlen werden.

Dr. Marcel Remme, für lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Intoleranz - einem Schrittmacher unserer Kultur auf der Spur
Verpönte Liebe und verbotene Lektüren, Ketzerei und konfessionelle Ghettos.Seit dem Zeitalter der Glaubensspaltung hat die Forderung nach Toleranz immer wieder herbe Rückschläge erlitten. Die junge Universität Luzern hat unter dem Titel «Intoleranz im Zeitalter der Revolutionen. Europa 1770-1848» einen Kongress mit hochkarätiger Beteiligung durchgeführt. Aus interdisziplinärer Perspektive wurde das komplexe Wechselspiel von Toleranz und Intoleranz analysiert.

Daraus resultiert nun ein Sammelband mit 14 gut lesbaren Essays. Darunter Beiträge von Ulrich K.Preuss, Kaspar von Greyerz, Olaf Blaschke, Micha Brumlik, Albert Wirz, Claudia Opitz und Jürgen Habermas.
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis

Vorwort 7

Eine Überlegungen zu einem Forschungsfeld
Aram Mattioli 9

Menschenrechte als Toleranzgarantie
Ulrich K. Preuß 21

Intoleranz und Diskriminierung
Jürgen Habermas 43

Konfessionelle Intoleranz und Konfessionalismus im Europa der Frühen Neuzeit
Kaspar von Greyerz 57

Verbotene Lektüren. Kirchliche und staatliche Bücherzensur
Markus Ries 75

Die letzten Hexen. Hexenverfolgung und Misogynie in der Aufklärung – am Beispiel von Christian Thomasius‘ Schriften gegen die Hexenverfolgung
Claudia Opitz 91

Toleranz und Intoleranz im so genannten Zeitalter der Aufklärung
Enno Rudolph 111

Die europäische Schrumpfung der Menschheit. Die Aufklärung und die Entstehung des transatlantischen Rassismus 125
Manfred Henningsen

L´Homne enfin satisfait. Französische Revolution und Intoleranz
Wolfgang Schmale 145

Der Umgang mit dem politischen Gegner. Zum Verhältnis der Französischen und der Helvetischen Revolution zur Toleranz
Jonas Römer 165

Die Inkubationszeit konfessioneller Intoleranz im frühen 19. Jahrhundert
Olaf Blaschke 189

Intoleranz als Prinzip oder der Umgang mit Heterodoxie im Kirchenstaat
Aram Mattioli 211

Judenemanzipation in Deutschland: Ambivalenz – Widerspruch - Widerstand
Helmut Berding 233

Toleriert, versorgt, diskriminiert. Vom Umgang mit Randgruppen im Kanton Luzern
Heidi Bossard-Borner 259

Nationalismus als Pflicht zur Intoleranz
Dieter Langewiesche 281
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 303