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Fragmentierte Familien Brechungen einer sozialen Form in der Moderne
Fragmentierte Familien
Brechungen einer sozialen Form in der Moderne




Inge Kroppenberg, Martin Löhnig (Hrsg.)

Reihe: Literalität und Liminalität


Transcript
EAN: 9783837614008 (ISBN: 3-8376-1400-X)
238 Seiten, paperback, 14 x 23cm, 2010

EUR 26,80
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
»Deutsche Mutter«, »Heilige Familie«, »Retortenbaby«. Dieser Band beleuchtet Wandlungen der Familien und des Familienbildes im Übergang von einer stratifikatorischen zu einer funktionalen Gesellschaftsform aus den Perspektiven der Rechtsgeschichte, Literaturwissenschaft, Soziologie, Kunstgeschichte und Theologie. Zwar spielte die Kernfamilie in allen Gesellschaftsformen der Menschheitsgeschichte eine Rolle und ist keineswegs eine Erfindung der bürgerlichen Gesellschaft – jedoch erlebte sie in der Sattelzeit zwischen 1750 und 1850 einen tiefgreifenden Wandel, der sich an Beispielen aus der bildenden Kunst und Literatur genauso zeigen lässt wie an gewandelten Rechtsvorstellungen.
Rezension
Patchworkfamilien - unter diesem Stichwort verläuft bislang die Wahrnehmung und Diskussion eines zunehmenden soziologischen Wandlungsprozesses in postmodernen Gesellschaften, das für Schulen und Lehrkräfte von einschneidender Bedeutung ist: Familien sind heute, - entgegen politischer (CDU) und kulturell-religiöser Idealisierungen von Familie (Katholizismus) - zu großen Teilen fragmentierte Familien - mit den entsprechenden Auswirkungen für die Kinder. Dieser Band beleuchtet Wandlungen der Familien und des Familienbildes aus den Perspektiven der Rechtsgeschichte, Literaturwissenschaft, Soziologie, Kunstgeschichte und Theologie. Dieses Buch wirft einen interdisziplinären Blick auf Krise und Zerfall einer vormodernen sozialen Form in der Moderne als kulturgeschichtlichen Prozess.

Oliver Neumann, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Diese Anthologie beleuchtet aus interdisziplinärer Perspektive Wandlungen des Familienbilds in der Moderne und zeigt die Brüchigkeit des Konzepts Familie schon lange vor Diskursen um ›Patchworkfamilien‹.
Schlagworte:
Familie, familialer Wandel, Kultur, Geschichte, Rechtsgeschichte, Inzest
Adressaten:
Rechtsgeschichte, Literaturwissenschaft, Kulturgeschichte, Soziologie

Inge Kroppenberg (Prof. Dr. iur.) lehrt Bürgerliches Recht, Römische Rechtsgeschichte und Privatrechtsgeschichte der Neuzeit an der Universität Regensburg.
Martin Löhnig (Prof. Dr. iur.) lehrt Bürgerliches Recht, Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte an der Universität Regensburg.
WWW: www.martin-loehnig.de

Interview
... mit Prof. Dr. Martin Löhnig
1. »Bücher, die die Welt nicht braucht.« Warum trifft das auf Ihr Buch nicht zu?
Sie kommen aus einer Familie, in der die Welt noch heil ist? Alle brav verheiratet? Viele, viele Kinder? Klare und klassische Rollenmodelle? Keine Ehescheidungen weit und breit? Keine Seitensprünge? Keine unehelichen Kinder? Keine Kinder aus dem Reagenzglas? Kein Inzest? Kein Patchwork? Keine Familientragödien? Dann brauchen Sie das Buch trotzdem, denn was nicht ist, kann ja noch ... mehr werden. Und bis dahin sollten Sie wissen, warum.
2. Welche neuen Perspektiven eröffnet Ihr Buch?
Einen interdisziplinären Blick auf Krise und Zerfall einer vormodernen sozialen Form in der Moderne als kulturgeschichtlicher Prozess.
3. Welche Bedeutung kommt dem Thema in den aktuellen Forschungsdebatten zu?
In der Moderne sind neue Möglichkeiten der simultanen und sukzessiven Bildung neuer Partnerschaften und damit neue Bilder von Elternschaft, Kindschaft und Familie entstanden. Dieser Entwicklungsprozess ist genauso wie die gesellschaftliche Bewertung und Selbstdeutung dieser fragmentierten Familien seither ebenso ein Standardthema in der sozialwissenschaftlichen, theologischen und psychologischen Literatur, wie sie Rechtswissenschaftler beschäftigt und Literaten inspiriert hat.
4. Mit wem würden Sie Ihr Buch am liebsten diskutieren?
Mit Napoléon, dem Schöpfer der ersten modernen Familienrechtskodifikation. Mit Johann Gottlieb Fichte, der meinte, die Ehe höre auf, wenn die Liebe aufhöre. Mit Tony Buddenbrook, die immer an die Familie geglaubt hat. Mit dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags, der nicht so genau weiß, was er sich unter Familie vorstellen soll. Und mit Hägar, dem Schrecklichen.
5. Ihr Buch in einem Satz:
Sind wir nicht alle irgendwie fragmentiert? Ein Buch für Leser, die zentrale Fragen des Lebens gerne kulturwissenschaftlich behandeln.

Reihe »Literalität und Liminalität«
Editorial:
Seit den gesellschaftlichen Modernisierungsschüben in den 1960er Jahren wird in den Philologien der ›Fortschritt‹ eines Fachs mit Komplexitätserhöhung gleichgesetzt. So haben die literaturtheoretischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zu einer Öffnung der Philologien insbesondere für kultur- und medienwissenschaftliche Fragestellungen beigetragen. Die daraus resultierende Erweiterung des Literaturbegriffs bedingte zugleich, dass vermehrt die unscharfen Ränder der kulturellen Grenzen in den Blick rückten, ... mehr wo Fremdes und Eigenes im Raum der Sprache und Schrift bis zur Ununterscheidbarkeit ineinander übergehen.
Die Reihe Literalität und Liminalität trägt der Komplexitätserhöhung der philologischen Fächer Rechnung, indem sie die theoretischen und historischen Transformationen von Sprache und Literatur vom Mittelalter bis in die Gegenwart ins Zentrum ihres Interesses rückt.
Mit dem Begriff der Literalität richtet sich das Interesse auf Schriftlichkeit als Grundlage der Literatur, auf die Funktion der Literaturtheorie in den Kulturwissenschaften sowie auf das Verhältnis literarischer Texte zu kulturellen Kontexten. Mit dem Begriff der Liminalität zielt die Reihe in theoretischer und historischer Hinsicht auf Literatur als Zeichen einer Kultur des Zwischen, auf die Eröffnung eines Raums zwischen den Grenzen. Nicht der Begriff der Grenze, sondern der der Schwelle bildet das gegenständliche Korrelat der Theorie und Geschichte der Liminalität.
Mit der Verbindung linguistischer, literatur- und kulturwissenschaftlicher, philosophischer sowie medientheoretischer Fragestellungen berücksichtigt die Reihe die Ausdifferenzierung der philologischen Fächer und eröffnet zugleich eine kulturwissenschaftliche Perspektive auf die theoretischen und historischen Grundlagen der Literatur im Wechselspiel von Schrift und Bild.

Die Reihe wird herausgegeben von Achim Geisenhanslüke und Georg Mein.
Inhaltsverzeichnis
Fragmentierte Familien. Einleitung
MARTIN LÖHNIG 7

Wie heilig ist die Familie? Auf dem Weg zu einer »Theologie der Familie« zwischen kirchlichem Diskurs
und familialer Wirklichkeit
THOMAS KNIEPS-PORT LE ROI 11

Jungfrau und Mutter. Maria und ihre Auswirkungen auf das Frauenbild (in) der katholischen Kirche
SABINE DEMEL 39

Die deutsche Sonderrolle – Familienpolitik und Geschlechtermodelle im europäischen Vergleich
BARBARA VINKEN 71

Vaterbilder des modernen Zivilrechts
INGE KROPPENBERG 89

Erlesene Familie. Restauration des Phantastischen in Cornelia Funkes Tintenwelt-Trilogie
MARJA RAUCH 115

Kinderarmut – neue Perspektiven auf ein nicht mehr neues Thema?
BARBARA GRABMANN 131

Samenspender, Leihmütter, Retortenbabies:
Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie
ANDREAS BERNARD 169

Monströse Väter und missratene Töchter.
Familiendramen und andere Katastrophen in Lessings Emilia Galotti und Lenz’ Der Hofmeister
ACHIM GEISENHANSLÜKE 185

»Unerlaubte Stillungen des Begattungstriebs«? –
Der juristische Diskurs über die Strafbarkeit des Inzests zwischen 1750 und 1850
MARTIN LÖHNIG 207

Autorinnen und Autoren 233


Leseprobe:
7
Fragmentierte Familien. Einleitung
MARTIN LÖHNIG
Jack Goody diagnostizierte 2002 in seiner »Geschichte der Familie
« für die zeitgenössische Familie eine Entwicklung von der
Kernfamilie zur fragmentierten Familie:
»Anstelle der kleinen, isolierten Kernfamilie haben wir die noch kleinere, verstreute
und fragmentierte Familie, die eigentlich gar keine Familie mehr ist,
wenn wir darunter ein Ehepaar verstehen, das mit seinen Kindern zusammenwohnt.
Die Müslireklame-Familie erweist sich nicht als Endpunkt der Modernisierung,
sondern als eine Übergangsphase.« (231)
Die Kernfamilie spielte zwar in allen Gesellschaftsformen der
Menschheitsgeschichte eine Rolle und ist keineswegs eine Erfindung
der bürgerlichen Gesellschaft – jedoch erlebte sie in der Sattelzeit
zwischen 1750 und 1850 einen massiven Bedeutungszuwachs
als Familienideal und gleichzeitig einen tiefgreifenden
Wandel: Produktion und Hausgemeinschaft trennten sich, die Erziehung
der Kinder war nicht mehr ausschließliche Aufgabe der
Familie.
Mit der Idealisierung der Kernfamilie sind ihr Scheitern, ihre
Fragmentierung und ihre Perversion untrennbar verbunden. Beides
lässt sich an Beispielen aus der Literatur ebenso zeigen wie
an gewandelten Rechtsvorstellungen, an bürgerlichen Trauerspielen
ebenso wie an bürgerlichen Gesetzbüchern. Je mehr die prekäre
Familie zum gelebten Normalfall wird, desto wirkmächtiger
wird gleichzeitig das Ideal der »Müslireklame«-Familie, die sich auf
der Ebene des Ideals in der Tat als Endpunkt des Familienbilds
der Moderne darstellt. Dieser Band beleuchtet Wandlungen der
Familie und des Familienbildes im Übergang von einer stratifikatorischen
zu einer funktionalen Gesellschaftsform aus den Perspektiven
der Rechtsgeschichte, Literaturwissenschaft, Soziologie
und Theologie. Dabei wendet er sich nicht vorrangig dem Ideal der
sozialen Form »Familie«, sondern seinen Brechungen zu: fragmenMartin
Löhnig
8
tierten Strukturen, prekären Rollen, misslungener Kommunikation,
pervertierter Interaktion.
Die ersten zwei Beiträge des Bandes sind der kulturell wirkmächtigen
Heiligen Familie gewidmet, die gleichzeitig fragmentierte
Familie par excellence ist, weil Josef lediglich die Rolle des sozialen
Vaters Jesu einnimmt. Thomas Knieps-Port le Roi beschäftigt
sich mit dem Familienbild der katholischen Kirche, die in der
Familie über lange Zeit nichts »heiliges« entdecken konnte. Vor allem
die zölibatäre Lebensweise galt als theologisch bedeutsam
und Moraltheologie wie Kirchenrecht beschäftigten sich allein mit
der Ehe. Erst in jüngerer Zeit trat die Familie als Schöpfungsgabe
Gottes in den Vordergrund, ohne dass die Kirche bislang eine
»Theologie der Familie« entwickelt hätte. Sabine Demel untersucht
anschließend mit Maria und Josef das Elternpaar der Heiligen
Familie und kontrastiert die als »Jungfrau und Mutter« verehrte
Maria mit ihrer Gegenspielerin: Eva brachte Ungehorsam, Sünde
und Tod, Maria Gehorsam, Glauben und Leben. Mit diesem Gegensatzpaar
existierte spätestens seit dem 3. Jahrhundert ein
Schema, mit dem man allmählich alle Frauen als Evatyp oder
Mariatyp verteufeln oder idealisieren konnte.
Diesen beiden Mutter- und Vater-Porträts stellen Barbara
Vinken, Inge Kroppenberg und Marja Rauch andere Familienbilder
entgegen. Barbara Vinken geht dem Bild der »Deutschen Mutter
« und den Ursachen dieses europäischen Sonderwegs nach. In
Deutschland hat sich die Mutter zu der Instanz entwickelt, die
das Kind vor der Verderbtheit der Welt schützen musste. Die
Kleinkinderziehung wurde aus den Händen von Ammen, von
Hauslehrern und Gouvernanten genommen und ganz in den
Schoß der Mütter gelegt. In Frankreich sind es dagegen die gutausgebildeten
Schichten, die zur Betreuung in einer Kinderkrippe
ganztags ab dem dritten oder sechsten Monat eine durchweg positive
Einstellung haben. Von den Diskursen, die diesen Einstellungen
zugrunde lägen, erholen sich Nationen nur langsam. Inge
Kroppenberg bietet in ihrem Beitrag zum Vaterbild des modernen
Zivilrechts ein Panorama, das die Wechselwirkung von juristischen
mit gesellschaftlichen Diskursen aufschlüsselt und die sozialhistorische
Funktion des juristischen Vaterbildes analysiert,
die dem Bürgerlichen Gesetzbuch zugrunde gelegt wurde und uns
bis heute zu schaffen macht. Rückt man die nebulös gewordene
Vatergestalt des Bürgerlichen Familienrechts in den Kontext der
Moderne, tritt der Funktionsverlust der Vaterrolle in den Blick,
der vor allem in der Einbuße an Herrschaftsmacht über die anderen
Familienmitglieder liegt. Marja Rauch schließt hieran an und
Fragmentierte Familien. Einleitung
9
stellt der fragmentierten Heiligen Familie andere Bilder fragmentierter
Familien an die Seite: Sie zeigt, wie sich Cornelia Funkes
Tintenherz-Trilogie als Familienroman lesen lässt, der in der narratologisch
eindeutigen Trennung zwischen der Welt des Wirklichen
und der Welt des Phantastischen eine Restauration der Familie
als Lösung für ihre Fragmentierung in der Moderne anbietet.
Das Bild der Familie ist vor diesem Hintergrund doppelt bestimmt:
Auf der einen Seite ist die Familie ein bedrohter Ort, bestimmt
durch Auflösungsprozesse, die insbesondere die Position
des Vaters und Ehemannes in Frage stellen, auf der anderen Seite
werden die Väterrollen mythisiert.
Zwei weitere Untersuchungen widmen sich Fragen der Reproduktion
von Familienverbänden. Barbara Grabmann zeigt, dass
in der Familiensoziologie Kinder als eigenständige Individuen lange
Zeit vergessen wurden. Mittlerweile gibt es zwar eine Vielzahl
von Forschungsarbeiten zur Kinderarmut, sowohl als Armut von
Kindern als auch als Armut an Kindern. Ansätze, die andere als
ökonomische Einflussfaktoren, etwa Werte- oder Geschlechtsrollenorientierungen,
zugrunde legen oder die zeitliche Komponente
von Entscheidungsprozessen mit einbeziehen, müssen jedoch intensiver
als bisher verfolgt werden. Andreas Bernard widmet sich
aus kulturwissenschaftlicher Sicht neuen Reproduktionstechnologien
und ihren Auswirkungen auf die Ordnung der Familie. Die
Kulturwissenschaft kann den Reportagen über reproduktionsmedizinische
Sensationen einen Blick zurück auf die »Vorläufer« der
assistierten Empfängnis entgegenstellen, auf all jene historischen
Konzepte und Figuren also, welche die blutsverwandte Kernfamilie
seit Jahrhunderten ergänzt, bedroht und herausgefordert haben,
auf Stiefeltern, Adoptivkinder, Ammen oder Paten.
Der Band schließt mit zwei Untersuchungen, die die Familie
in den Zusammenhang mit dem Inzestverbot bringen, das Lévi-
Strauss als ein einzigartiges Brückenelement zwischen Natur und
Kultur begriffen hat. Anhand von Lessings Emilia Galotti und
Lenz’ Der Hofmeister zeigt Achim Geisenhanslüke, wie sich an der
Schwelle zur Moderne der Status der Familie verändert hat. Vom
Ort symbolischer Gewalt, die sich in der antiken Tragödie wie im
bürgerlichen Trauerspiel innerhalb der mythischen Ordnung der
Familie offenbart und die auf elementare Verwandtschaftsstrukturen
zurückgeht, wird die Familie zu einem prosaischen Ort bürgerlicher
Normalität. Martin Löhnig schildert daran anknüpfend
den juristischen Diskurs zwischen 1750 und 1850 über die Strafbarkeit
des Inzests als der Familienstrukturen zerstörenden
Handlung schlechthin. Anhand dieses Diskurses zieht er RückMartin
Löhnig
10
schlüsse auf Wandlungen des Familienbildes an der Schwelle zur
Moderne und in der im 19. Jahrhundert einsetzenden Restauration
und zeigt europäische Entwicklungspfade auf, die bis heute
wirkmächtig sind.
Die Beiträge gehen zum überwiegenden Teil auf eine Ringvorlesung
zurück, die die Gruppe »Familienbilder« (Sabine Demel,
Achim Geisenhanslüke, Inge Kroppenberg, Martin Löhnig, Christoph
Wagner) im Sommersemester 2009 an der Universität Regensburg
veranstaltet hat. Die Ringvorlesung wurde genauso wie
vorliegender Band durch großzügige Förderung seitens der Frauenbeauftragten
der Universität Regensburg und der Fakultät für
Rechtswissenschaft der Universität Regensburg ermöglicht. Ihnen
ebenso ein herzlicher Dank wie Eva-Maria Konrad, die den Band
redaktionell bearbeitet hat.