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Heiliger Krieg und Demokratie Radikalität und politischer Wandel im islamisch-westlichen Vergleich
Heiliger Krieg und Demokratie
Radikalität und politischer Wandel im islamisch-westlichen Vergleich




Kai Hafez

Transcript
EAN: 9783837612561 (ISBN: 3-8376-1256-2)
282 Seiten, paperback, 13 x 23cm, 2009

EUR 25,80
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Der politische Islam – eine »terroristische« oder »faschistische« Bewegung? Entgegen dieser im Westen vielfach verbreiteten Wahrnehmung räumt der Band dem politischen Islam trotz aller Auswüchse als radikale Opposition eine zentrale Position auch in Prozessen der Demokratisierung und Modernisierung ein.

Der bislang in dieser Konsequenz verweigerte Vergleich mit der ebenfalls nicht widerspruchsfreien politischen Geschichte des Westens zeigt nicht nur erstaunliche Parallelen, sondern die tiefe Ambivalenz von Gefahren – aber auch Chancen –, die der politische Islam mit sich bringt. Für die Nahost- und Islampolitik des Westens kann es dann um nicht weniger gehen als um eine fundamentale Wende hin zu einer neuen Entspannungspolitik.
Rezension
Viel wird in den Medien über den Islamismus, über den "Heiligen Krieg" und die vom radikalen Islam ausgehende politische und terroristische Bedrohung gesprochen. Der islamische Fundamentalismus, den es in organisierter Form seit der Gründung der ägyptischen Muslimbrüder in den 1920er Jahren gibt, hat sich beginnend mit der Iranischen Revolution von 1978/79 zu einer Massenbewegung in fast allen islamischen Staaten entwickelt. Dieser Band geht in erfreuliche Opposition zu den üblichen Thesen und Annahmen in unseren Massenmedien: Der bislang verweigerte Vergleich mit der ebenfalls nicht widerspruchsfreien politischen Geschichte des Westens zeigt nicht nur erstaunliche Parallelen, sondern die tiefe Ambivalenz von Gefahren – aber auch Chancen –, die der politische Islam mit sich bringt.

Oliver Neumann, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Schlagworte:
Islam, Moderne, Reform, Demokratisierung, Autoritarismus, Terrorismus, Imperialismus
Adressaten:
Politikwissenschaft, Orient- und Islamwissenschaft, Soziologie, Philosophie, interessierte Öffentlichkeit

Kai Hafez (Prof. Dr. phil. habil.), Politikwissenschaftler, lehrt Vergleichende Mediensystemforschung an der Universität Erfurt. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Orient-Institut, Hamburg, und Visiting Fellow der Universität Oxford.

Interview
... mit Prof. Dr. phil. habil. Kai Hafez

1. »Bücher, die die Welt nicht braucht.« Warum trifft das auf Ihr Buch nicht zu?
Ich meine, dass dieses Buch sogar sehr dringend gebraucht wird. Bislang gibt es kaum Versuche, das Phänomen der politischen Gewalt und der Radikalität in der islamischen Welt in eine vergleichende Perspektive mit unserer eigenen Geschichte zu bringen. Ließen wir diesen Vergleich zu, würden wir möglicherweise eher verstehen, dass ein Phänomen wie das des modernen islamistischen Fundamentalismus ... mehr nicht gänzlich irrational ist, sondern mit tiefgreifenden Umwälzungen zu tun hat, die dem Westen allesamt bekannt sind: Reformation, soziale Befriedung, politische Öffnung und fundamentale Opposition.
2. Welche neuen Perspektiven eröffnet Ihr Buch?
Ich glaube, mein Buch zeigt erstmals, dass die unterschiedlichen politischen Strömungen der islamischen Welt – vom Säkularismus über den religiösen Reformismus bis hin zum Fundamentalismus – Teil eines vollständigen politischen Aufbruchs diese Länder in eine Moderne sind, die bei aller oberflächlich betrachteten Fremdheit der westlichen Geschichte und jüngeren Gegenwart sehr ähnlich ist. Auch Martin Luther war kein Liberaler, sondern eifernder und intoleranter Traditionsbrecher – aber sicher ein wichtiger Baustein auf dem Weg in unsere heutige Moderne. Die Geschichte der islamischen Welt verläuft nicht identisch mit der des Westens, aber vielfach phasenversetzt nach einer durchaus ähnlichen Logik. Ich versuche, diese schwer erkennbaren Muster zentraler Entwicklungsprozesse zu entwirren.
3. Welche Bedeutung kommt dem Thema in aktuellen Debatten in Wissenschaft und Gesellschaft zu?
Man darf wohl sagen, dass es heute kaum ein Thema gibt, dass Politik, Medien und Wissenschaft so beschäftigt wie der Umgang mit dem politischen Islam. Der Nahe Osten steht im Zentrum der globalen Verteilungskämpfe der Gegenwart. Unser aller Fähigkeit, den politischen Islam zu verstehen und seine paradoxen, zum Teil faschistoiden, zum Teil aber auch demokratisierenden Impulse richtig zu deuten, wird den Weltfrieden erheblich beeinflussen.
4. Welche besonderen Aspekte kann die wissenschaftliche Betrachtung in die öffentliche Diskussion einbringen?
Der mediale Diskurs über den Islam und den Islamismus hat durch die starke Konzentration auf ikonische Bilder und stereotype Themen und Betrachtungen vielfach mehr Verwirrung als Verständnis gestiftet. Die oft langwierigen politischen Prozesse und den schwierigen Vergleich mit dem Westen verständlich zu machen, ist zuvorderst die Aufgabe der Wissenschaft, die die gesellschaftliche Relevanz ihrer Arbeit in den letzten Jahren immer ernster nimmt.
5. Mit wem würden Sie Ihr Buch am liebsten diskutieren?
Mit Barack Obama, aber wenn der keine Zeit für mich haben sollte, gern auch mit einem deutschen Außenminister, der an Fragen einer neuen Entspannungspolitik interessiert ist.
6. Ihr Buch in einem Satz:
Radikalität und Gewalt waren und sind Begleiterscheinungen der meisten Prozesse der politischen Moderne – dies gilt für die islamische Welt ebenso wie für den Westen.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung 9

I Moderne

1 Modernitätsdenken – Reform, Reformation und Radikalität 27

Der Minimalkonsens der westlichen Moderne 29
Islamismus und Säkularismus – Dualismus der politischen Kultur 31
Liberaler Reformislam – Reformation ohne Moderne? 37
Konservativer Reformislam – Lutherische Logik 42
Die unabsichtliche Moderne des islamischen Fundamentalismus 50
Modernitätsdenken im Vergleich – Zivilisationssprung im Zeitraffer 53

2 Politische Kulturen und gesellschaftliche Bewegungen –
die soziale Rationalität des kulturellen Wandels 57

Westliche Partizipation – orientalischer Fatalismus? 59
Re-Islamisierung – von der religiösen Betäubung zur aktiven Gemeinschaft 63
Islamischer Fundamentalismus als »Radikalprotestantismus« 69
Die soziale Rationalität des kulturellen Wandels 77

II Demokratie

1 Demokratisierungsdiskurs – Religion und Säkularität in der Grauzone 85

»Christdemokratisierung« des Islam? 91
Säkulare Demokratie am Rande der Weltgesellschaft 105

2 Politischer Systemwechsel – die Demokratie der Radikalen 109

Stabilität und Staatszerfall im 21 Jahrhundert – der nahöstliche Leviathan 111
Demokratie und neuer Sozialkontrakt im Vorderen Orient 115
Konfl iktfähigkeit der Opposition – nicht ohne die Islamisten 121
Pakte der Opposition – Fundamentalisten als (un-)kalkulierbares Risiko 135
Die internationale Dimension der Demokratisierung 143
Euro-Islamisierung oder Islam-orientierte »Ostpolitik« – zwei Transformationsmodelle 152

III Politische Gewalt

1 Autoritarismus – Diktatur zwischen Faschismus und Modernisierung 161

»Islamofaschismus« – Endstation politischer Vernunft? 163
Antisemitismus oder die Gefahr der Ethnisierung 175
Demokratische Polyarchien und Autoritarismus im Wandel – diktatorische Verlockungen 182
Moderne Sklaverei – eine gemeinsame Herausforderung 189

2 Imperialismus – Autokratie, Demokratie und Gewalt 193

Der Westen im Vorderen Orient – ein Panoptikum außenpolitischer Gewalt 194
Westliche Demokratie und außenpolitische Gewalt – vom »ewigen Frieden« zum
»humanitären Imperialismus« 201
Islamischer Imperialismus – ein kulturelles Rudiment 210

3 Terrorismus und gewaltfreier Widerstand – Extremismus und Pazifi smus im Kulturvergleich 215

Eine Typologie des islamistischen Terrors – typisch islamisch? 216
Ursachen des Terrorismus – Heiliger Krieg zwischen Wahnsinn und Rationalität 225
Gewaltfreier islamischer Widerstand – im Westen ignoriert 233


Fazit – Vom »heiligen Krieg« zur Demokratie?
Zur Standortbestimmung der islamisch-westlichen Moderne 243

Anmerkungen 251
Danksagung 253
Literatur 255


Einleitung
Dieses Buch geht der Frage nach, ob es jenseits der oberfl ächlichen
Betrachtung von Kriegen, Krisen und Konfl ikten in der islamischen
Welt von heute auch wirklichen politischen Wandel gibt. Ist hinter
der Fassade von Radikalität, Extremismus und Terrorismus, die uns
alltäglich in den Nachrichten präsentiert wird, eigentlich eine tiefer
liegende politische Rationalität zu erkennen? Oder muss man sich damit
abfi nden, dass ein zentrales Gebiet der Welt von Westafrika bis
Südostasien und von Südosteuropa bis zur Sahara auf Dauer politisch
chaotisch bleiben wird?
Es gibt Grund zur Hoff nung, und die stützt sich auf einen ganz
einfachen Gedanken. Auch der Westen hat seinen heutigen Zustand
von Wohlstand, Modernität und globaler Macht nicht allein Aufklärung,
Wissenschaft und Demokratie zu verdanken, sondern ebenso
Glaubenskriegen, Revolutionen und kolonialer Ausbeutung. Radikalität
und politische Gewalt waren, so befremdlich das klingen mag,
ständige Wegbegleiter der Entwicklung der Demokratie in Nordamerika
und Europa. Angesichts dieser eingebauten welthistorischen Paradoxie
scheint es legitim die Frage zu stellen, ob politische Radikalität
und Gewalt nicht auch in anderen Teilen der Welt mit positiven politischen
Entwicklungen einhergehen können. Hat die westliche Entwicklung
nicht gezeigt, dass Krisen, auch wenn sie epochale Ausmaße
annehmen, Wendepunkte zum Guten sein können?
Die islamische Welt und insbesondere Nordafrika sowie der Nahe
und Mittlere Osten sind seit Jahrzehnten voller politischer Widersprüche.
Islamische Fundamentalisten wenden sich zum Teil gewaltsam
gegen den säkularen Staat, aber sie sind zugleich auch die stärksten
Oppositionskräfte gegen autoritäre Diktaturen in der Region. Ihr Ver10
| Heiliger Krieg und Demokratie
hältnis zur Demokratie ist alles andere als eindeutig, und doch gewinnen
sie bei den sehr selten abgehaltenen freien Wahlen viel Zuspruch.
Sowohl in islamistischen Parteien, die für die Einführung islamischer
Verfassungen plädieren, als auch außerhalb dieser Gruppierungen begehren
Muslime gegen die Interpretationshoheit des modernen Klerus
auf, und sie suchen dabei vielfach Zufl ucht bei einem neuen intoleranten
Puritanismus. Gesellschaften sind zerrüttet vom gleichzeitigen
Wunsch nach Veränderung und nach Verharrung, nach Fortschritt
und Tradition, und die neo-islamischen Bewegungen, die in nahezu
allen islamischen Staaten heute existieren, verkörpern in idealer Weise
die inneren Widersprüche, die auch dem europäischen und amerikanischen
Radikalprotestantismus in den vergangenen Jahrhunderten
innewohnten: ethisch-religiöse Besinnung, die Herausforderung autoritärer
Macht, aber auch religiöser Furor und Intoleranz, die sich bis
heute etwa unter religiös gesinnten militanten Abtreibungsgegnern
oder kreationistischen Kämpfern gegen den Darwinismus im Schulunterricht
erhalten haben.
RADIKALITÄT UND POLITISCHER WANDEL
IM ISLAM UND IM WESTEN
Wenn man die Parallele zwischen dem westlichen Zeitalter der Reformation
und dem heutigen ernst nimmt, steht dann die islamische Welt
unausweichlich vor einer Periode entfesselter Glaubenskriege? Es gibt
tatsächlich viele Zeichen, die in diese Richtung weisen: Bürgerkriege
zwischen islamischen Konfessionsgruppen der Sunniten und Schiiten
im Irak und zwischen säkularen Nationalisten und Islamisten in Palästina,
und das alles vor dem Hintergrund eines »heiligen Krieges«,
den ein Häufchen global agierender Terroristen dem Westen erklärt
hat. Wie die Türken vor Wien in der Reformationszeit, so scheint heute
die westliche militärische Präsenz im Nahen und Mittleren Osten die
inneren Zerwürfnisse anzuheizen und Rebellionstendenzen zu fördern.
Aber das Abrutschen der islamischen Welt in ein Zeitalter religiös
motivierter Gewalt ist keineswegs unausweichlich. Der Vergleich zwischen
politischen Entwicklungen der Weltregionen dient der intellektuellen
Sensibilisierung – er leistet keinem fatalistischen Weltbild der
ewigen Wiederholung von Geschichte Vorschub. Wer Gewalt ablehnt
und sich vor der Unberechenbarkeit von politischer Radikalität fürchtet,
der kann sich möglicherweise mit dem Gedanken trösten, dass die
heutige islamische Welt neben zahlreichen Parallelen zur christlichen
Einleitung | 11
Reformationszeit auch Tendenzen aufweist, die sich hiervon deutlich
unterscheiden. Mit der Türkei, Indonesien und Bangladesch lebt ein
großer Teil der muslimischen Weltbevölkerung bereits in wahldemokratischen
Verhältnissen. Neben dem Fundamentalismus gibt es
einen Reformislam, der mit den Mitteln der aufklärerischen Quellenkritik
die pluralistische Modernisierung des Islam befördert.
Die islamische Welt von heute ist, trotz aller Probleme, in mancher
Hinsicht weiter entwickelt als »das Abendland« es in der Reformationszeit
war, und dies auch durch die Hilfe des Westens, der seit zwei
Jahrhunderten als Vorbild der Modernisierung gilt. Doch die Ausstrahlungskraft
des Westens hat in der jüngsten Zeit gelitten. Die politische
Rückwendung zum Islam ist auch die Folge neo-imperialistischer
westlicher Politik, der Selbstverletzung der Menschenrechte in Guantánamo
und eines völkerrechtswidrigen und aussichtslosen »Krieges
gegen den Terror«, dem zigtausende Menschen zum Opfer gefallen
sind. Eignet sich diese Politik wirklich noch als Vorbild? Ist der Westen
sich der Gewaltsamkeit seiner scheinbar friedlichen Demokratien
gerade gegenüber dem erdölreichen Nahen Osten überhaupt bewusst?
Ist das Problem wirklich nur George W. Bush gewesen, oder hat die
hegemoniale Außenpolitik der Vereinigten Staaten und der Europäer
System? Wollen wir den Nahen Osten besser verstehen, so müssen
wir uns auch der eigenen Geschichte in ihren innen- wie außenpolitischen
Dimensionen nachdrücklich stellen. Martin Luther war kein
Liberaler, sondern ein eifernder Traditionsbrecher, und die der Reformation
folgenden »aufgeklärten« Zeitalter degradierten Jahrhunderte
lang Menschen in der außereuropäischen Welt zum Objekt der kolonialen
Unterwerfung und der rassistischen Forschung.
Der Westen und die islamische Welt stehen sich heute gerade im
Bereich der Anwendung politischer Gewalt weitgehend verständnislos
gegenüber. Während der im Inneren befriedete Westen orientalische
Despotien und religiöse Radikale ablehnt und kaum merkt, wie autoritär
er in der Außenpolitik agiert, umarmen im Nahen und Mittleren
Osten heute viele Menschen jede politische Richtung, die eine Veränderung
des politischen Status quo verspricht, die Widerstand und
neue Stärke suggeriert, und seien es, so muss man fürchten, quasi
faschistische islamische Regimes. Dennoch ist die Vorstellung von
einem ewigen Kampf zwischen Orient und Okzident zu einfach. Das
westliche Vorbild hat gelitten, es wirkt aber nach. Und so sehr man die
Gefahren für die Menschenrechte im Blick haben muss, die vom religiösen
Fundamentalismus ausgehen, sollte man auch dessen modernisierende
und emanzipatorische politische Potentiale viel deutlicher
erkennen, als wir dies vielfach tun.
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Der islamische Fundamentalismus, den es in organisierter Form
seit der Gründung der ägyptischen Muslimbrüder in den 1920er
Jahren gibt, hat sich beginnend mit der Iranischen Revolution von
1978/79 zu einer Massenbewegung in fast allen islamischen Staaten
entwickelt. Wir müssen die politische Rationalität dieser Bewegung
auf der Basis unserer eigenen historischen Erfahrungen und aus sich
selbst heraus verstehen, ohne ihre Widersprüche zu leugnen. Im großen
Zentrum dieses Fundamentalismus, nicht an seinen extremistisch-
terroristischen Rändern, verlaufen heute sehr viele Prozesse
parallel zur westlichen Geschichte, die vielfach schwer zu entschlüsseln
sind, weil sie zeitversetzt vonstattengehen. Wer kann denn schon
wirklich erklären, warum ein Land wie Ägypten das Frauenwahlrecht
bereits nach dem Ersten Weltkrieg und damit zwanzig Jahre früher
als Italien und Frankreich und ein halbes Jahrhundert vor der Schweiz
einführte? Auch von den islamischen Massenorganisationen werden
diese politischen Rechte heute nicht bestritten. Die afghanischen Taliban
sind auch im Gesamt des islamistischen politischen Spektrums
ultra-radikale Kräfte und nicht repräsentativ. Ihr Steinzeitislam passt
gar nicht zu der Mischung aus Intoleranz und Progressivität, die den
islamischen Fundamentalismus heute in weiten Teilen prägt. In dieser
Bewegung werden in der Gegenwart wie im Zeitraff er Fragen der
Reformation, der Autoritarismuskritik und des sozialen Ausgleichs
vermengt, die in Europa weitgehend nacheinander abgearbeitet wurden.
Reformatorische Umbrüche, Westfälischer Frieden, Demokratisierung
und Arbeiterbewegung: Im Orient haben sich im letzten Jahrhundert
viele dieser Entwicklungen bereits herausgebildet, auch wenn
sie oft nicht stabil zusammenwirken.
Auch eine faktisch säkulare Politik reicht im Vorderen und Mittleren
Orient bereits viel länger zurück als vielfach angenommen wird.
Die Geschichte der Trennung von Religion und Politik beginnt mit
dem Tod des Propheten Mohammed im Jahr 632 und ist bis heute unvollendet
geblieben. In der politischen Kultur der islamischen Welt lassen
sich derzeit zwei gegenläufi ge Trends festmachen: Eine öff entliche
Lust an Säkularität, Liberalität und Pluralismus kommt in den äußerst
beliebten Neuen Medien zum Ausdruck, in denen oft die unterschiedlichsten
Positionen geäußert werden. Der Gegentrend, ebenfalls sehr
populär, ist eine moralisch strenge und bisweilen rigide, aber auch widersprüchliche
Re-Islamisierung. Dass Fundamentalisten gegen den
Säkularismus kämpfen, hat viel mit politischer Taktik und der simplen
Tatsache zu tun, dass diese Politik in jüngeren Jahrzehnten autoritär
verabreicht wurde. Die Religion wird in der Frontstellung gegen die
Diktatur zum Bündnispartner von Bewegungen, die nach politischer
Einleitung | 13
und sozialer Transformation streben. Dies ist in der islamischen Welt
prinzipiell nicht anders als im buddhistischen Tibet oder in anderen
Teilen Asiens. Auf den ersten Blick religiös motivierte Slogans gegen
den Säkularismus werden zu politischen Parolen gegen autoritäre Regierungen.
Steht die politische Kultur der islamischen Welt deshalb
aber wirklich in einem fundamentalen Gegensatz zum politischen
Wandel, zur Liberalisierung der Autokratie bis hin zur vollständigen
Demokratisierung, wie sie sich in anderen Teilen der Welt, nicht nur
im Westen, sondern auch in vielen Ländern Lateinamerikas, Afrikas
und Asiens durchgesetzt haben?
Islamische Politik besteht heute selbst aus zahlreichen Strömungen,
und weite Teile sind eine schwer fassbare Mischung aus religiöser
Intoleranz und einer bereits einsetzenden »Christdemokratisierung«,
wie sie sich im Westen erst Jahrhunderte nach der Reformation durchsetzte.
Nicht nur in der Türkei, auch in vielen anderen Staaten der islamischen
Welt fi ndet heute eine Auseinandersetzung um die Bruchlinien
moderner Politik statt – ein Streit, der sich allerdings nicht vor der
Herausbildung von Demokratien, sondern im Prozess der Demokratisierung
entscheiden wird, und auch das sollte Europäern und Amerikanern
bekannt vorkommen. War die westliche Demokratie etwa
allein das Produkt kultureller Demokraten, zivilgesellschaftlich engagierter
Bürger und menschenrechtlich geerdeter Nichtregierungsorganisationen
(NGOs), die heute die beliebtesten Partner westlicher
Entwicklungshilfe sind? Mitnichten! In Irland geschieht gerade erst,
was in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg an vielen Orten passiert ist.
Nicht Demokratiebewegungen setzen die Demokratie durch, sondern
ehemals radikale und militante Kräfte bewerkstelligen eine »Demokratie
ohne Demokraten«, in der zwar keine politische Kraft ihre Maximalziele,
aber alle ihre Minimalziele erreichen. Die Demokratie ohne
Demokraten weckt in Deutschland schlimme Erinnerungen an das
Versagen der Weimarer Republik, die von zu wenigen wirklich gewollt
und gemeinsam von Reaktionären und undemokratischen Linken zerstört
wurde, als sie den Nationalsozialisten an die Macht verhalfen.
Warum aber denken wir nicht auch an die Erfolge der Demokratisierung
im nördlichen Mittelmeerraum, in Spanien, Portugal, Griechenland
und der Türkei, wo Francisten und Kommunisten, Obristen, Militaristen
und Islamisten, allesamt keine kulturellen Demokraten, den
demokratischen Frieden der Radikalen erzielen konnten?
Die im Westen verbreitete Geringschätzung des politischen Entwicklungspotentials
der islamischen Welt hat auch etwas mit der Einschätzung
einer vom Islam geprägten politischen Kultur zu tun. Die
Angst vor einem Islamofaschismus entspringt zumindest in Teilen der
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Annahme, Muslime seien die vehementesten Antisemiten der Gegenwart.
Diese Beobachtung ist nicht völlig abwegig. Der Fundamentalismus
hat aus seiner berechtigten Kritik am Staat Israel vielfach eine
Ideologie der Feindschaft gegen die Juden geformt. Allerdings ist die
Koexistenz von Juden und Muslimen so alt und die Anerkennung des
Judentums als Religion im Islam so gefestigt, dass sich ein Vergleich
mit dem deutschen Antisemitismus verbietet. Selbst im Zentrum der
Entwicklung, im revolutionären Iran Khomeinis und Ahmadinejads,
hat es bis heute nicht einmal ansatzweise Vorkommnisse gegeben, die
mit der deutschen Kristallnacht oder gar mit dem Holocaust vergleichbar
wären.
Historische Vergleiche sind sinnvoll, wenn man dabei im Hinterkopf
behält, dass nicht alles, was in der Optik des Vergleichs als ähnlich
erscheint, auch identisch ist. Es ist nicht berechtigt, die islamische
Welt mit den Auswüchsen des Religionshasses im Westen oder gar
mit der zivilisatorischen Katastrophe des Faschismus gleichzusetzen,
dabei aber die komplexen Zusammenhänge der ebenfalls stattfi ndenden
Modernisierung der Länder zu übersehen. Ein Land wie Iran, das
am ehesten eine totalitäre Prägung erkennen lässt, hat seine soziale
Revanche am westlich orientierten Mittelstand genommen und dabei,
auch das ist der westlichen Geschichte nicht fremd, eine Diktatur der
Revolutionsgewinner etabliert, eine Art klerikaler Neureichenkaste,
gegen die die iranische Gesellschaft bereits seit Jahren wachsenden
Widerstand aufbaut. Präsident Mahmoud Ahmadinejad ist ein durch
das Wahlrecht begünstigter 20-Prozent-Präsident. Der Rest der Gesellschaft,
auch islamische Kreise, stellt die Vorherrschaft der Geistlichkeit
aber längst in Frage.
DIE GLOBALISIERUNG DER ZWEI GESCHWINDIGKEITEN
Im Westen aber scheint von allen diesen Kompliziertheiten nur wenig
anzukommen. Demoskopische Umfragen weisen darauf hin, dass
beispielsweise 70 bis 80 Prozent der Deutschen Angst vor dem Islam
haben. Off en rassistische Pamphlete wie die Bücher der italienischen
Journalistin Oriana Fallaci fi nden reißenden Absatz. Anti-islamische
Populisten wie der Amerikaner Daniel Pipes oder der Niederländer
Geert Wilders erzeugen ein breites Echo in den etablierten Medien.
Islamophobie ist salonfähig. Die Schweiz leistet sich mit der von Christoph
Blocher gegründeten Schweizerischen Volkspartei eine Regierungspartei,
die für ein generelles Minarettverbot eintritt. Schon Alexis
de Tocqueville warnte vor der Tyrannei der Mehrheit. Demokratie
Einleitung | 15
erfordert nicht nur Techniken der Wahldemokratie, sondern auch eine
Verständigung über eine Kultur der Liberalität, die, gerade angesichts
der muslimischen Einwanderung der letzten Jahrzehnte in westlichen
Staaten, die Muslime bewusst einschließen muss. Heute geht es nicht
mehr nur um den christlich-jüdischen Dialog, sondern um einen Trilog
mit dem Islam (Hafez/Steinbach 1999).
Die Rolle westlicher Massenmedien ist dabei nicht zu unterschätzen.
Berichterstattung über den Islam konzentriert sich auf terroristische
Gewalt gegen den Westen und Gewalt gegen Frauen; die oft
paradox anmutenden Brüche und Zusammenhänge des Neo-Islam
aber werden nicht verstanden (Schiff er 2005, Poole 2002, Deltombe
2005, K. Hafez 2002b, Hafez/Richter 2007). Junge Musliminnen mit
Kopftuch sind ohne Zweifel zum Teil Opfer von gesellschaftlicher
und familiärer Repression, aber ebenso häufi g sind sie konservative
Bildungs- und Politikaktivistinnen, etwa als muslimische Feministinnen,
die für eine vollständige Emanzipation von Frauen im Islam
plädieren und auch in Deutschland aktiv sind (Badran 2008),1 oder
sie sind einfach Frauen mit einer »gesunden Doppelmoral«, wie sie
katholischen Christen seit Jahrhunderten vertraut ist. Ebenso wie im
Westen viele Menschen den Papst verehren, ohne seinen strengen
Geboten zu gehorchen, sind in der islamischen Welt vorehelicher Geschlechtsverkehr
– man nennt das islamische Kurzzeitehe – und die
Kommerzialisierung des religiösen Gutachterwesens (Online-Fatwas)
gang und gäbe geworden. Opportunistische Umgehungen, aber auch
off ene Brüche mit der Tradition sind Teil einer Re-Islamisierung zwischen
Orthodoxie, Gemeinschaft und Individualität, für die der politische
Fundamentalismus oft ein nützlicher Idiot zu sein scheint. Protestwähler
geben ihm ihre Stimme, fi nden aber zu Alltagspraktiken,
die seine reaktionären Gebote ad absurdum führen.
Es ist sehr fraglich, ob die islamische Welt und der Westen in
ihren auch im Medienzeitalter gepfl egten Informationsghettos (Pintak
2006, S. 72) viel voneinander verstehen. Vielmehr hat es den Anschein,
dass man eher von einer Globalisierung der zwei Geschwindigkeiten
sprechen sollte. Der vielfach islamfeindlichen Volks- und
Medienkultur des Westens stehen aktive Informationseliten in Wissenschaft,
Medien und gesellschaftlichen Organisationen entgegen,
die den Dialog zwischen dem Islam und dem Westen seit Jahrzehnten
in Gang halten. Welche Folgen diese Zweiteilung der Globalisierung
hat, ist noch ungewiss. Das Nebeneinander von einer gegenüber dem
Islam verständnislosen Populär- und einer aufgeklärten Elitenkultur
ist im Westen ein altes Phänomen und seit Goethes »West-östlichem
Diwan«, einem Werk, das seiner Zeit weit voraus war, bekannt.
16 | Heiliger Krieg und Demokratie
Dass nicht alle Wissenseliten auch wirklich globale Eliten sind,
hat sich im islamisch-westlichen Verhältnis gezeigt. In einer berühmt
gewordenen Polemik hat Edward Said den verbreiteten Orientalismus
der westlichen Wissenschaft kritisiert (Said 1978). Seitdem ist viel geschehen,
ganze Studentengenerationen sind mit der Kritik Saids aufgewachsen.
Das westliche Wissenschaftssystem produziert aber noch
immer kulturalistische Bestseller wie Samuel Huntingtons »Kampf
der Kulturen« (Huntington 1993, 1996), in dem der Autor von einer
Unversöhnlichkeit von Islam und Westen ausgeht: eine Perspektive,
die dem Ansatz eines kulturübergreifenden Vergleichs diametral entgegengesetzt
erscheint. Viele wissenschaftliche Vordenker des Westens
urteilen mit großer Regelmäßigkeit über eine islamische Welt,
deren Denker sie nicht kennen und deren Verhältnisse sie allenfalls
auf der Durchreise beobachtet haben. Zu der Kluft zwischen den islamfeindlichen
oder zumindest hochgradig skeptischen Massen und
globalen Informationseliten gesellt sich also ein Bruch zwischen ethno-
zentrischen und interkulturell orientierten Wissenschaftlern im
Westen. Edward Said hat gewirkt – die Grundlagen seiner Kritik sind
aber noch nicht vollständig beseitigt.
Wie kommt es zu diesen Lagerbildungen? Warum wurde der Harvard-
Professor Huntington bei vielen zum gefeierten Star, während
sich andere geradezu mit intellektuellem Abscheu von ihm abwandten?
Ein einfacher Grund hierfür dürfte sein, dass es Experten entweder
für den Orient oder für den Okzident gibt, selten aber für beide
Sphären. Die Forschung zu Amerika, Europa und dem Rest der Welt
fi ndet in unterschiedlichen Wissenschaften statt, die interdisziplinäre
Zusammenarbeit ist stark ausbaufähig. Den großen westorientierten
Disziplinen wie der Politikwissenschaft und der Soziologie stehen
die kleinen orientalistischen Fächer gegenüber. Da die Theoriearbeit
aber vorwiegend von den großen Disziplinen vorangetrieben wird, ist
es nicht verwunderlich, dass es bis heute keine wirklich tragfähige
theoretische Brücke für politische Entwicklungen im islamisch-westlichen
Vergleich gibt (vgl. a. Faath 1999, S. 238f.). Theorien leben von
empirischen Vergleichen, die zu wenige Wissenschaftler wirklich ins
Zentrum ihrer Arbeit stellen.
Einige Vordenker des internationalen und interkulturellen Vergleichs
wie Fred Dallmayr, Bikhu Parekh, Hwa Yol Jung oder Charles
Taylor haben deshalb eine Theoriewende gefordert (Parekh 2002, Jung
2002, Taylor 1992, Parel/Keith 2003). Roxanne Euben stellt fest, dass
in der westlichen Wissenschaft eine latente Spannung zwischen dem
Anspruch besteht, einerseits Theorie für die ganze Menschheit entwerfen
zu wollen, sich jedoch andererseits nahezu ausschließlich auf
Einleitung | 17
westliche Texte zu konzentrieren (Euben 1999, S. XI). Fred Dallmayr
wünscht sich eine vergleichende politische Philosophie als Gegengewicht
zum neo-imperialistischen Denken, das sich im Westen seit dem
11. September 2001 immer mehr ausbreitet (Dallmayr 2004, S. 249f.).
Wie wichtig eine solche post-orientalistische Wende hin zu einer
vergleichenden Politikanalyse wäre, zeigt der Fall Michel Foucaults. Als
sich dieser Vordenker der Diskursanalyse und der Machtkritik Ende
der 1970er Jahre – er war längst Teil des französischen intellektuellen
Establishments und einer der einfl ussreichsten Denker der Gegenwart
– begeistert zeigte von der Islamischen Revolution in Iran, die manche
Aspekte seiner Kritik an der Moderne zu unterstützen schien und
über die er als Korrespondent für eine italienische Zeitung berichtete,
wurde er von westlichen Intellektuellen fast einhellig kritisiert (Afary/
Anderson 2005). Und dies nicht zu Unrecht. Zwar zeigt die Vehemenz,
mit der man Foucaults Versuch, die revolutionären Verhältnisse
in Iran zu verstehen, statt sie als irrationalen Refl ex der Religion zu
verurteilen, die eurozentrische Befangenheit der westlichen Wissenschaft.
Zugleich aber war Foucault auf dieses außereuropäische intellektuelle
Abenteuer wenig vorbereitet, und seine recht naiven Thesen
zum islamischen Schiitentum als Avantgarde einer neuen Emanzipationsbewegung
waren so leicht angreifbar, dass selbst Edward Said,
sonst ein großer Bewunderer von Foucault, sich von dessen Ansichten
zu Iran distanzierte. Foucault wurde für die Unerhörtheit abgestraft,
das Erstarken des religiösen Widerstandes als vorbildlich für die westliche
Modernisierung zu betrachten. Er strauchelte aber auch über die
eigene politische Romantik, die weit von einer systematischen theoretischen
Positionierung entfernt war.
Foucaults iranischer Ausfl ug steht stellvertretend für die wissenschaftlichen
Fehler, die man beim kulturübergreifenden Vergleich
begehen kann. Ein weiteres Beispiel hierfür ist der bekannte Kommunitarist
Amitai Etzioni, der in seinem Versuch, die Weltgemeinschaft
ethisch neu zu begründen, alte kulturelle Stereotype vom individualistischen
Westen und gemeinschaftsorientierten Islam wieder aufl eben
lässt (Etzioni 2004). Dialoge tendieren dazu, die Pole, zwischen denen
der Dialog gestiftet werden soll, als apriorische Wahrheiten vorauszusetzen.
Solche Ansätze zielen zwar auf Verständigung, werden aber
der Vielfalt kultureller Erscheinungen und der wachsenden Individuationstendenz
im Islam (Roy 2006) ebenso wenig gerecht wie Huntingtons
Thesen des Kulturenkampfes. Post-orientalistische vergleichende
Wissenschaft ist konzeptionell off en, sie verschließt sich weder dem
Spezifi schen noch dem Universellen. Sie sucht theoretisches Wissen
des Westens auf den Osten zu übertragen, misstraut aber im selben
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Moment der eigenen Simplizität und bleibt interessiert an neuen theoretischen
Herangehensweisen (Somjee 2002, S. 122; vgl. a. Benhabib
2002). Als Leitgedanken könnte man formulieren, dass die Abfolge
und Kombination und damit die Wechselwirkung zwischen Entwicklungselementen,
die dem Westen im Einzelnen durchaus bekannt erscheinen
mögen, die Eigenheit im Verallgemeinerbaren der außereuropäischen
Welt beschreibt.
Dieser Zustand ist für den Betrachter weder komplett versiegelt
und nur aus sich heraus zu verstehen, noch ist er einfach eine Wiederholung
westlicher Geschichte. Auf der einen Seite sind wie im Westen
auch in der islamischen Welt unterschiedliche nationale und regionale
Entwicklungsmuster zu erkennen, die sich kulturübergreifend
ähneln: hier gelungene und misslungene Revolutionen, Reformen von
oben oder von unten; dort Monarchien, Revolutionen oder Demokratisierungsprozesse.
Auf der anderen Seite stehen diese Entwicklungen
in Wechselwirkung mit kulturspezifi schen Traditionen und Narrationen,
etwa christlicher, säkularer oder islamischer Couleur. Die Gegenüberstellung
des Westens und der islamischen Welt, einer geopolitischen
und einer religiös konnotierten Größe, ist also keine Festlegung
auf ewige Ungleichheit. Sie ist ein Vehikel der intellektuellen Annäherung
und eine Konzession an die momentan größere Bedeutung
der Religion im politischen und gesellschaftlichen Wandel der islamischen
Welt, die allerdings nie den Blick auf mögliche strukturelle
Ähnlichkeiten der Entwicklung und auf innerregionale Diff erenzen
verstellen sollte.
Ein gutes Beispiel für das Verhältnis von Universalismus und Partikularismus
in den islamisch-westlichen Beziehungen ist die Frage
der Demokratie. Ist es legitim, sie als das gemeinsame politische Ziel
beider Hemisphären zum Ausgangspunkt einer Analyse zu erklären?
Man gerät hier schnell in eine Zwickmühle. Die Antwort »nein« bedeutet,
dass man die islamische Welt für unfähig befi ndet, demokratische
Verhältnisse zu erzeugen, was an Huntingtons Kulturalismus
erinnert, wonach die islamische Welt nie zur Demokratie fi nden wird.
»Ja« hingegen entspricht der Modernisierungstheorie alter Schule,
die einen Eurozentrismus der anderen Art repräsentierte, nach dem
Motto: Der Barbar ist entwicklungsfähig, wenn er sich an unserem
Vorbild orientiert und seine Denktraditionen ablegt! Um beides aber
geht es hier nicht. Die islamische Welt von der Warte der westlichen
Modernisierung und Demokratie her zu betrachten bedeutet nicht, sie
endgültig auf diese Horizonte festzulegen. Die strukturellen Chancen
für eine Durchsetzung der Demokratie sollen geprüft werden, ohne
dass die Möglichkeiten einer diskursiven Ablehnung unter Rückgriff
Einleitung | 19
auf nicht-demokratische Narrationen geleugnet werden. Aus logischer
Sicht wird man die Demokratie aber zumindest kurzfristig einführen
müssen, um den Beweis führen zu können, dass sie möglicherweise
doch nicht zur islamischen Kultur passt. Denn nur so können sich
die Menschen als Träger der Kultur artikulieren, sich entweder zur
Demokratie bekennen, ihre Mechanismen korrigieren oder sie sogar
wieder abschaff en. Betrachtungen über die Unvereinbarkeit von Islam
und Demokratie bereits vor einer demokratischen Öff nung sind irrelevant,
da sie nur die Meinungen weniger darstellen, die sich vor Einführung
der Demokratie zu Wort melden können. Dieses Buch trägt
der Möglichkeit, dass die Demokratie sich noch auf längere Zeit in
vielen Ländern der islamischen Welt nicht durchsetzen können wird,
insofern Rechnung, als neben dem zukunftsorientierten politischen
Wandel zur Demokratie auch der Ist-Zustand der existierenden Diktaturen
refl ektiert wird. Sind sie modern, totalitär oder faschistisch,
oder welche eigenständige Ausprägung haben sie? Diese Frage ist für
die Gegenwart relevanter denn je.
Michel Foucaults Werk ist in mehr als einer Hinsicht zentral für
die heutige Arbeit des kulturübergreifenden Politikforschers. Mögen
seine Auslassungen über China oder Iran eher als abschreckendes Beispiel
für theorieloses Denken gelten, so weist die für ihn typische Verbindung
von Diskursanalyse und (Post-)Strukturalismus weithin den
Weg. Diskurskritik erlaubt eine Auseinandersetzung mit der Frage,
welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sich in den Gedankenwelten
und Ideologien der islamischen Welt und des Westens fi nden
lassen. Der Diskurs allein aber ist keine verlässliche wissenschaftliche
Grundlage. Für Foucault waren das Ungesagte und das nicht im
Diskurs Enthaltene zu Recht ständige Wegbegleiter (Foucault 1981,
S. 41f.). Man muss nicht auf Karl Marx und seinen Primat der Ökonomie
vor dem Bewusstsein zurückgreifen, um zu erkennen, dass es
eine Welt jenseits des Diskurses gibt, die sich beobachten und erklären
lässt. Die Todesopfer von westlichen Nahostkriegen und islamistischen
Terrorattentaten sind Fakten, an denen wir nicht post-modern
vorbeidiskutieren können. Um sich von 1400 Jahren der Missverständnisse
und Fehlwahrnehmungen im islamisch-westlichen Verhältnis
zu befreien, reicht es daher nicht aus, sich mit Ideen und politischen
Programmen über Religion, Moderne, Demokratie und politische Gewalt
auseinanderzusetzen, deren Bedeutung für die Realität immer
fraglich bleiben muss, solange sie nicht dem Realitätstest ausgesetzt
werden. Dieses Buch geht daher konsequent zweigleisig vor. Neben der
notwendigen Ideologiekritik bezieht es auch politische Kulturen, demoskopische
Daten über öff entliche Einstellungen, Daten zur Sozial20
| Heiliger Krieg und Demokratie
und Politikstruktur, Analysen gesellschaftlicher Bewegungen und
die Soziologie der politischen Transformation in die Betrachtung mit
ein. Aus den Stellungnahmen spanischer Katholiken, Francisten und
Kommunisten in den frühen 1970er Jahren allein jedenfalls hätte man
ja auch den demokratischen Umbruch, der bald folgte, nicht erahnen
können.
Auch die Lehre der internationalen Beziehungen spielt eine wichtige
Rolle. Es ist das internationale Umfeld, das heute mehr denn je politische
Entwicklungen eines Landes begünstigen oder auch bremsen
kann. Dass die islamische Welt eine im weltweiten Vergleich so starke
Orientierung am religiösen Fundamentalismus off enbart, ist auch der
Tatsache geschuldet, dass sie sich in einer globalen Sondersituation befi
ndet. Nirgends sonst steht der Westen so vorbehaltlos zu schlimmen
Diktatoren wie in Marokko, Algerien, Tunesien, Ägypten, Jordanien,
Saudi-Arabien und an vielen anderen Orten. Nirgends sonst sind gerade
die Vereinigten Staaten zu so massivem Militäreinsatz bereit, um
ihre Interessen am Erdöl zu sichern. Die Hinwendung zur ureigenen
Religion des Islam und Abwendung von westlichen Politikkonzepten
ist nicht zuletzt als kommunikativer Fingerzeig zu verstehen, als Botschaft
an den Westen, sich herauszuhalten und die islamische Welt
sich entwickeln zu lassen. Der Westen sieht sich heute mit der Frage
konfrontiert, mit wem er kooperieren, wen er unterstützen und ob er
Druck ausüben soll, um politischen Wandel in der islamischen Welt
zu fördern. Eine radikale Umorientierung von der Macht- zur Prinzipien-
und Rechtspolitik gegenüber der islamischen Welt wird erforderlich
sein. Die christliche Reformation Martin Luthers kam unter
dem Eindruck der türkischen Bedrohung Europas und der versagenden
Fürsten in Gang. Doch nicht immer hilft militärischer Druck,
der manchmal auch Entwicklungsprozesse, die sonst möglich wären,
blockieren kann. Hat der Westen der islamischen Welt heute mehr zu
bieten als Krieg und Ausbeutung?